Rezension zu Protokolle der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung Band I-IV

Die Denke

Rezension von Dieter S. Richiger

Die Protokolle der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung erfassen minuziös das Geschehen rund um die Psychologische Mittwoch-Gesellschaft bei Prof. Sigmund Freud. Er leitete über Jahre diese psychologische Gruppe, die für alle Mitwirkenden ein förderliches Vortrags- und ein wissenschaftliches Diskussions-Forum darstellte. In dieser Forschergruppe versammelten sich Pioniere der Tiefenpsychologie in wöchentlicher Regelmäßigkeit, mit anfänglich zwanzig Personen inklusive einem besoldeten Sekretär und Protokollführer. Ihm sind letzten Endes diese wissenschaftlichen Nachweise zu verdanken.

Sich über eintausendfünfhundert Druckseiten einzuverleiben, bleibt auch einer geübten Leserin, einem geübten Leser schier aussichtslos. Denkbar aber ist es, Protokoll für Protokoll zu studieren und sich so einem kreativ-wissenschaftlichen Gruppenprozess anzunähern. Dabei werden Wissbegierige mit einem beispiellosen Einblick belohnt, der auf ein ansehnliches, psychologisches Themenspektrum fällt. Dieses umfasst rein wissenschaftstheoretische Erörterungen zur Psychoanalyse wie auch praktische Fragen aus Psychologie, Medizin, Psychosomatik, Bildung, Erziehung, Literatur, Kultur, usw.

Allwöchentlich stattfindende Gruppen-Sitzungen folgten der vorgegebenen Arbeitsordnung, die 1908 gemeinsam besprochen und neu festgelegt wurde. Diese regelte etwa die Redefreiheit, die monatlichen Referierabende zur Auswahl möglicher Vortragsthemen und die Aufnahme neuer Mitglieder. Die Vortragsabende wurden jeweils mit Mitteilungen eröffnet, gefolgt von einem Vortrag mit anschließender Diskussion.

Weshalb es Sigmund Freud zweifellos gelungen ist, die erste psychologische Gruppe über Jahre erfolgreich anzuleiten, darüber mögen sich kluge Geister weiterhin den Kopf zerbrechen. Einen Anhaltspunkt zu dieser überragenden Leistung wird in einem Schreiben von Freud erkennbar.

Rom, 22. September 1907

Geehrter Herr Kollege:

Ich mach Ihnen die Mitteilung, dass ich mich entschlossen habe, die kleine Vereinigung, die sich jeden Mittwoch abend bei mir zu treffen pflegte und der auch Sie angehörten, mit Beginn dieses Arbeitsjahres aufzulösen und sie unmittelbar darauf von neuem ins Leben zu rufen. Eine kurze Äusserung, die Sie bis um 1. Oktober dieses Jahres unserem Sekretär, Herrn Otto Rank in Wien, IX. Simondenkgasse Nr. 8, schriftlich zukommen lassen, wird hinreichen, Ihre Mitgliedschaft neu zu begründen; im Falle aber solche Äusserung bis zu dem genannten Termin ausbleibt, werden wir annehmen müssen, dass Sie nicht mehr zur Vereinigung zählen. Ich brauche wohl nicht ausdrücklich zu betonen, wie sehr ich mich mit Ihrem Wiedereintritt freuen würde.

Gestatten Sie mir, diese Ihnen wahrscheinlich überflüssig erscheinende Massregel kurz zu begründen. Es heisst nur dem natürlichen Wandel menschlicher Beziehung Rechnung tragen, wenn ......

Wenn Sie nach diesen Ausführungen an die Zweckmässigkeit einer solchen Vereinserneuerung glauben, werden Sie wohl auch damit einverstanden sein, dass dieselbe in regelmässigen Intervallen – etwa alle drei Jahre – wiederholt werde.

Ich bleibe in kollegialer Hochachtung und mit herzlichem Gruss

Ihr Dr. Freud

Alternatives Vorgehen, um sich in dieses universale Werk zu vertiefen, wäre, im Sinne eines fachwissenschaftlichen Zuganges, mittels Namen- und Sachregister möglich. Leider hat der Verlag den Nutzen digitaler Erschliessung verkannt oder ignoriert. Mit Hilfe der exakten Verschlagwortung sind Forschungsfragen rasch beantwortet. So lässt sich feststellen, zu welchem Zeitpunkt die ersten ausländischen Gäste an Vortragsabenden der kleinen Vereinigung teilnahmen.

Als erster ausländischer Gast besuchte Max Eitingon die Wiener Gruppe am 23. und 30. Januar 1907. Als Volontär am Burghölzli (Zürich) wurde er von Eugen Bleuler entsandt, um aus erster Hand Näheres über die Psychoanalyse zu erfahren. Der mitgebrachte Fragenkatalog über Ätiologie, Dynamik und Therapie der Neurosen wurde umgehend an beiden Abenden aufs ausführlichste erörtert. So gelten diese beiden Sitzungen, historisch betrachtet, als die wichtigsten überhaupt.

Aus England folgte Ernest Jones, Psychiater, Psychoanalytiker und späterer Biograph von Sigmund Freud, der Einladung zum Salzburger Kongress vom 27. April 1908 und referierte zum Thema Rationalisation in every day life. Vor ihm waren zwei weitere Zürcher angereist: Ludwig Binswanger und C. G. Jung beteiligten sich am Vortragsabend vom 6. März 1907. Ersterer unterhielt in der Folge bis zum Tode Freuds regen Kontakt und Schriftwechsel.

Und die Forscherinnen? Wann stiessen sie zur psychoanalytischen Gruppe? Als erstes weibliches Mitglied der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung wurde Margarethe Hilferding im April 1910 aufgenommen. Mit einem Vortragsthema Zur Grundlage der Mutterliebe debütierte die Ärztin im Januar 1911. Sabina Spielrein, ebenfalls Ärztin, wurde im Oktober 1911 Mitglied. Eine weitere wichtige Protagonistin der Psychoanalyse und Schülerin Freuds, Lou Andreas-Salomé, besuchte seine Vorlesungen in Wien, und sie nahm regelmässig als Gast zwischen Oktober 1912 und April 1913 an der Mittwoch-Gesellschaft teil. Weitere Persönlichkeiten kamen hinzu: Helene Deutsch und Hermine Hug-Hellmuth 1912; Eugénie Sokolnicka 1916, u. v. a.

1938 emigrierte Freud nach England. Zuvor anvertraute er die Protokolle dem Psychoanalytiker Paul Federn, dem es gelang diese wertvollen Dokumente zu retten und zu erhalten.

Mit der Neuausgabe der Protokolle der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung finden Interessierte Zugang zu einer der fortschrittlichsten Entdeckungen des 20. Jahrhunderts: Der Psychoanalyse. Diese Wissenschaft – Methode und Heilkunde – vom Unbewussten hat die Einsichten in das menschliche Seelenleben fundamental verändert und die westliche Gesellschaft und Kultur nachhaltig beeinflusst. Weiter hat sie mit grundsätzlichen Fragestellungen über Erziehung, Geschlecht, Sexualität, Kultur und Religion einen ehrgeizigen Diskurs innerhalb der modernen Psychologie angestossen.

Dem Psychosozial-Verlage fällt die Anerkennung zu, dieses historisch bedeutsame Werk, erschienen in der Buchreihe: Bibliothek der Psychoanalyse, realisiert zu haben.

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