Rezension zu Die späte Familie (PDF-E-Book)
Ärztliche Psychotherapie
Rezension von G. S. Barolin
Es liegen 15 von unterschiedlichen Autoren verfasste Artikel über
die Generationenbeziehung vor. Die Autoren (vielfach Autorinnen)
kommen aus Pädagogik, Soziologie, Psychoanalyse, Krankenpflege,
Philosophie, Theologie, Psychologie, ein einziger Arzt (Psychiater)
ist darunter. Wir bekommen einerseits theoretische Überlegungen,
anderseits praktische Erfahrungen zum Intergenerationenverhältnis.
Ebenso unterschiedlich wie die verschiedenen Blickwinkel der
Rezensenten sind auch die Übersichtlichkeit und der Inhaltsreichtum
der Beiträge. Im Folgenden werden nur ein paar mir interessanter
erscheinende Punkte herausgegriffen.
Bauer und Gröning postulieren ein menschliches Grundbedürfnis nach
Geben und Schenken sowie der Erwartung nach angemessener
Gegenleistung. Diese Balance von Geben und Nehmen in der
Kind-Eltern-Beziehung ist durch das Ungleichgewicht (Hilflosigkeit
und Abhängigkeit des Kindes) erschwert und kann dadurch vielfach
gestört sein. Das Alter sei mit Schmerz über das gehabte Leben und
über die fehlende Zukunft verbunden. Dieser Lebensschmerz des
Alters aktiviert Demenz, Depression und Psychose als
Abwehrmechanismen. Dieser Auffassung, dass Alter dem Schmerz
gleichzusetzen sei, und dass Demenz, Depression und Psychose dabei
als Abwehrmechanismen auftreten, setzt der Rezensent (aus Sicht der
Alterspsychologie und ärztlichen Alterspsychiatrie) seinen
absoluten Widerspruch entgegen. Hier werden Krankheitszustände, die
wir heute neurobiologisch und bzw. oder -somatisch klar erfassen
können, völlig einseitig und unrealistisch betrachtet, wenn auch
die psychodynamischen Elemente bei der Ausformung der
Krankheitsbilder zweifelsfrei mitgestaltend sind.
Dörner berichtet, dass in der Arbeit mit Angehörigengruppen die
Pflegenden und ihre darin bestehenden Gesundheitsrisiken mehr ins
Zentrum der Betrachtung rücken (ein sehr wesentliches Prinzip, das
auch im Arbeitskreis des Rezensenten stark im Vordergrund stand).
Die Desinstitutionalisierung (also das weitgehende im Bereich
Familie und Ursprungsumgebung Belassen von Alterspatienten) hat
unerwünschtermaßen auch dazu geführt, dass die Pflegeabteilungen
eine gesunde Mischung von fitten und weniger fitten Bewohnern
verloren haben, und dort nur mehr die Kränksten in einem
unerträglichen Zustand verblieben sind – der Rezensent dazu: Das
erfordert eine spezielle Ausrichtung der Palliativpsychotherapie,
entsprechende Schulung und Supervision muss der Burn-Out-Gefahr der
Mitarbeiter entgegenarbeiten.
Interessant ist die Gegenüberstellung von
Holocaust-Nachkommen-Familien und Nachkommen-Familien
nationalsozialistischer Würdenträger. Es zeigt sich nämlich bei
beiden eine weitgehende Sprachlosigkeit über die Vergangenheit. Bei
den Shoah-Überlebenden spielt auch die Scham darüber mit, dass die
Juden damals wie die Lämmer zur Schlachtbank getrieben wurden, bei
den NS-Nachkommen die Schwierigkeit, das historische Wissen über
die Schuld der Eltern- und Großeltern-Generationen mit einer
angemessenen Loyalität diesen gegenüber zu vereinen.
Rohr berichtet über die Sterbebegleitung ihrer alten Mutter. Es
hatte die Physiotherapeutin (assistiert von dem Arzt) weitere
Besuche als sinnlos ausgesetzt, »da keinerlei aktive Mitarbeit von
der Mutter zu verspüren war«. Als Rezensent sage ich dazu, dass es
sich hier um eine absolut falsche ärztliche und
physiotherapeutische Haltung in der Palliativbetreuung handelt! Die
Bedeutung von weiterem (auch körperlich) liebevollem Umgang mit der
Sterbenden sowohl für die Angehörigen als auch für die Schwerkranke
kann für die Palliativmedizin durchaus unterstrichen werden. Diese
wichtigen Gesichtspunkte der Palliativpsychotherapie hätten
anlässlich dieser Fallschilderung eingebracht werden können.
Überhaupt glaube ich, dass viele der Artikelautoren einiges
profitiert und besser beschreiben können hätten, wenn sie über ihre
Thematik mit einem ordentlichen Psychiater oder Psychotherapeuten
gesprochen hätten, denn die betreffenden ärztlichen Gesichtspunkte
sind leider weitgehend unterrepräsentiert. Zwar ist ja Dörner unter
den Autoren vertreten, aber offensichtlich haben die Autoren ihre
Artikel in keiner Weise miteinander vernetzt.
Bei Migrantenfamilien (berichtet Ertl) ergibt sich häufig eine
Abhängigkeit der Eltern gegenüber den Kindern, da diese aus ihrer
Schulbildung im Immigrationsland mit Sprache und Kulturtechniken
der Gesellschaft vertraut geworden sind. Dies kann konstruktiv
genutzt werden, aber auch zu familiären Problemen führen,
insbesondere durch den gleichzeitigen Patriarchats-Anspruch der
Eigenfamilie (Zwangsehen führt der Rezensent als Beispiel an).
Der rasch nach Informationserweiterung strebende Leser muss
ziemlich suchen, um in der relativen Weitschweifigkeit des Textes
einige Essentiale herauszufinden. Diese sind aber durchaus relevant
und können etwas mehr zum Verständnis der weiten psychodynamischen
Varianz in der Mehr-Generationen-Familie beitragen.