Rezension zu Scheitern und Biographie
DIE ZEIT
Rezension von Elisabeth von Thadden
Schief gegangen: Das Leben
In der Forschung rückt eine moderne Erfahrung in den Blick, die
bisher als tabu galt: Das Scheitern, die Kehrseite des
neuzeitlichen Glücksversprechens
Dieses Buch ist keine besonders auffällige
Neuerscheinung des Frühjahrs. Ein Sammelband, unscheinbar, er
kämpft mit methodischen Schwierigkeiten, er präsentiert keine
allseits angesehene Prominenz, kein allseits respektiertes Thema.
Das hat das Buch mit seinem Gegenstand gemeinsam. Es handelt von
Menschen, die als Individuen erfolgreiche Neuerscheinungen geworden
sein müssten, wären sie sich nicht selbst, wäre ihnen die Welt
nicht in die Quere gekommen. Es handelt von der »anderen Seite
moderner Lebensgeschichten«: vom Scheitern, das der Soziologe
Richard Sennett als »großes Tabu der Moderne« bezeichnet hat.
Dieses Buch Scheitern und Biographie lässt einen aber, hat
man einmal zu lesen begonnen, nicht los. Es erscheint mit einer für
kluge Bücher untypischen Pünktlichkeit: genau zu dem Zeitpunkt
nämlich, in dem allseits erfahrbar wird, dass es für fast jeden
abwärts gehen kann, auch unwiderruflich. Dass es den eigenen
Kindern keineswegs automatisch besser gehen wird als einem selbst.
Dass man, und sei es auch nur in der eigenen Wahrnehmung, draußen
vor der Tür landen kann. Die Angst, entbehrlich zu werden, ist neu
in der Mehrheitsgesellschaft, die noch viel zu verlieren hat. Die
Erfahrung, bereits entbehrlich zu sein, ist das tägliche Brot einer
wachsenden Minderheit.
Und also ist dieses Buch, das Aufsätze aus den verschiedensten
Wissenschaften von der Kultur versammelt, doch eine herausragende
Neuerscheinung des Frühjahrs. Denn gleich der antiken Tragödie
erweckt es im Leser jene machtvollen Gefühle von Furcht und
Mitleid, welche die Seele aufklären und stärken können.
Das Buch baut die Moderne neu aus den individuellen und kollektiven
Facetten des Misslingens zusammen, indem es den Mustern moderner
Selbstidentifikation nachgeht: Arbeit und Leistung, Religion,
Nation und Geschlecht. Bedrückend zentral: der Beruf männlicher
Prägung. Dass ein Leben gelingen oder scheitern kann, die
Verknüpfung vom möglichen weltlichen Glück mit der Biografie, ist
eine Vorstellung, die die europäische Moderne seit dem 18.
Jahrhundert ebenso hervorgebracht hat wie das »Berufsmenschentum«,
wie es Max Weber genannt hat. Der Geschichte dieser Vorstellung und
Erfahrung geht das Buch nach.
Vom Bildungsbürgertum ins Hotelmanagement. Ein Abstieg?
Der Band sammelt Fallbeispiele: Der junge Historiker
Andreas Bähr zeichnet die Katastrophe des Gotthold Friedrich
Stäudlin nach, jenes Dichters und Advokaten der Aufklärung, der
sich selbst tötete, weil er, der revolutionäre Intellektuelle in
der feudalen Gesellschaft, moralisch versagt zu haben glaubte –
unfähig, sein Auskommen zu sichern, ohne Kraft, um zu handeln. Die
Historiker Jürgen Herres und Regina Roth lassen jenen staatenlosen
Exilanten Karl Marx, der noch als Fünfzigjähriger den Weg aus der
Armut in die Selbstständigkeit nicht geschafft hat, als
Niezufriedenen erscheinen, der dem Publikum nicht »unvollständig«,
wie sein Schwiegersohn Paul Lafargue es nannte, entgegentreten
wollte.
Und das Buch greift aus in die Erfahrungen gescheiterter
Männlichkeit in den Weltkriegen; in literarische Formen vom
glücklichen Misserfolg in Deutschland wie in den Vereinigten
Staaten. Es analysiert, wie nach 1989 eine Verwaltungsfachfrau aus
dem Westen gen Osten zog und dort an der bleibenden Fremdheit
scheiterte. Und widmet sich schließlich medialen Darstellungen etwa
in den Fernsehsendungen Show des Scheiterns und Club
der polnischen Versager, die im Scheitern bereits eine
Schwester der Kreativität erkennbar werden lassen: Missglücken kann
nur, was einer versucht hat. Und wer etwas versucht, ist auch ein
Erfinder.
Was einen an diesem Buch stört, ist die methodische Festlegung der
Herausgeber, des Kulturhistorikers Stefan Zahlmann und der
Sozialwissenschaftlerin Sylka Scholz, das Scheitern im Anschluss an
Ludwig Wittgenstein an die Sprache zu binden – »was als Scheitern
und wer als Gescheiterter gilt, wird bestimmt durch die
Gepflogenheiten des Sprechens«. Natürlich trägt die Thematisierung
der Erfahrung, dass etwas schief geht, dazu bei, eine Biografie
auf- oder abzuwerten, ebenso wie der Erfolg sich an öffentlicher
Anerkennung misst. Und natürlich ist jede historische Arbeit auf
schriftliche Quellen angewiesen, also auf Sprache. Doch das
Scheitern aus dem Rahmen von Gesetzen, Normen und ökonomischen
Spielräumen herauslösen zu wollen, aus den Versuchen zu handeln,
mutet fast kurios an angesichts der Umbrüche, welche die
Architektur der Gegenwartsgesellschaften heute erschüttern.
Zum Glück aber nehmen sich die Beiträge des Buchs die Freiheit,
ihre Gegenstände rundum zu ergründen. Etwa in dem glänzenden
Aufsatz über Sebastian Hensel, jenen Urenkel Moses Mendelssohns,
der vor 150 Jahren seinen Weg aus dem Bildungsbürgertum in die
Landwirtschaft, von dort zu einer Baugesellschaft, dann ins
Hotelmanagement nahm – einen »Lebenslauf in absteigender Linie«
könne man annehmen, so pointierte sein Sohn Paul Hensel, selbst
Professor der Philosophie, den Weg des Vaters.
Auch die brüchige Biografie soll erfolgreich sein
Die Bielefelder Historikerin Martina Kessel, der man
auch eine ebenso kluge wie spannende Studie zur Langeweile
verdankt, fragt sich, wie es kommen kann, dass der Sohn Hensel zu
bedenken gibt, man könne seinen Vater als Sozialabsteiger
auffassen. Vielleicht muss man es ausdrücklich sagen: Kessel neigt
nicht dazu, Sebastian Hensels Leben als gescheitert zu betrachten:
»Er ging nie durch eigenes Verschulden bankrott, wandte sich mit 42
Jahren mit Verve einer neuen Aufgabe zu, nachdem er das Gut
aufgeben musste, weil seine Frau das Klima nicht vertrug, schrieb
dann eine der im Kaiserreich mit Abstand erfolgreichsten
Familienbiografien und initiierte mit dem Kaiserhof das
moderne Berliner Hotelwesen.«
Kessel interessiert vielmehr, welche Maßstäbe für ein gelungenes
Leben ein Mann bildungsbürgerlicher Herkunft in Deutschland
formulierte – und also die Relativität des Begriffs Scheitern.
Aufgrund der bürgerlichen Norm, dass ein Mann eine kontinuierliche
Karriere zu machen habe, als Familienoberhaupt zu wirken und im
eigenen Milieu sozial akzeptiert zu sein, galt ein Berufswechsel
als prekär. Ein maßgeblicher Grund für Sebastian Hensel, die eigene
Lebensgeschichte zu verfassen – sie verrät, dass sein Umfeld das
Umsatteln als »eine Art Verbrechen« empfand.
Umso klarer betont Hensel selbst, wie er den bürgerlichen Normen
des Reüssierens selbst als Landwirt entspricht, und umso deutlicher
führt er den Wechsel zur Baugesellschaft auf widrige äußere
Umstände zurück. Im Zentrum seiner Erinnerungen aber steht der
Beruf, das Vorwärtskommen, und also der beredte Versuch, auch diese
brüchige männliche Biografie als geschlossen, erfolgreich und
moralisch integer zu behaupten.
»Meine Kinder fragen mich schon lange nichts mehr«
Hundertfünfzig Jahre später kann das Scheitern ganz
anders aussehen: Die Soziologin Renate Liebold hat die Dilemmata
männlicher Führungskräfte untersucht, die sich dem neuen Anspruch
ausgesetzt sehen, Beruf und Familie als Männer vereinbaren zu
können. Sie stellt das Leiden an der Eindimensionalität des
beruflichen Erfolgs dar, die ein Gefühl des Scheiterns als Vater
und als Ehemann beinhalten kann: »Meine Kinder fragen mich schon
lange nichts mehr.« Das hätte sich ein Sebastian Hensel nicht
träumen lassen: dass beruflicher Erfolg begründungsbedürftig wird
und die Seele in Not bringen kann.
Schon merkwürdig, wie das Scheitern, je mehr
der Begriff und die Erfahrung in diesem Buch gedehnt werden, sich
langsam in seiner Bedeutung wandelt, bis es fast gleichbedeutend
wird mit dem Versuch, das Leben immer neu zu erfinden. In der
misslungenen Integration wird das Wagnis des Aufbruchs erkennbar.
In der misslungenen Vaterschaft der Wunsch, einer zu werden. In der
gescheiterten öffentlichen Wahrnehmung die Courage, anders zu
denken. Und in der zerknickten Berufsbiografie auch die
Perspektive, dass ein Bürger sich jenseits des Berufs denken können
sollte.
Wenn also die zweihundertjährige Geschichte des Scheiterns nach
einer neuen Antwort schreit, dann ist es diejenige, die Würde des
Menschen von seinem Erfolg im Beruf und seinem materiellen
Wohlstand endlich zu lösen. Die Wahrnehmung, was ein gelingendes,
was ein erfülltes Leben sei, darf neu den Blick schweifen lassen.
Das ist auch erleichternd.
Nur in der ausweglosen Armut ist heute kaum etwas anderes zu
erkennen als das Elend. Bis auf weiteres.