Rezension zu Kollektive Vergangenheitsbearbeitung in Südafrika
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Rezension von Bernd Nitzschke
Kollektive Vergangenheitsbearbeitung in Südafrika
Südafrika ist ein Land krasser Gegensätze. Es verfügt über das
höchste Bruttosozialprodukt Afrikas – und belegt bei der
Ungleichheit des Einkommens einen Spitzenplatz in der Welt. Die
weiße Minderheit besitzt fast 90 Prozent der kommerziell genutzten
landwirtschaftlichen Fläche – und mehr als die Hälfte der Schwarzen
leben unterhalb der Armutsgrenze…
Sie wohnen meist in den noch vom Apartheidregime eingerichteten
Townships, von denen einige eine HIV-Infektionsrate von nahezu 100
Prozent aufweisen. Doch die medizinischen Einrichtungen des Landes
gehören zur Weltspitze – wenngleich die meisten der 5,6 Millionen
HIV-positiven Südafrikaner keinen Nutzen davon haben, weil sie
schwarz und arm sind. Die durchschnittliche Lebenserwartung ist
daher seit 1990 um etwa 20 Jahre gesunken. Zudem hat das Einkommen
der schwarzen Haushalte zwischen 1995 und 2000 um 19 Prozent
abgenommen – während das der weißen Haushalte um 15 Prozent
angestiegen ist.
Schließlich erwirtschaften die Weißen über die Hälfte des
Volkseinkommens – während die Schwarzen größtenteils arbeitslos
sind. Die Arbeitslosenquote liegt (je nach Zählung) zwischen 25 und
40 Prozent – und bei Jugendlichen bis 20 Jahre beträgt sie sogar 70
Prozent. Die Kriminalitätsrate liegt daher ebenfalls über dem
Weltdurchschnitt. Seit dem Ende der Apartheid sind in Südafrika
420.000 Menschen durch Mord und Totschlag ums Leben gekommen.
All das gehört zum Erbe einer Gewaltgeschichte, die mit der
Unterscheidung von »Zivilisation« und »Barbarei« – also mit der
Kolonisierung des Landes – begann, deren ideologische Absicherung
die Rassentheorie lieferte. Die Briten praktizierten dieses System
der zivilisierten Barbarei überall in der Welt – und die Buren
steigerten es am Kap bis zur Perfektion. Sie nannten das:
»Apartheid«. In den 1990er Jahren war damit – in
politisch-rechtlicher (nicht in ökonomisch-sozialer) Hinsicht –
endlich Schluss.
Südafrika erhielt eine neue Verfassung – und einen schwarzen
Präsidenten: Nelson Mandela (Der lange Weg zur Freiheit, Frankfurt
1994), den die Weißen 27 Jahre lang als »Terroristen« eingekerkert
hatten. Nach seiner Freilassung erhielt Mandela den
Friedensnobelpreis – und setzte eine Wahrheits- und
Versöhnungskommission ein (Truth and Reconciliation Commission –
TRC), als deren Vorsitzender Desmond Tutu (Keine Zukunft ohne
Versöhnung, Düsseldorf 2001) berufen wurde, der in Anerkennung
seines gewaltlosen Kampfes gegen die »Apartheid« 1984 den
Friedensnobelpreis erhalten hatte.
Vor dieser von 1996 bis 1998 tagenden Kommission kamen 20.000 Opfer
des Apartheidregimes zu Wort, die ihre Leiden schildern und eine
symbolische Wiedergutmachung (finanzielle Entschädigung) erhalten
konnten. Zudem wurden 7000 Täter angehört, die Amnestie erlangen
konnten, wenn sie politisch motivierte Taten eingestanden, die
allerdings nicht von außergewöhnlicher Grausamkeit begleitet sein
durften. Die meisten dieser aussagebereiten Täter waren aber keine
Weißen, sondern Schwarze, die als Hilfspolizisten des
Apartheidsystems Verbrechen begangen oder als Widerstandskämpfer
Gewalt ausgeübt hatten.
Die Aussagen der Opfer und Täter wurden über Monate hinweg im
Rundfunk und im Fernsehen übertragen. Das war denn auch das
eigentliche Ziel der Kommission: der Rachediskurs sollte
aufgehalten und durch einen Versöhnungsdiskurs ersetzt werden. Die
Bevölkerung sollte die Geschichten der Opfer und der Täter als
Teile einer gemeinsamen Leidensgeschichte erkennen, die nun zu Ende
war – und sich damit als die eine große »Regenbogennation«
anerkennen, in der nun alle Farben ihren Platz finden konnten.
Das war der weltweit beachtete Versuch, individuelle Erinnerungen
so zu bearbeiten, dass sie gegen das ideologische Konzept in
Stellung zu bringen waren, mit dessen Hilfe die Untaten von heute
durch Hinweis auf die Untaten von gestern (und die möglichen
Untaten von morgen) gerechtfertigt werden. Den Ergebnissen sowie
der möglichen Übertragbarkeit dieses Versuchs in anderer Herren
Länder war denn auch ein internationaler Kongress gewidmet, der aus
Anlass des 10jährigen Jahrestags der Einberufung der TRC 2006 in
Kapstadt stattgefunden hat (Bernd Nitzschke: Die einen können nicht
vergessen, die anderen wollen nicht erinnern. Psychoanalyse im
Widerspruch 19, Heft 37, 2007, S. 7-17).
Vera Kattermann, die sich besonders um ein psychoanalytisches
Verständnis des südafrikanischen Modells bemüht, hat nun ebenfalls
eine Bestandsaufnahme vorgelegt. Sie beschreibt die intendierten
Ziele der Kommission und konfrontiert sie mit der Interpretation
von ihr ausgewählter Opfer- und Täter-Protokolle. Im Rahmen einer
in aller Öffentlichkeit vollzogenen Anhörung sei individuelle
Therapie unmöglich, stellt sie fest. Ihr kritisches Fazit lautet
sodann: »[…] die von Gewalt gezeichnete Vergangenheit wird
entpersonalisiert, dämonisiert und in ihren zeitlichen Bezügen
gekappt, so dass die aktuelle gesellschaftliche Situation als davon
befreit erscheint. Die zur Aufhebung dieser Spaltungen notwendige
Unbewusstmachung der mit dem Konflikt einhergehenden Aggressionen
wird narzisstisch aufgewertet.« Mit der letzten Bemerkung spielt
die Autorin auf das vermeintlich Opfer wie Täter reinigende Ritual
an, durch das beide zu Angehörigen eines der Rache abschwörenden
und zur Versöhnung bereiten Kollektivs werden sollen.
Krass formuliert würde der Einwand gegen diese Zielsetzung dann
etwa so lauten: Hier werden die verstümmelten Seelen der Opfer auf
dem Altar der angestrebten kollektiven Versöhnung noch einmal
geopfert. So soll ein neuer nationaler Körper entstehen (nation
building), der sich wie Phönix aus der Asche erhebt
(Regenbogennation). In einer anderen Perspektive betrachtet ließe
sich das südafrikanische Modell aber auch etwas milder beurteilen.
Dann hieße es: Die Opfer und die Täter betreten die öffentliche
Bühne wie die Protagonisten in der antiken Tragödie, die durch ihr
Schau und Bei-Spiel dem Publikum (der Gesellschaft) die notwendige
Katharsis ermöglichen sollen. Welcher der beiden Formulierungen man
auch zustimmen mag – die Autorin hat in einem Punkt gewiss recht:
Die Anhörungen konnten die individuelle Therapie nicht ersetzen.
Sie konnten aber der Verführung zu neuer Gewalt durch die
massenpsychologisch wirksame Propaganda widersprechen, der zufolge
sich das Leid von gestern »ungeschehen« machen ließe, wenn man
neues Blut vergießt.
Eher kurz, aber doch einen Kernpunkt der Opfer-Täter-Dynamik
betreffend, geht die Autorin dieses lesenswerten und vielfältig zum
Nachdenken anregenden Buches eingangs auch auf ihre
Gegenübertragungs-Position ein. Sie fragt sich, inwieweit die
Beschäftigung mit dem Schuldthema Südafrikas dazu geeignet sein
könnte, Konflikte zu umgehen, die sie als »Deutsche der dritten
Generation nach dem Nationalsozialismus« betreffen. Indem man sich
allzu eindeutig (und vor allem: unreflektiert) mit fremden Opfern
identifiziert, kann man sich allzu leicht vom eigenen Tätererbe
verabschieden. Ja, das verbindet Opfer und Täter (und deren Erben):
Sie empfinden (oder verdrängen) Schuld und Scham in
unterschiedlicher Weise.
Die damit verbundene Selbstwertproblematik ist erst dann behoben,
wenn die Opfer- und Täterrepräsentanzen »durchgearbeitet« und in
einer Person Platz gefunden haben. Dann hat das südafrikanische
Modell auch individuell genutzt. Denn dann haben wir erkannt, dass
wir eine Regenbogenpersönlichkeit besitzen.
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