Rezension zu Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leiden sie noch heute

Neue Kirchenzeitung

Geistreiche Literaturgespräche

Maria Leonarda Castello liest viele Bücher und schreibt auch welche – zum Beispiel über Märchen

Hamburg (ms). Bücher sind ihr Leben: Maria Leonarda Castello (50) leitet seit 14 Jahren Literatur und Schreibgruppen. Sie schreibt auch selbst. In ihrem jüngsten Werk geht es um Kindesmisshandlung und Rettung in Grimmschen Märchen.

Eines Tages konnte Maria Leonarda Castello ihre vollen Bücherregale nicht mehr ertragen. Die Literaturwissenschaftlerin musste sich frische Luft verschaffen: »Ich will nicht mehr mit Büchern, ich will mit den Menschen leben«, sagte sie sich. Viele Bücher verschenkte sie, andere hat sie in Schränke verbannt, damit sie nicht einstauben. Das, was sie gerade liest oder für ihre Literaturgruppen vorbereitet, steht auf der Fensterbank im Wohnzimmer: Eichendorffs »Aus dem Leben eines Taugenichts« ebenso wie Adalbert Stifters »Nachsommer«.

Dennoch ist es Liebe, die Maria Leonarda Castello mit den Büchern verbindet. Schon nach den ersten Seiten entscheidet sich, ob das Buch diese Liebe verdient oder nicht: In einer klaren Sprache und gut geschrieben muss es sein. Und die Geschichte muss fesseln. Nie vergisst sie den ersten Besuch als junge Germanistikstudentin in der Universitätsbibliothek Göttingen: Bücher, so weit das Auge reichte! »War das toll!«

Ihren Magister absolvierte die junge Frau schon in Hamburg. Nach der Doktorarbeit ging sie für ein Jahr nach Cambridge und kam mit der Erkenntnis wieder: »Ich bin so durch und durch deutsch und habe eine tiefe Verbundenheit mit der deutschen Sprache.«

In Hamburg ließ sie sich mit ihrem Mann in Blankenese nieder. Von ihrer Haustür sind es nur wenige Gehminuten bis zur Elbe: Dorthin zieht es sie schon morgens in aller Frühe. Direkt auf dem Weg liegt die Maria Grün-Gemeinde, mit der sich die Katholikin sehr verbunden fühlt.

Als sie sich vor 14 Jahren im Pfarramt nach einem Chor erkundigte, wurde man dort hellhörig: Ob sie als Literaturwissenschaftlerin nicht Lust hätte, einen Seniorennachmittag zu gestalten? Maria Leonarda Castello hatte Lust. Mit 20 älteren Damen las sie Gedichte von Goethe und Brecht. »Daraus ist dann alles entstanden«, erzählt sie und ist darüber selbst erstaunt.

Denn die Damen waren begeistert und drängten auf eine Wiederholung. Auch gegen Bezahlung. Und so versammelte Maria Leonarda Castello fortan donnerstags morgens zehn Teilnehmer um ihren Wohnzimmertisch und las Klassisches und Modernes. Aus der einen Gruppe sind längst drei geworden, die Teilnehmer kommen aus allen Teilen Hamburgs. Maria Leonarda Castello hat sich als Dozentin eine feste Basis geschaffen. Sie hält Vorträge, hat seit vielen Jahren private Schreibgruppen, lädt zu Seminaren. Kafka, Christa Wolf und Homers Odyssee stehen im nächsten Frühjahr auf dem Programm.

»Die Menschen sehnen sich nach jemandem, der mit ihnen Literatur auf geistreiche Art liest«, erklärt sich die Autorin den eigenen Erfolg. »Ich kultiviere ja die Gespräche, gebe einen Rahmen, Antwort auf Fragen. Dann entsteht so was wie Geist, der die Menschen beflügelt.«

Aber Maria Leonarda Castello schreibt auch selbst. In ihrem jüngsten Werk hat sie sich der Märchen angenommen: »Märchen erzählen über unsere Kultur, vom Alltag – darüber, wie Menschen früher miteinander umgegangen sind.« Die Bedeutung der alten Geschichten ist mit den Jahrhunderten allerdings oft verloren gegangen. Maria Leonarda Castello hat sich auf die Suche gemacht: Sie liest Grimms Märchen in alter Sprache in der Ausgabe von 1857. Jedes Wort, jede Wendung, jedes Bild und Motiv kann dabei wichtig für die Bedeutungsgeschichte sein.

Die Geschichten, die sie für ihr Buch gewählt hat, haben vor allem eins gemein: Es sind Familiengeschichten, die von oft grausamen Eltern und starken Kindern berichten. »Das sind beileibe keine Schlafgeschichten, sondern Brandbomben«, bekräftigt die Literaturwissenschaftlerin. Trotzdem hat sie ihr Buch auch mit Blick auf Kinder geschrieben: »Ich möchte ihnen klarmachen, dass das, was einem im Leben aufgebürdet wird, nicht immer eine Bürde sein muss.«

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