Rezension zu ADHS

Der Kinder- und Jugendarzt

Rezension von Dr. Stephan Heinrich Nolte

Handelt es sich bei den konzentrationsgestörten, motorisch unruhigen und impulsiven Kindern um die Folgen von Stoffwechselstörungen des Gehirns? Oder bringen die Symptome »sprachlose Innerlichkeit« zum Ausdruck? Besteht die »richtige« Therapie in der Gabe von Psychostimulantien, evt. ergänzt durch verhaltensmodifizierende Trainingsprogramme? Oder sollten Psychostimulantien nur in Ausnahmefällen verordnet werden, und stattdessen die Suche nach der Bedeutung der Symptome in einer Psychotherapie aufgenommen werden, die auf die jeweiligen Bedürfnissen des einzelnen Kindes und seiner Familie eingeht? Diesen Fragen widmet sich das vorliegende Buch und behandelt damit ein, sehr aktuelles und in Fachkreisen kontrovers diskutiertes Thema:

Zentral beim letzteren Vorgehen ist das Verständnis der sog. »Symptomsprache«. Menschen drücken innere Befindlichkeit, also Gefühle, Wünsche und Angste nur zu einem geringen Teil über Worte aus. Vielmehr zeigt sich Befindlichkeit in der Mimik, der Köperhaltung, durch Kleidung und Styling, – und durch psychosomatische Störungen und Verhaltensauffälligkeiten. So sind die unter der Diagnose ADHS zusammengefassten Symptome auch Signale an die Umgebung. »Mir geht es nicht gut. Ich bin innerlich in Aufruhr, meine Aufmerksamkeit ist abgelenkt, meine inneren Spannungen entladen sich in Hyperaktivität und Impulsivität«.

Die Empfänger dieser Signale sind vor allem die Familie des Kindes, aber auch Erzieherinnen und Lehrer, die außerfamiliär an der Erziehung der Kinder beteiligt sind. Da die Kinder »störend« auf sich aufmerksam machen, lösen sie oft Unsicherheit, Hilflosigkeit, mitunter auch Ablehnung und Wut in ihrer Umgebung aus. Der empathische Zugang zu der Innenwelt der Kinder wird durch solche Gefühle verstellt. Nicht anders geht es auch den Behandlern: Ärzte, Sozialarbeiter und auch Psychotherapeuten gehen oft innerlich zu den Kindern und ihren Eltern auf Distanz, begnügen sich mit der Verschreibung von Psychostimulanzien oder der Empfehlung von Verhaltensveränderungen.

Die Autoren des Buches sind Fachärzte für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie, klinische Psychologen oder Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten, die in 5-jähriger Zusammenarbeit der Frage nachgegangen sind: Was steckt hinter den ADHS-Symptomen? Können psychotherapeutische Hilfen für die Kinder und ihre Familien einen Verzicht auf Medikamente möglich machen? Wie kann die Therapie in Kooperation mit Kindergarten, Schule, Kinder- und Jugendarzt und eventuell involvierten Behörden koordiniert werden?

Nach einer theoretischen Grundlage für das Verständnis der Verhaltensstörungen bei ADHS wird an Hand von 10 Behandlungsberichten aufgezeigt, wie durch die Psychotherapie und die damit verbundene zunehmende Verbalisierung der Wünsche, Ängste und Konflikte die Kinder nach und nach auf störendes Verhalten verzichten können. Dies wird eindrucksvoll durch eine seinerzeit preisgekrönte Katamnesestudie belegt: Von 93 Kindern mit ADHS, die in mindestens 10 Sitzungen psychotherapeutisch behandelt worden waren, konnten alle auf die Einnahme von Psychostimulantien verzichten, – nur ein Kind benötigte nach der Therapie vorübergehend während einer familiären Krise solche Medikamente.

Das Buch schließt mit der Beschreibung von konzeptuellen Empfehlungen für die Behandlung, die sowohl das Kind, die Familie wie auch berührte Mitarbeiter im Schul- und Helfersystem mit einbezieht.

Das Buch wendet sich in einer gut verständlichen Sprache sowohl an Psychotherapeuten, Kinder- und Jugendärzte wie auch an Lehrer, Erzieher und Sozialbeiter, – und nicht zuletzt an Eltern, die auf der Suche nach Alternativen zu einer Pharmakotherapie sind. Es bietet und belegt eine erfrischende therapeutische Alternative in unserer medikalisierten Zeit, in der eine biologisch orientierte Medizin vermeintliche organische Störungen mit umstrittenen Arzneien zu bekämpfen sucht und so ganze Bevölkerungsgruppen zu chronischen Patienten macht.



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