Rezension zu Scheitern und Biographie
Die Berliner Literaturkritik
Rezension von Micha Ostermann
Das Recht zu scheitern
Stefan Zahlmanns und Sylka Scholz »Scheitern und Biographie«
Fast könnte man Mitleid mit den Bindestrich-Wissenschaftler/innen
haben, die man früher einmal dem Bereich Geistes- und
Sozialwissenschaften hätte zuordnen können. Sie erleben im
Universitätsbetrieb Deutschlands zurzeit in großer Zahl, was es
heißt, zu scheitern. Aber die Damen und Herren können sich auch zur
Wehr setzen, denn schließlich kann niemand so gut klagen, wie ein
fallierter Vertreter der bürgerlichen Mittelschicht.
So haben die Autor/innen des Bandes »Scheitern und Biographie« aus
der Not eine Tugend gemacht und reflektieren nun auf hohem
Bindestrichniveau über die Brüche und Umbrüche bürgerlicher
Biografien. Dabei fällt auf, dass ganz in der Tradition ihrer
Fakultas die Autor/innen sich untereinander nicht einmal darauf
geeinigt haben, wie denn nun eigentlich der schöne Begriff
»Scheitern« zu definieren ist. Daher ist es nur folgerichtig, dass
der Herausgeber Stefan Zahlmann, übrigens ein Forscher mit den
Schwerpunkten »Kulturgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts« und
»Körper-, Medien- und Kommunikationsgeschichte«, in seinem Vorwort
den Stier bei den Hörnern packt: »Ein Problem vieler Anthologien
ist der »rote Faden«, ein Begriff, den Rezensenten gerne verwenden,
wenn sie den inneren Zusammenhang der zusammengestellten Beiträge
überprüfen«.
Der rote Faden
Dem schließt sich der Rezensent an dieser Stelle ohne Einschränkung
an und stellt fest: Dem vorliegenden Sammelband fehlt in jeder
Hinsicht ein Zusammenhalt, der über den broschierten Einband
hinausgeht. Dennoch sind einige Beiträge und zu diesen zählt auch
das Vorwort von Stefan Zahlmann für sich alleine genommen äußerst
lesenswert und informativ.
Dies gilt beispielsweise gleich für den ersten Aufsatz »Schiffbruch
ohne Zuschauer«, dessen Untertitel »Überlegungen zur heuristischen
Kategorie des Scheiterns aus der Perspektive moralischer
Ausweglosigkeit im 18. Jahrhundert« eine gescheite Lektorin wohl
ersatzlos gestrichen hätte. Andreas Bähr beschäftigt sich darin mit
dem tragischen Scheitern von Gotthold Friedrich Stäudlin, einem
Zeitgenossen Goethes, dessen berufliche Erfolglosigkeit ihn
letztlich dazu treibt, Selbstmord zu begehen. Spannend ist dieser
Beitrag vor allem deshalb, weil er im einleitenden Paragrafen dem
Begriff des Scheiterns etymologisch nachgeht. Ursprünglich ist mit
dem Scheitern das zerbersten der Planken bei einem Schiffbruch
gemeint. Im metaphorischen Sprachgebrauch Goethes verbindet der
Schiffbruch die Bereiche der Selbsttötung und des Scheiterns. Der
Dichter tröstete Carl Friedrich Zelter, den Vater des
Gescheiterten, in einem rhetorisch faszinierenden Brief. Der
Selbstmord des Sohnes das Brechen der Planken, die seinem Leben
einen Halt gegeben haben erscheint als mögliche, wenn auch nicht
einzig mögliche Konsequenz des Scheiterns.
Scheitern und Kapital
Welchen Erkenntnisgewinn jedoch der Beitrag »Karl Marx, oder: ›Wenn
die Karell Kapital gemacht hätte, statt etc.‹« von Jürgen Herres
und Regina Roth bringen soll, bleibt leider völlig unklar. Die
Autor/innen beschränken sich im Wesentlichen auf ein Zusammentragen
altbekannter biografischer Fakten aus dem Leben des Philosophen.
Und mit Verlaub dass Marx als Person in wirtschaftlicher Hinsicht
auf der ganzen Linie gescheitert ist, haben gemeine
Wirtschaftsliberale den Kommunisten schon vor ewiger Zeit mit
bösartiger Genugtuung unter die Nase gerieben. Und wer weiß, hätte
Engels Marx nicht finanziell unter die Arme gegriffen, dann wären
in den letzten hundert Jahren vielleicht wesentlich weniger Staaten
an ihrer Finanzpolitik gescheitert.
Wieso sich Martina Kessel in einem Buch über »Scheitern und
Biographie« mit dem Leben von Sebastian Hensel auseinandersetzt,
ist ebenfalls ein Rätsel. Vor seinem sozialen Hintergrund als
Sprössling der bildungsbürgerlichen Familie Mendelssohn ist sein
Misserfolg als Schriftsteller und seine spätere Karriere als
Hotelier vielleicht als Scheitern zu werten. Aber ist dieser
gepolsterte Lebenslauf wirklich mit den existentiellen Nöten eines
Stäudlin vergleichbar? Hensel ist nicht gescheitert, vielmehr hat
er die Krisen in seinem Leben überstanden und sich den wechselnden
Verhältnisse angepasst. Frau Kessel hätte diesen Aufsatz in einem
Buch mit dem Titel »Krise als Chance« unterbringen sollen.
Alarm im Elfenbeinturm
»WissenschaftlerInnen scheitern (nicht)« setzt sich mit den
beruflichen Schwierigkeiten von (Geistes-)Wissenschaftler/innen und
Freiberuflern auseinander. Über jeder ungeraden Seite steht in
diesem Beitrag wie in jedem anderen auch der Titel des Aufsatzes.
Hier allerdings ist wohl die Lektorin gescheitert:
»WissenschaftlerInnen scheitert (nicht)« bei der Einzahl handelt es
sich doch wohl um einen Druckfehler! Oder steht das Verb vielleicht
doch in der Mehrzahl und ist als aufmunternder Zuruf gemeint? Wie
dem auch sei, die dem Beitrag zugrunde liegenden Interviews
beschäftigen sich doch wohl nicht mit dem Scheitern, sondern mit
biografischen Brüchen, die, so legen Gerd Dressel und Nikola
Langreiter nahe, je nach Geschlecht der Betroffenen unterschiedlich
dargestellt werden: Männer erleben sich auch bei Brüchen als aktive
Gestalter ihrer Lebensgeschichte; aufgezwungenes Handeln tauche
dagegen eher in Lebensgeschichten von Frauen auf. Nun,
offensichtlich haben Herr Dressel und Frau Langreiter einfach nicht
die richtigen Personen interviewt. Der Rezensent dieser Zeilen
beispielsweise hätte durchaus eine Lebensgeschichte zu erzählen,
die vor weiblichen Erzählmustern nur so strotzt. Im Ernst
vielleicht sollte die quantitative Empirie bei der
wissenschaftlichen Arbeit nicht völlig in Vergessenheit
geraten.
Dies gilt insbesondere für den Beitrag von Claudia Dreke. Sie
beschäftigt sich in ihrem Aufsatz »Erfolg und Scheitern im »fremden
Osten« mit dem beruflichen Misserfolg einer westdeutschen
Verwaltungsspezialistin, die nach der Wende in den neuen
Bundesländern eingesetzt wird, um vorhandene Verwaltungsstrukturen
zu optimieren. Ihre Methoden kann sie allerdings an ihrer neuen
Wirkungsstätte nicht durchsetzten und kehrt daher wieder in den
Westen zurück.
Einzelschicksale
Kann denn die Grundlage für einen wissenschaftlichen Aufsatz ein
einziges Interview sein? Vielleicht handelt es sich bei dem
beschriebenen Fall ja um ein tragisches Einzelschicksal. Es soll
auch westdeutsche Frauen geben, die mit ostdeutschen Männern ganz
hervorragend zusammenarbeiten können! Und kann man denn bei einem
beruflichen Einsatz in den neuen Bundesländern von »Migration«
sprechen? Und überhaupt, sind denn in dieser ganz speziellen
Lebensgeschichte an irgendeiner Stelle die Planken geborsten? Kann
man hier von einem Scheitern sprechen?
Glücklicherweise finden sich in »Scheitern und Biographie« dann
doch noch einige Aufsätze, die sich ergiebigere Forschungsfelder
ausgesucht haben. Jürgen Reulecke beschäftigt sich mit dem
Scheitern der Angehörigen des Freideutschen Kreises, der 1947
gegründet eine Gemeinschaft von Männern darstellte, die in der Zeit
zwischen 1900 und 1912 geboren wurden und daher die Misere der
beiden Weltkriege, der gescheiterten Weimarer Republik und des
Dritten Reiches als aktive Mitglieder der Gesellschaft miterlebt
und auch mitgestaltet haben. Der Autor konstatiert für diesen Kreis
ein Scheitern an der Aufgabe, die Fehler und Verbrechen der eigenen
Generation im Gespräch mit Kindern und Enkel aufgearbeitet zu
haben.
Gescheiterte Soldaten
Auch Rainer Pöppinghege setzt sich mit dem Scheitern der
Kriegsgeneration auseinander. Sein Interesse gilt der
Kriegsgefangenschaft als einer Erfahrung, die für viele Deutsche
ein Scheitern auf der ganzen Linie darstellte. Dem traumatischen
Scheitern als Soldat folgte in diesen Biografien das Scheitern an
der Kommunizierbarkeit der eigenen Erfahrungen. Die
Nachkriegsgesellschaft konnte und wollte die Kriegsgefangenen nicht
in ihrem Opferstatus bestätigen, was für eine gelungene
Aufarbeitung des erlittenen Traumas notwendig gewesen wäre.
Besonders lesenswert ist das Interview des Herausgebers Stefan
Zahlmann mit dem amerikanischen Kultur- und
Literaturwissenschaftler Sander L. Gilman. Zwar kommen die Fragen
mitunter ein wenig zu zaghaft und einschmeichelnd daher, aber
Gilman gelingt es immer wieder, in seinen Äußerungen faszinierende
Perspektiven auf das Thema des Scheiterns in Literatur und
Gesellschaft der USA zu eröffnen. Dabei macht Herr Gilman die Angst
vor dem Scheitern als Kern der amerikanischen Identität aus.
Besonders wohltuend sind für deutsche Leser dabei wahrscheinlich
Gilmans politische Äußerungen über den Irakkrieg und vor allem den
negativen Effekt von Studiengebühren auf die Qualität der Forschung
und Lehre in den Geisteswissenschaften. Mit Blick auf die USA
formuliert er: »Es fehlt hier das inhaltliche und personelle
Potential zur gesellschaftlichen Selbsterneuerung. Neue Eliten
rekrutieren sich immer stärker nur noch aus den Vertretern sozial
wohlhabender Schichten. Die Universitäten verkommen zu
Wissensfabriken ... Die amerikanische Elite ist nach unten hin
dicht und rekrutiert sich vorwiegend aus sich selbst. Der soziale
Aufstieg durch Bildung ist gegenwärtig nicht mehr möglich. Und ich
sehe derzeit auch keine alternativen Aufstiegsmöglichkeiten. Es
gibt da eine Stagnation, an der viele Biographien scheitern.«
Lob des Scheiterns
Zuletzt seien noch die abschließenden Äußerungen der Herausgeberin
Sylka Scholz erwähnt. In ihrem Aufsatz stellt sie zunächst zwei
künstlerische Berliner Initiativen vor, die »Show des Scheiterns«
und den »Club polnischer Versager«. Diese Gruppierungen untersucht
sie im Hinblick auf die Frage, inwieweit hier alternative Wege im
Umgang mit dem Scheitern in der bürgerlichen Gesellschaft gefunden
werden. Während die Akteure der »Show des Scheiterns« sich als
»erfolgreiche Projektmacher« vermarkten, entwickeln die »polnischen
Versager« ein positives Verständnis des Scheiterns, das als
Alternative zum gesellschaftlich gewünschten Erfolgsmodell gesehen
werden kann.
Die thematische Klammer für die Beiträge des Bandes erkennt die
Herausgeberin in der Tatsache, dass zumeist männliches Scheitern
dargestellt werde. Dabei meint sie, eine »moderne westeuropäische
Männlichkeitskonstruktion« erkennen zu können, die sich dadurch
auszeichnet, dass Männer in der Gesellschaft dem rationalen, Frauen
aber dem emotionalen Bereich zugeordnet werden. Männer scheitern
zunächst im Beruf, was dann jedoch des Öfteren ein Scheitern im
privaten Bereich nach sich zieht.
Rote Fäden?
Leider scheitert Frau Scholz bei der Verwendung des
sprichwörtlichen »roten Fadens«. Sie meint nämlich, in dem von ihr
herausgegebenen Werk gleich mehrere davon gefunden zu haben. Es sei
darauf hingewiesen, dass es in jedem Werk nur einen »roten Faden«
geben kann. Die Erklärung dafür lässt sich sehr leicht durch eine
Google-Suche finden. Man gebe einfach die Stichwörter Goethe
Wahlverwandtschaften roter Faden« ein. Dass Frau Scholz gleich
mehrere Fäden gefunden haben will, bestätigt leider den Eindruck,
dass dem gesamten Band eine einheitliche Linie fehlt.
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