Rezension zu ADHS (PDF-E-Book)
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Rezension von Prof. Dr. Manfred Gerspach
Thema
Das Buch spiegelt die vierjährige interdisziplinäre
Intervisionsarbeit zum Thema ADHS einer Gruppe von Fachärztinnen
und Fachärzten für Psychiatrie und Psychotherapie des Kinder- und
Jugendalters, einem klinischen Psychologen sowie einer Kinder- und
Jugendlichenpsychotherapeutin. Als Ergebnis dieser Zusammenarbeit
wurden zehn Einzelfallstudien anonymisiert aufbereitet. Die
Untersuchungen und Behandlungen, die beschrieben werden, haben zum
Teil in einem stationären Setting, zum Teil aber auch als ambulante
Familientherapie oder Kinderpsychotherapie stattgefunden. In allen
Fällen konnten in der Entwicklungsgeschichte der Kinder und in
ihren Familien hinreichende und einleuchtende Gründe für die
aufgetretenen Störungen gefunden werden. Zudem sind die zentralen
Erkenntnisse einer katamnestischen Nachuntersuchung von Kindern,
die in einer kinderpsychiatrischen Gemeinschaftspraxis behandelt
worden waren, dokumentiert. Deutlich wird zum einen, dass Kinder
ihre innere Befindlichkeit in der Regel nicht durch Worte
mitteilen, sondern ihre Ängste, depressiven Gefühle und Spannungen
durch abgelenkte Aufmerksamkeit, motorische Aktivitäten oder
Impulsivität zum Ausdruck bringen. Zum anderen werden viele
überzeugende Belege dafür geliefert, wie durch psychotherapeutische
Hilfe für das Kind und seine Familie auf Symptome verzichtet werden
kann und eine medikamentöse Behandlung zunehmend entbehrlich
wird.
Aufbau und Inhalt
Das Buch ist in drei große Kapitel gegliedert.
1. Zunächst werden die unterschiedlichen Theorieansätze zum Thema
ADHS vorgestellt. Ausgehend von neurobiologischen und psycho- bzw.
familiendynamischen Ursachenerklärungen wird von Terje Neraal ein
Verstehenszugang zu den Verhaltensauffälligkeiten eröffnet, der vom
subjektiven Erleben der Störung ausgeht und nach deren Bedeutung
fragt. Dabei wird sehr viel Wert auf die Tatsache gelegt, den
Eltern keine Schuld für die Entstehung der kindlichen Problematik
zuzuweisen. In diesem ersten Teil werden in der differenzierten
Zusammenschau vieler neuer Studien die Wechselwirkungen von
Regulations- und Bindungsstörungen mit dem Auftreten von ADHS sehr
plausible Gründe für die auftretenden Entwicklungserschwernisse bei
den betroffenen Kindern vorgetragen.
2. Der zweite Teil dokumentiert sehr anschaulich die Fallbeispiele
von Kindern. Die präzisen, detaillierten und mehrperspektivischen
Beschreibungen machen die ganz unterschiedlichen Hintergründe für
die Entstehung ihrer ADHS-Problematik deutlich. So mag darin eine
depressive Verstimmung zum Ausdruck kommen, geboren aus einem
Gefühl von Überforderung und befördert von einer starken
Geschwisterrivalität. Auch kann die frühe Trennung vom psychisch
kranken Vater eine massive Identitätsunsicherheit hinterlassen. In
einem anderen Fall führte die ausbleibende Triangulierung der
Vater-Mutter-Kind-Beziehung zu einer aggressiv-zerstörerischen
›Verklebung‹ von Mutter und Kind. Oder eine starke frühkindliche
Deprivation gereichte zur Überforderung einer Adoptivfamilie. Vor
allem die dargestellten überwiegend positiven Behandlungsergebnisse
dieser ersten großen psychodynamisch orientierten Studie zum Thema
ADHS zeigen zweifelsfrei den Wert einer solchen Intervention, was
bislang im klinischen Diskurs allerdings kaum zur Kenntnis genommen
wurde.
3. Im abschließenden Teil geht es um Praxisansätze. Bereits 2005
verfassten Anna Maria Sant’Unione und Matthias Wildermuth unter der
Überschrift »Zur Therapie des hyperkinetischen Syndroms inkl.
seiner Unterformen (ADS, ADHS, hyperkinetische Störungen des
Sozialverhaltens) sowie der damit einhergehenden komorbiden
Störungen in der sozialpsychiatrischen Praxis« ihre katamnestische
Untersuchung, die mit dem Förderpreis für ambulante Kinder- und
Jugendpsychiatrie und Psychotherapie des Berufsverbandes für
Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie ausgezeichnet
wurde. Die darin pointiert vertretene Sichtweise wurde für den
vorliegenden Band sehr gut strukturiert aufbereitet. Darüber hinaus
werden die vorliegenden relevanten Forschungsergebnisse gebündelt,
kritisch bewertet und durch Überlegungen erweitert, die dem intra-
und interpersonellen Konfliktgeschehen für das Aufkommen der
Störungen die nötige Aufmerksamkeit zukommen lassen. Dadurch
bestätigt sich, dass vor allem die Entwicklung einer ausreichend
guten Bindung zwischen allen Beteiligten die wesentliche
Voraussetzung für den erfolgreichen Verlauf einer Behandlung
abgibt.
Diskussion
Dass emotionale Instabilität, die ganz verschiedenen psycho- und
familiendynamischen Zusammenhängen erwachsen kann, für das
Auftreten einer Aufmerksamkeits-Hyperaktivitäts-Störung
verantwortlich ist, wird in der Diskussion um ADHS lange schon und
mit gutem Grund vorgebracht. Hier nun finden wir methodisch
einwandfrei erhobene empirische Belege für diese Auffassung, was in
solcher Gründlichkeit bisher kaum geschehen ist. Über eine
empathisch vermittelte Selbstwirksamkeit der betroffenen Kinder in
Bezug auf ihre Problemlösefähigkeiten tun sich damit
ernstzunehmende Alternativen zu einer medikamentösen Therapie mit
Psychostimulanzien auf. Vor allem die nachgewiesene langfristige
Wirkung dieser durch die Psychoanalyse beeinflussten Interventionen
wird die Diskussion um die Frage der unbedingten Notwendigkeit
einer Medikamentierung neu beleben.
Fazit
Der große Nutzen des vorliegenden Buches liegt in der Verknüpfung
der theoretischen Aufbereitung der aktuell vorliegenden
Forschungsergebnisse und der sich daraus ergebenden Fachdebatte mit
der Darlegung und differenzierten Erörterung von klinischem
Fallmaterial. Dass mit psychodynamischen Ansätzen so
durchschlagende Behandlungserfolge zu verzeichnen sind, macht
Hoffnung. Das Buch ist für all jene, die mit Kindern und
Jugendlichen arbeiten, aber auch für Eltern uneingeschränkt zu
empfehlen.
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