Rezension zu Ich, das Geräusch

Newsletter der Tinnitusklinik Dr. Hesse

Rezension von Dr. Helmut Schaaf

»Der Mensch hat die einzigartige Fähigkeit, seine Gefühle und Gedanken im Unbewussten in etwas ganz anderes zu übertragen – zu symbolisieren und zu metaphorisieren«, stellt der Psychoanalytiker M. Tillmann im Vorwort fest. Genau diese Symbole und Metaphern gelte es, auch beim Tinnitus zu entschlüsseln. Dazu ist allerdings kein Weghören, sondern ein Hinhören und Sich-Hinwenden notwendig, um die persönlichen Bedeutungen der Erkrankung, die im körperlichen und im Tinnitus eingeschlossen sind, zur Sprache kommen zu lassen. In diesem Sinne motiviert Tillmann in dem als Patienten-Ratgeber konzipierten Buch, dem ein wissenschaftliches Fachbuch folgen soll, Tinnitus-Leidende, sich auf die Suche zu machen, um das Ohrgeräusch besser zu verstehen und den Tinnitus als Verkörperung eines ausdrucksvollen sinnlich-ästhetischen Erlebens zu verstehen.

Vorab verdeutlicht Tillmann die tiefgreifenden ökonomischen und kulturellen Veränderungen, die dazu beitragen können, dass die Menschen in ihren Grundfesten verunsichert werden, weil gesellschaftliche Prozesse Menschen von ihren sinnlichen Erfahrungen entfernen. Die dabei entstehenden Ängste müssen oft auf einer sehr unbewussten Ebene bleiben, so dass dann der Körper mit Symptomen reagiert, die diese Angst zum Ausdruck bringen.

Tillmann (2007) geht davon aus, dass im Symptom Tinnitus gesellschaftlich verursachte Konflikte »zum Klingeln« kommen können. In der symbolischen Körpersprache zeige sich der ohnmächtig verzweifelte Protest gegen eine zunehmende Globalisierung. Im Subjekt kommt dieser kompromisshaft durch ein schmerzhaft-quälendes und zugleich integrativ Selbstgewissheit verschaffendes Symptom präsymbolisch zur Sprache. So könne das »Brummen« Als Ausdruck gesellschaftlich verursachter Entfremdung und Verdinglichung, persönlich erlebt als Angst vor Entwertung und Ablehnung in somatisierter Form in einen vorsprachlichen und averbalen Ausdruck bringen. Das Symptom entspreche einem zunehmenden Bedürfnis nach Intimität, das mittels einer Not-Abschaltung bzw. einer Not-Verstopfung gesucht werde. Dabei sei die Wahl dieses verborgenen, versteckten Ortes, des Ohres, eine kreative, unbewusste Wahl angesichts einer »grenzenlosen Kultur ohne Scham und Respekt«. Tillmann (2007) diskutiert weiter, ob die Rolle der Ohrgeräusche als Ersatzobjekte möglich sei und vermutet, dass das Leben im Ohr ein Ersatz werden kann für ein unterdrücktes und verhindertes emotionales Leben, das auf verschiedenen Ebenen Bedeutung erhalten kann.
Deswegen kann es nicht grundsätzlich immer richtig sein, sich an das Symptom Tinnitus zu gewöhnen und zu versuchen, wegzuhören, sondern oft ist es sinnvoll, die Botschaft dahinter zu verstehen. Konsequent steht Tillmann »reinen« TRT-Ansätzen und »bloßen« Bewältigungstherapien eher skeptisch gegenüber.
Für Tinnitus-Patienten, die in die psychoanalytische Behandlung kommen und dafür auch motiviert sind, besteht dabei die Möglichkeit, durch das Ergründen der Verbindungen zwischen biographisch bedeutsamen Erfahrungen und dem Erleben der Ohrgeräusche den tieferen Ursachen der Erkrankung und ihren Bedingungen näher zu kommen und damit auch bewusster Lösungen an den Stellen anzustreben, die tatsächlich dem Symptom zugrunde liegen. Dies untermauert Tillmann an zahlreichen Fallbeispielen sowie Beschreibungen der dabei deutlich werdenden Prozesse und Hintergründe.
Deutlich wird dabei, wie in einer auf längere Zeit angelegten Behandlung entscheidende Dinge ebenso erkennbar werden können wie veränderbar sind.
Insgesamt handelt es sich um ein absolut lesenswertes Buch, das in der Vielzahl der sehr unterschiedlich ausgerichteten Ratgeber eine exponierte Stellung innerhalb der tiefenpsychologischen Sichtweise darstellt und hier den Akzent sehr deutlich auf den psychoanalytischen Aspekt legt.
Gespannt bin ich auf das angekündigte Buch für die therapeutisch tätigen und wissenschaftlich arbeitenden Kollegen.


Zitierte Literatur:
Tillmann, M (2007) Ein Versuch zum individuellen und kulturellen Verständnis der psychodynamischen Bedeutungen des Tinnitus aurium. Der gesellschaftliche Prozess der Globalisierung und die Notwendigkeit von Intimität Psychosozial 107, Heft I. 109-130


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