Rezension zu Bindungstheorie und Familiendynamik

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Rezension von Chrisoph Malter


Die Herausgeber dieses Buches sind intime Kenner der Bindungsforschung und erfahrene Praktiker in der Erziehungsberatung: Gerhard Suess, Psychologe und Psychotherapeut, ist Leiter des Projektes »Frühintervention« in Hamburg. Er begann mit Bindungsforschung bei Klaus Grossmann und war Forschungsassistent bei Alan Sroufe in Minneapolis; Hermann Scheuerer-Englisch, Psychologe und Psychotherapeut, ist Leiter einer Erziehungsberatungsstelle und lehrt Bindungstheorie an der Universität Regensburg; Walter-Karl P. Pfeifer, Psychologe, ist seit knapp 30 Jahren Leiter der Abteilung Wissenschaft und Weiterbildung der Bundeskonferenz für Erziehungsberatung. Die vorliegenden Beiträge sind von international bekannten Bindungsforschern und renommierten Fachleuten aus der klinischen Praxis niedergeschrieben. Aus dem Inhalt:

Lothar Krappmann: Bindungsforschung und die Praxis der Kinder- und Familienhilfe
Gerhard J. Suess, Hermann Scheuerer-Englisch und Walter-Karl P. Pfeifer: Bindungstheorie und Familiendynamik
Klaus E. Grossmann: Die Geschichte der Bindungsforschung: Von der Praxis zur Grundlagenforschung und zurück.
Brian E. Vaughn, Carroll Heller und Kelly K. Bost: Bindung und Gleichaltrigenbeziehungen während der frühen Kindheit
Inge Bretherton, Gerhard J. Suess, Barbara Golby und David Oppenheim: »Attachment Story Completion Task« (ASCT) Methode zur Erfassung der Bindungsqualität im Kindergartenalter durch Geschichtenergänzungen im Puppenspiel
Deborah Jacobvitz, Nancy Hazen, Kimberly Thalhuber: Die Anfänge von Bindungs-Desorganisation in der Kleinkindzeit: Verbindungen zu traumatischen Erfahrungen der Mutter und gegenwärtiger seelisch-geistiger Gesundheit
Gottfried Spangler: Die Psychobiologie der Bindung: Ebenen der Bindungsorganisation
Erich H. Witte: Bindung und romantische Liebe: Sozialpsychologische Aspekte der Bindungstheorie
Hans-Peter Hartmann: Bindungen und die Fähigkeit zu lieben und zu arbeiten
Robert S. Marvin: Beiträge der Bindungsforschung zur Praxis der Familientherapie
Gerhard J. Suess und Peter Zimmermann: Anwendung der Bindungstheorie und Entwicklungspsychopathologie – Eine neue Sichtweise für Entwicklung und (Problem-) Abweichung
George Downing und Ute Ziegenhain: Besonderheiten der Beratung und Therapie bei jugendlichen Müttern und ihren Säuglingen – die Bedeutung von Bindungstheorie und videogestützter Intervention
Michael Schieche: Störungen der Bindungs-Explorationsbalance und Möglichkeiten der Intervention
Hermann Scheuerer-Englisch: Wege zur Sicherheit – bindungsgeleitete Diagnostik und Intervention in der Erziehungs- und Familienberatung
Lothar Unzner: Bezugserzieherin im Heim – eine Beziehung auf Zeit

Die jüngere Bindungsforschung ist charakterisiert durch eine Entwicklung von der Grundlagenforschung zur Anwendung in Beratung und Therapie. K. E. Grossmann:
»Der Hauptzweck der klinischen Bindungsforschung ist es, zu untersuchen, ob und wie durch neue emotional unterstützende Beziehungen oder durch eine emotional Sicherheit gewährende Bezugsperson oder durch psychologische Beratung und Psychotherapie abweichende Entwicklungsverläufe positiv verändert werden können.« (S. 34f)
»Das Produkt Beratung hat, wie jede erfolgreiche psychologische Intervention, zum Ziel, dem Individuum zu adaptiven, angemessenen Verhalten in der Wirklichkeit zu helfen.... Manchmal kann eine Neuorientierung in kurzer Zeit erreicht werden, manchmal dauert es lange und manchmal misslingt es.« (S. 48f)

Schnelle Erfolge in der therapeutischen Behandlung von schwer traumatisierten Patienten sind selten. Das besondere Augenmerk bei Kindesmisshandlung, extremer Vernachlässigung und Missbrauch liegt in der Entwicklungspsychopathologie, und diese wiederum ist in Zusammenhang mit desorganisiertem Bindungsverhalten zu betrachten. Jacobovitz, Hazen und Thalhuber haben eine Fülle von Forschungsergebnissen zu desorganisiertem Bindungsverhalten bei Kindern zusammengetragen und anschaulich zusammengefasst:
»Es gibt zunehmend empirische Hinweise dafür, dass Kleinkinder, die als desorganisiert eingestuft wurden, Gefahr laufen, in ihrem späteren Leben unbefriedigende zwischenmenschliche Beziehungen zu unterhalten oder sogar eine ernstzunehmende psychopathologische Erkrankung zu erleiden (Lyons-Ruth & Jacobovitz 1999).... Es wird angenommen, dass die Ursprünge von Bindungs-Desorganisation darin liegen, dass Kleinkinder Erfahrungen mit unerklärlich beängstigendem Verhalten auf Seiten ihrer Eltern machen müssen (Main & Hesse 1990).« (S. 125f)

Zur Verarbeitung traumatischer Erfahrungen bedarf es der Reorganisation:
»Eine Erholung von einem Trauerfall erfordert eine Neuorientierung im Denken bezogen auf die bzw. den Verstorbene(n) und eine Umorganisation früherer Arbeitsmodelle von Beziehungen, welche die dauerhaft veränderte Realität der gegenwärtigen Erfahrungswelt ohne die verlorene Person anerkennt (Bowlby 1973).... Die traumatische Erfahrung bleibt solange aktiv, bis der Prozess der Reorganisation fertig ist, und hat – oft unbewusst – intrusive Gedanken und Bilder zur Folge....« (S. 142)

Eine der wichtigsten Schlussfolgerungen ist deshalb »Die Identifikation von Kindern mit Anzeichen von Bindungs-Desorganisation...« (S. 150) Ausbildungsdefizite bei den professionellen Helfern stellen nicht das einzige Hindernis in der Praxis dar: »Derzeit gibt es noch keine Workshops zum Training von Professionellen, Hinweise für beängstigendes Elternverhalten zu erkennen....« (ebd.) Für gefährdete Kinder wird auch gefordert, dass »...Therapeuten Eltern im Umgang mit ihren Kindern in der häuslichen Umgebung videographieren.«, und zwar »...während der ersten 18 Lebensmonate des Kindes.« (ebd.)

Derzeit dürften der kommunal verwalteten Jugendhilfe die Mittel zur Umsetzung solch aufwendiger Programme fehlen. Außerdem ist fraglich, ob die Eltern der »Hochrisikogruppen« in solchen Arrangements kooperieren. Dennoch: diese Modelle sollten unter Berücksichtigung empirisch abgesicherter Erkenntnisse besonders die Jugendhilfepraxis anregen. Hierzu Suess und Zimmermann: »Bei der Vermittlung bindungstheoretischer Erkenntnisse wird in ähnlichem Ausmaß wie in Fallbesprechungen unter Praktikern immer wieder deutlich, wie stark doch Annahmen über Veränderungsprozesse bzw. Prozesse der Kontinuität unser Handeln und Verstehen leiten. Dies gilt natürlich für alle Praktiker gleichermaßen, doch insbesondere die Jugendhilfe kann von entwicklungspsychopathologischem Denken profitieren.« (S. 242)

Für die Prognose im Einzelfall sind Risiko- und Schutzfaktoren zu betrachten:
»Am aussagekräftigsten erwies sich hierbei nicht die Besonderheit einzelner Risiken, sondern ihr gehäuftes Auftreten (s. Sroufe u.a. 1992, Garmezy 1993).... Hier kann man davon ausgehen, dass beim Vorliegen von mindestens vier Risikofaktoren bei Geburt von Kindern ca. 2/3 der Personen Auffälligkeiten (wie erhebliche Schulschwierigkeiten, Delinquenz o.ä.) im Verlauf der nächsten 18 Jahre zeigten (Werner & Smith 1982).« (S. 243)
»Bindungsqualitäten sind allenfalls Risiko- bzw. Schutzfaktoren und nicht mit Störung gleichzusetzen – dies gilt selbst für die D-Klassifikation (Desorganisiert bzw. Desorientiert) im Kindesalter.« (S. 255)

In der Entwicklungspsychopathologie setzt sich immer mehr die Überzeugung durch, dass weniger Einzelursachen, sondern vielmehr Ursachenkomplexe betrachtet werden müssen.
»Dies trifft vermutlich sogar auf traumatische Ereignisse, wie z.B. Misshandlung und sexuellen Missbrauch zu.... Und deshalb ist der schlimmste Missbrauch der, der durch die eigenen Eltern geschieht: Die eigenen Eltern sind dann Quelle der Sicherheit und des Schreckens gleichzeitig – ein unauflösbares Paradox für Kinder.« (S. 256)

Gleichzeitig steht die Jugendhilfe vor einem doppelten Auftrag:
»Neben der Förderung junger Menschen... soll Jugendhilfe... Kinder und Jugendliche vor Gefahren für ihr Wohl schützen und allgemein einen Beitrag zum Erhalt oder zur Schaffung positiver Lebensbedingungen für junge Menschen und ihre Familien sowie einer kinder- und familienfreundlichen Umwelt leisten (Wiesner u.a. 1995, S. 26ff).« (S. 263)

Abschließend dazu Scheuerer-Englisch:
»Tatsächlich durch die Bezugsperson traumatisierte Kinder, z.B. misshandelte Kinder, brauchen zusammen mit ihren Bezugspersonen umfassende und nachhaltige Hilfen, notfalls auch Schutz vor diesen überwältigenden, verletzenden Beziehungen. Die Feststellung von Traumatisierungen ist eine wesentliche Aufgabe der Jugendhilfe. Die angemessenen Hilfsangebote sind in diesen Fällen oftmals jenseits der ambulanten Hilfen verortet.... Die Unterstützungsangebote für Eltern, die ihrer Erziehungs- und Beziehungsverantwortung nicht nachkommen können und deren Kinder fremduntergebracht werden, sind im Rahmen der Jugendhilfe noch stark auszubauen.« (S.322)

Neben der Vermittlung von gesichertem Wissen, veranschaulicht durch Fallbeispiele, gibt dieses Buch viele wertvolle Anregungen zur Ausgestaltung der sozialpädagogischen Praxis. Gleichzeitig werden die Möglichkeiten und Grenzen von Beratung und Therapie bei traumatisierten Kindern aufgezeigt, sowie Trennlinien zu den Aufgabenbereichen der Jugendhilfebehörden und dem subklinischen Bereich gezogen. Besonders wegen der vielfältigen, Praxis und Forschung anregenden Beiträge, ist ihm eine breit gestreute Leserschaft zu wünschen.


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