Rezension zu Löwin im Dschungel (PDF-E-Book)
OVB. Oberbeyrische Volkszeitung
Rezension von Elvira Biebl-Neu
Blindheit als Chance
Auf das Schicksal von blinden Menschen macht der bundesweite »Tag
des weißen Stockes« am Montag aufmerksam. Wie Sehbehinderte ihren
Alltag »zwischen Stigmatisierung und Selbstwerdung« bewältigen,
schildert die Rosenheimer Autorin Eva-Maria Glofke-Schulz in ihrem
neuen Buch aus der Perspektive als Psychotherapeutin und
Blinde.
Rosenheim – Die Diagnose prägte schon die Kindheit von Eva-Maria
Glofke-Schulz. Mit vier Jahren erkrankte sie an einer nicht
heilbaren, fortschreitenden Netzhautdegeneration. Obwohl die
Krankheit erst im Alter von Mitte 20 dazu führte, dass sie nicht
mehr lesen konnte, stand die Jugendzeit unter diesem
Damoklesschwert. Reicht die Sehschärfe für den Besuch der
Regelschule, für das Studium? Fragen, die in den 60er und
70er-Jahren, als Integration behinderter Menschen noch ein
Fremdwort war, ihren Alltag prägten. Berufswunsch Musikerin? Sie
gab ihn auf.
Schneller, besser, disziplinierter sein zu müssen als Sehende, um
es genauso weit zu schaffen: Dieser Druck lastet nach Erfahrungen
von Eva-Maria Glofke-Schulz auf vielen Betroffenen. Die 49-Jährige
hat ihren Alltag im Griff, lebt mit Ehemann und Führhund in
Rosenheim. Sie führt eine psychotherapeutische Praxis im eigenen
Haus, in dem sie sich sicher bewegt. Sie schreibt Fachbücher,
reitet, singt im Musikverein. »Ich führe ein ausgefülltes Leben. Es
gibt Tage, da vergesse ich völlig, dass ich blind bin. Doch ich
habe schon viel kämpfen müssen«, bringt Eva-Maria Glofke-Schulz den
Zwiespalt .auf den Punkt. Trotz der Hilfe durch moderne Technik
gibt es nach Erfahrungen der Autorin, »viele kleine Lästigkeiten«:
Fahren im Bus oder Zug, einkaufen im Discounter, eine Ampel ohne
akustisches Signal überqueren: alles unmöglich. Am Automaten Geld
abheben: ohne Sprachchip geht es nicht.
Noch anstrengender zu überwinden sind die Barrieren in den Köpfen:
Falsch verstandenes Mitleid, Bevormundung, Diskriminierung.
Verhaltensmüster, die nach Erfahrungen von Eva-Maria Glofke-Schulz
auf, einem »Defizitdenken« basieren. Die Sehbehinderung werde als
Krankheit empfunden »Die Blindheit hat mein Leben jedoch nicht
ärmer, sondern anders gemacht«, betont die Rosenheimerin: »Ich
fühle mich nicht hilflos.« Dass eine Behinderung auch stark machen
kann, vermittelt sie als ehrenamtliche Beraterin für
Selbsthilfegruppen – und in ihrem neuesten Buch »Löwin im
Dschungel«. Es setzt sich mit der Frage auseinander, wie eine
Behinderung seelisch verarbeitet werden kann. Die Sehbehinderung
wird als Krise begriffen -und als Chance, einen das Leben
bereichernden Lernprozess in. Gang zu setzen. Sehbehinderte können
nach Uberzeugung von Eva-Maria Glofke-Schulz dabei viele positive
Beispiele geben. Das Miteinander von Behinderten und
Nichtbehinderten ist für sie deshalb ein wechselseitiger
Lernprozess.
Schwächen anerkennen und mit ihnen leben: Sehbehinderte und Blinde
setzen hier ein Zeichen – unter anderem für die Abkehr von einem
Leben auf der Überholspur. »Wir brauchen mehr Zeit für alles,
müssen uns viel mehr konzentrieren, um die Selbstverständlichkeiten
des Alltags zu erledigen. Diese Reduktion des Tempos täte
sicherlich auch vielen anderen Menschen gut«, findet Eva-Maria
Glofke-Schulz. Doch auch vielen Sehbehinderten und Blinden fällt es
nach ihren Erfahrungen schwer, sich diese Ruhe zuzugestehen. Der
Drang, das Leben trotz Behinderung perfekt zu meistern, führt nicht
selten zur totalen Erschöpfung.
In ihrer Praxis finden Betroffene bei körperlichen und seelischen
Problemen Gehör und Hilfe. Zu Eva-Marie Glofke-Schulz kommen jedoch
auch viele Nichtbehinderte mit psychischen Problemen, die auf
anderen Ursachen basieren: »Meine Patienten vergessen schnell, dass
ich nicht sehen kann.« Wie es einem Patienten geht. entnimmt sie
nicht aus der Mimik des Gegenübers, sondern aus der Stimmlage. »Mir
entgeht nichts«, stellt sie fest – was wohl auch für das private
Leben der blinden Psychotherapeutin gilt.