Rezension zu Psychotherapie der Borderline-Persönlichkeitsstörung
Zeitschrift für Individualpsychologie
Rezension von Dr. Josef Brockmann
Der Behandlungsansatz des Buchs bezieht sich auf die
Hauptschwierigkeiten von Borderline-Patienten mit sich und anderen:
die Schwierigkeiten zu »mentalisieren«. Mentalisierung meint die
Fähigkeit einer Person, das eigene Verhalten und das Verhalten
anderer auf der Grundlage zielgerichteter »mentaler« Zustände wie
Gefühle, Wünsche und Überzeugungen zu verstehen. Eine Person hat
die Fähigkeit zu »mentalisieren«, wenn sie den Geist (»mind«) einer
anderen Person unabhängig und getrennt vom eigenen Geist (»mind«)
wahrnehmen kann. Dazu gehört auch, dass eine Person diese bei sich
selbst anwenden kann, d.h. selbst-reflektieren kann. P. Fonagy
beschreibt dies in Seminaren mit »To have the mind in mind.«
Mentalisierung ist ein entwicklungspsychologisches Konzept, das
sich auf die Bindungsforschung, die Erforschung der
Mutter-Kind-Interaktion und der Neurobiologie des Geistes
stützt.
In diesem ersten nun in deutscher Sprache erschienen Buch
formulieren A. W. Bateman und P. Fonagy – der eine Psychoanalytiker
und Leiter einer Therapieeinrichtung für Persönlichkeitsstörungen
in London und der andere Vorsitzender des Forschungskomitees der
Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung – die Grundlagen
ihres Behandlungskonzeptes und geben einen Überblick über die
Behandlungsform, deren Wirksamkeit sie empirisch belegen können.
Die erste Hälfte des Buches liefert viele theoretische Aspekte: im
1. Kapitel epidemiologische und ätiologische Aspekte, im 2. Kapitel
den Stand der psychotherapeutischen Prozess- und Ergebnisforschung
bei Borderline-Persönlichkeitsstörungen. Im 3. Kapitel geben die
Autoren dann Einblick in ihr mentalisierungsbasiertes Verständnis
der Borderline-Persönlichkeitsstörung.
Das Mentalisierungskonzept erscheint zunächst als theoretischer
Ansatz, hat aber praktische Relevanz. Ein Kind entwickelt die
Fähigkeit zu »mentalisieren« in einem interaktiven Prozess, in dem
eine bedeutende Bezugsperson (z.B. die Mutter) sich kontinuierlich
und verlässlich auf die »mental states« des Kindes bezieht. Die
Mutter hilft dem Kind, sein Verhalten (und das von anderen) in
Verbindung mit Benennung von Gefühlen, Wünschen, Erwartungen und
Überzeugungen zu verstehen. Mit zunehmender Mentalisierung gewinnt
das Kind auch ein Verständnis dafür, dass andere eine andere
Sichtweise haben können als es selbst. Mentalisierung gelingt dabei
in sicheren Bindungen besser als in unsicheren. Am Anfang der
mentalen Entwicklung steht der psychische »Äquivalenz-Modus« der
Beziehung. Im »Äquivalenz-Modus« erlebt das Kind die äußere Welt
als Spiegelbild seiner inneren Welt – und umgekehrt. Dem
»Äquivalenz-Modus« folgt in der psychischen Entwicklung der
»Als-ob-Modus«. Im »Als-ob-Modus« erfährt das Kind (z.B. im Spiel:
»Ich bin die Prinzessin«), dass die innere Erfahrung nicht der
äußeren Realität entsprechen muss. Ab einem Alter von vier Jahren
beginnt das Kind beide Modi zu integrieren und entwickelt dabei
eine höhere Fähigkeit zu »mentalisieren«. Spezielle
Mentalisierungsstörungen bei Borderline-Persönlichkeitsstörungen
lassen sich über diese Entwicklungsmodi gut identifizieren und
verstehen.
Grundlage des Konzepts der Entwicklung der Mentalisierung und ihrer
Störungen ist der Versuch, ein kohärentes Verständnis darüber zu
entwickeln, wie sich Überzeugungen, Erwartungen und Bedürfnisse bei
sich selbst und in anderen entwickeln. Mentalisierungsbasierte
Behandlung ist ein Ansatz auf psychoanalytischer Basis, der eben
diese Fähigkeiten zu fordern versucht.
Der zweite, praktische Teil des Buches beschreibt das
Behandlungskonzept im Rahmen einer Tagesklinik. Das mindert den
Wert des Buchs für Therapeuten, die im ambulanten Setting arbeiten.
Der Ansatz ist aber auch für diese interessant. So betonen Bateman
und Fonagy, dass allen Behandlungsansätzen, die sich empirisch als
erfolgreich erweisen konnten, gemeinsam ist, dass die Behandlungen
einen festen strukturellen Rahmen haben. Ebenso sind erfolgreiche
Behandlungen an einen Rahmen gebunden, der sowohl theoretisch als
auch praktisch transparent und kohärent für den Patienten ist. Dies
macht die Behandlung für den Patienten sicher und ist damit genau
das, was Menschen mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung in
ihrer Vergangenheit vermisst haben bzw. ihnen verloren gegangen
ist. Viele Elemente des mentalisierungsbasierten Ansatzes sind aus
anderen Therapieformen bekannt und können in anderen Therapieformen
verwendet werden. Dies mag dem einen oder anderen Psychoanalytiker
verdächtig vorkommen, aber Fonagy und Mitarbeiter bzw.
Mitarbeiterinnen konnten das Konzept der Mentalisierungsstörungen
in früheren Publikationen über Entwicklungspsychologie und
Bindungsforschung gut herleiten (z.B. Fonagy et al. 2004, 2003).
Ihr Fazit: Sichere frühe Bindungen zu bedeutenden Bezugspersonen
sind notwendig, um die Mentalisierungsfähigkeiten des Kindes zu
entwickeln. Unsichere frühe Bindungen oder traumatische Ereignisse
(wie körperliche Gewalt oder sexueller Missbrauch) führen zu
Mentalisierungsstörungen. Mentalisierungsstörungen werden seit
mehreren Jahren von Fonagy und Kollegen in England und den USA
empirisch untersucht. Unter psychodynamisch orientierten
Psychotherapie-Forschern ist die Self Reflective-Functioning Scale
(Fonagy et al. 1998) zu einem akzeptierten Forschungsinstrument
geworden.
Das Buch ist strukturiert und systematisch ebenso wie der
vertretene Ansatz. Die Technik ist komplex und flexibel. Ebenso ist
das Buch frei von einer Sprache, die zu einer speziellen
psychoanalytischen Schule gehört; es ist in einer Sprache
geschrieben, in der auch Patienten Therapieberichte und Anträge
lesen können. Dies folgt dem vertretenen Ansatz der Transparenz und
Kohärenz, aber auch dem Verständnis, dass das Scheitern der
Kommunikation nicht nur »beim Patienten« liegen kann, sondern auch
beim Therapeuten: Vorübergehende Mentalisierungsstörungen, (z.B.
eine Verringerung der Mentalisierungsfähigkeiten in hoch affektiv
geladenen Situationen) entstehen beim Patienten und beim
Therapeuten.
Bücher über die Behandlungen von
Borderline-Persönlichkeitsstörungen waren bisher für
Psychoanalytiker aus zwei Gründen meist unbefriedigend. Erstens
stellen sich die psychoanalytischen Ansätze in diesem Bereich
unsystematisch und widersprüchlich dar. Viele Psychoanalytiker
schwanken dann in der Praxis bei diesen Patienten zwischen
vertrauter bzw. klassischer Technik und innovativen Therapien
verschiedener Autoritäten. Psychoanalytiker tun dies durchaus aus
guten Gründen, auch wenn dies oft nicht besonders gut für die
Patienten ist, was beides aus diesem Ansatz her verstehbar ist.
Zweitens haben psychoanalytische Therapien bei Borderline-Störungen
im Gegensatz zur Verhaltenstherapie bisher nicht ihre Wirksamkeit
nachgewiesen – weder in ihren klassischen noch in ihren innovativen
Ansätzen. Auf beide Aspekte gehen Bateman und Fonagy ein und
schildern die vorhandenen Ansätze wohlwollend. Sie können dies auch
tun, da sie in vorausgehenden Publikationen zeigen konnten, dass
ihr Behandlungsansatz in einer RCT-Studie (Random Control Trials:
Studien mit Zufallsverteilung der Patienten auf unterschiedliche
Behandlungsformen, dem »Goldstandard« der Psychotherapieforschung)
im Rahmen eines Tagesklinik-Settings effektiv war.
Mein Fazit: Dieses Buch ist (ebenso wie die beiden Autoren) ein
Glücksfall für die Psychoanalyse. Die deutsche Übersetzung des
Buches erschien im März 2008 nach langem Warten – und mindestens
zwei weitere zu diesem Thema (Allen et al. 2006; Bateman et al.
2006) warten auf ihre Übersetzung.