Rezension zu Kindheiten im Zweiten Weltkrieg und ihre Folgen

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Rezension von Wolfgang Jergas

Einleitung

»Kindheiten im II.Weltkrieg und ihre Folgen« – so der Titel des Buches, herausgegeben von einem Nestor der Gerontopsychotherapie, dem Kasseler Psychoanalytiker Hartmut Radebold – schien dem Rezensenten trotz seiner Arbeit auf einer Gerontopsychiatrischen Station fern zu liegen, hat er es doch überwiegend mit einer lokal verwurzelten Klientel zutun, die zwar die Eigenheiten des Landes überzeugend verkörpert, aber von der Furie des Krieges weitgehend verschont geblieben war, sich »nur« mit den darauf folgenden Flüchtlingsströmen arrangieren mußte. Ein neu aufgenommener, jetzt 74jähriger Patient, belehrte ihn eines besseren. Bei der stationären Aufnahme klagte er über jahrzehntelange Schlafstörungen: wenn er aufwachte, kamen die Erinnerungen wieder, Kommunikationsbarrieren, Verschlossenheit der engsten Familie gegenüber; verbittert, enttäuscht und nach drei Herzinfarkten vorzeitig invalidiert, durch einen Erguss im Kniegelenk, der nicht heilen wollte, in seiner von ihm geschätzten Beweglichkeit endgültig, wie es schien, blockiert. – Mit 7 Jahren von den Nationalsozialisten von der Ukraine nach Polen umgesiedelt, mit 13 von den Russen von Polen nach Sibirien verschleppt und erst 1956 freigelassen, ins Süddeutsche verschlagen Der europäische Gedanke – einmal anders.

Der vorliegende Band, schon einmal als Band 92 der Zeitschrift psychosozial erschienen und jetzt durch Beiträge ergänzt wieder veröffentlicht, versucht in 18 Kapiteln das Thema von verschiedenen Blickwinkeln aus anzugehen, wozu nicht nur Psychoanalytiker – als die größte wissenschaftlich vertretene Gruppe – sondern auch Juristen, Wissenschaftsjournalisten, Historiker und Schriftsteller beitragen.

Wenn hier nicht alle Aufsätze des Bandes erwähnt werden, dann deshalb, um dem geschätzten Leser nicht die Freude am Entdecken weiterer Aspekte des Themas zu nehmen, Ermüdungserscheinungen, die sich unweigerlich beim Lesen einer Rezension von Readern und Aufsatzsammlungen einstellen, vorzubeugen und um die Subjektivität einer Besprechung nicht einem zwanghaften Vollständigkeitsgebot unterzuordnen.

Die Kapitel – eine Auswahl

- H. Radebold eröffnet den Band mit einem Resümee über die Ausgangslage (»Kriegsbeschädigte Kindheiten. Kenntnis und Forschungsstand«) und einer Darstellung der Klassifikation: der Kohorten: Geburtsjahrgang 1929-31, 1939-41 und 1942-45. Summarisch werden die damaligen Ereignisse ( Tote, Vertriebene, Migrationsflüsse ) sowie die wenigen Sozialwissenschaftlichen Studien aus der Zeit unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg aufgezählt, um auf die resultierenden Langzeitfolgen psychosozialer Ausnahmezustände (Vaterlos, Onkelehe etc) hinzuweisen, die im weiteren in den einzelnen Kapiteln vertieft werden.

- Franz, Liebers und Schepank berichten über die über die Mannheimer Kohortenstudie (»Das Fehlen der Väter und die spätere seelische Entwicklung der Kriegskinder in einer deutschen Bevölkerungsstichprobe"), die anhand der Kohorten 1935,1945 und 1955 (=Geburtsjahr) in Langzeitstudien zu unterschiedlichen Zeitpunkten den Gesundheitszustand dieser Jahrgänge untersucht, insbesondere psychogene Erkrankungen im Sinne der Psychoneurotischen Störungen in der Gruppe F der ICD 10. Interessant u.a. sind die Ergebnisse in Hinblick auf die vaterlos aufgewachsenen Kinder, deren Erkrankungsrisiko noch 50 Jahre später größer ist als das der Kinder, die in Familien mit Vater aufwuchsen – wobei beide Gruppen den gleichen Kriegs- und Nachkriegserfahrungen ausgesetzt waren.

- Der Beitrag von Brähler, Decker und Radebold »Ausgebombt, vertrieben, vaterlos – Langzeitfolgen bei den Geburtsjahrgängen 1930-1945 in Deutschland« faßt die Ergebnisse einer bevölkerungsrepräsentativen Befragung aus dem Jahre 2002 und 2003 zusammen, die mit standardisierten und gut eingeführten Fragebogenverfahren durchgeführt wurde. So geben z.B. Ausgebombte und Frauen ein reduziertes psychisches Wohlbefinden im höheren Lebensalter an als diejenigen, denen das nicht widerfahren war, ausgebombte Männer ebenfalls reduzierter als nicht ausgebombte, auf der Skala Vitalität (Schwung Energie vs. erschöpft, müde) zeigen Frauen, die vertrieben wurden, die geringste Vitalität an, bei den Männern sind die ausgebombten mehr beeinträchtigt als die nicht ausgebombten. An dieser Stelle können nur stichprobenartig einige Ergebnisse referiert werden, die o.a. Aufsätze referieren weit mehr und lohnen das »Hinlesen«. Die Väter also müde und erschöpft, sofern sie überhaupt zurückkamen, oder uneinsichtig, verdrängend und verleugnend, was da über sie und die Völker gekommen war und immer »Vatis Argumente«(F.J.Degenhardt) auf den Lippen. Und alles folgenlos für die Nachgeborenen ?

- »Transgenerationelle Prozesse von NS-Traumatisierungen« überschreibt D. Soerensen-Cassier ihren »Fallbericht« – tatsächlich sind es deren zwei. Sie beschreibt, aus zwei Psychoanalysen, beide Male von Frauen, wie sich die Traumata der Mütter, hervorgerufen durch das Ende der NS-Diktatur, in den Krankheiten der Töchter wiederfindet und diese determiniert. Selber lesen!
»De te fabula narratur« ist immer schon einer der Vorzüge der Psychoanalyse gegenüber anderen Psychotherapieverfahren gewesen. J. Hardt reflektiert über »Kriegskinder in der Analyse – Kriegskinder als Analytiker. Rezeption in der psychoanalytischen Fachwelt.« Sein 1984 gestarteter Versuch, innerhalb der DPV eine Arbeitsgruppe zu initiieren, kam seinem Bericht nach wohl zu früh: auf dem Kongress in Tübingen1985 war die Arbeitsgemeinschaft »gut besucht und sehr lebhaft« , auf dem folgenden Kongreß in Hamburg war die Arbeitsgruppe »sehr klein… Danach verschwand das Thema…Erst 17 Jahre später.tauchte das Thema wieder auf« – dank H. Radebold und anderen.
K. Windel macht sich angesichts der Konfrontation mit einem zur Zeit der Begegnung 75 jährigem Mann, dessen Lungenerkrankung Sorge bereitet, und der sich bei einer Visite als ehemaliges Mitglied der SS zu erkennen gibt, Gedanken über »Schuldfragen und Schuldzuweisungen mit Bezug auf die Jugend im Dritten Reich« und erörtert anhand des Fallbeispiels den von Karl Jaspers differenzierten Schuldbegriff -Kriminelle Schuld, Politische Schuld, Moralische Schuld und Metaphysische Schuld – und gelangt beim Durchdenken seiner Reaktion auf diesen Patienten – und nachdem er dessen Biographie besser kennengelernt hat – zur Wandlung: vom abstrakten Schuldthema zur Wahrnehmung der individuellen politischen Biographie und einem therapeutischen Zugang zum Erleben des Patienten – ohne jedoch die Abwehraspekte , die bei der Auswahl dieses Fallbeispieles eine Rolle spielten, in der vorliegenden Reflexion zu vernachlässigen.

- Im letzten Kapitel, »Zwischen den Fronten -immer noch?« macht H.Platta »Anmerkungen zur ›Kriegskinder‹-Debatte und zur Rolle der 68er-Generation in ihr«. In der Auseinandersetzung mit einem Artikel von Klaus Naumann in der Frankfurter Rundschau vom 17.April 2004, in dem dieser den einsetzenden Opferdiskurs der Kriegskinder angreift, widerlegt er verschiedene Behauptungen und weist Unterstellungen über den Opferdiskurs zurück, weist darauf hin, daß zwar unter den 68ern (über Begrifflichkeit an dieser Stelle zu differenzieren führt ab vom Gedankengang) auch Kriegskinder, aber nicht alle Kriegskinder 68er waren und stellt seinerseits Fragen an Naumann, in denen es um das gesellschaftliche Klima und bis dato unhinterfragte Verhältnisse ging, die aus Vorkriegs- und Kriegszeit bis weit in die 70er Jahre hinein reichten in die bundesrepublikanische Gesellschaft.

- Also findet eine Bewältigung der Vergangenheit, die aufdeckt, trauert, sich bei den Opfern entschuldigt und die eigenen Irrtümer eingesteht, nicht statt? Anhand zweier Beispiele – eines aus Deutschland, eines aus Großbritannien – wird berichtet, wie eine Jugendorganisation aus den 30ger Jahren angesichts des Aussterbens ihrer Mitglieder einen unbefangenen Blick zurück auf die eigenen Fehler gewinnt und »im Guten« auseinandergeht (J.Reulecke: »Die »Junge Generation« von 1930 wird alt«) und wie »Erinnerungspflege«als Weitergabe von Geschichten (stories) ihren Beitrag zur Geschichte (history) leisten kann, ohne in Nostalgie oder Wehleidigkeit zu verfallen (A.Trilling: »Blinde Flecken im Umgang mit dem Erinnern in Deutschland")

Resümee

Sowohl der Aufbau des Buches als auch der der Rezension spiegeln den Kreis wider, der geschlagen wird: von den gesellschaftlichen Ausgangsbedingungen, die Kriegskinder hervorbrachten, bis zu denen, die als späte Folge dadurch wankten und fielen, bis zu den individuellen Schicksalen, die erst vor der Matrix der Geschichte verständlich werden. Und dazu gehören auch Betrachtungen über das »Erleben von Krieg, Heimatverlust und Flucht in Kindheit und Jugend bei einem Kollektiv von bypassoperierten Herzinfarkpatienten" (Greb, Pilz und Lamparter). Obwohl vermutlich nicht als Beitrag zu einer Gerontopsychiatrischen Enzyklopädie gedacht, wäre dies Buch gut geeignet, für einen entsprechenden Band als Grundstock zu dienen.

Epilog

Sie holt einen doch ein, die Vergangenheit, und wie so oft steckt in alltäglichen Kleinigkeiten, die zur Gewohnheit geworden sind, die ganze Geschichte. »In L geboren und in D aufgewachsen" ist die stehende Antwort, wenn der Rezensent nach seiner Herkunft gefragt wird. L im Norden: hier lebte die Tante, die schon vor dem Krieg aus einer ostdeutschen Provinz dort Arbeit gefunden hatte, hier traf sich die Familie nach Vertreibung und Kriegsgefangenschaft wieder (zwei ältere Schwestern gehörten auch noch dazu). Und D? Hier fand der Vater schließlich dauerhaft Arbeit und vier Jahre nach Geburt des Rezensenten bekam die Familie »den Zuzug" – das Papier existiert noch. Eine Familie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts – normal und durchschnittlich. Oder doch nicht?

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