Rezension zu Schopenhauers Stachelschweine

Psychologie heute

Rezension von Ingeborg Faulkner

Stachelschweindilemma
Schopenhauers Fabel dient Deborah Anna Luepnitz als Ausgangspunkt für Fallgeschichten aus ihrer Praxis

Wie nah lassen wir andere Menschen an uns heran, und was bestimmt diesen inneren Sensor, der bei zu viel Nähe Fluchtimpulse auslöst? Und sind wir alle Stachelschweine im Schopenhauerschen Sinne? Sie erinnern sich, diese Tiere, die auf der Suche nach der Wärme ihrer Artgenossen einander so nahe kommen, dass sie sich mit ihren Stacheln verletzen und auf Distanz gehen – dann aber alsbald wieder frieren. Und so bewegen sie sich aufeinander zu und voneinander fort in einer ewigen Pendelbewegung zwischen Nähe und Distanz – je nach Perspektive.
Die amerikanische Psychotherapeutin Deborah Anna Luepnitz erzählt in ihrem Buch fünf bewegende Fallgeschichten aus ihrem Alltag. Der Leser dringt dank der plastischen Beschreibung der einzelnen Fälle in den intimen Raum der Therapie ein, ohne dass er sich als unwillkommener Voyeur oder überheblicher Zensor fühlt. Der Autorin gelingt es, spannend und lebendig den jeweiligen therapeutischen Prozess zu beschreiben. Es sind die Beziehungen, die diese Menschen bestimmen, an denen sie leiden und in denen sie genesen. So lernen sie ihre eigenen »Stacheln« und die ihrer Partner kennen und zu akzeptieren. Und es ist die therapeutische Beziehung, in deren Schutz sowohl Nähe als auch Distanz erprobt wird.

Mit jeder Fallgeschichte betritt der Leser eine höchst individuelle Welt. Da ist das Mittelschichtspaar, dessen Ehekonflikt erst gelöst werden kann, nachdem die Partner ihre ganz persönliche Mischung aus Freiraum und Gemeinsamkeit erarbeitet haben. Die Autorin bringt es mit der Formel »Geteiltes Bett, getrennte Träume« auf einen unkonventionellen Nenner. In der familientherapeutischen Kurzbehandlung eines jungen Mädchens erleben wir einen Prozess innerer Autonomie. Dies ist vor dem jüdisch-orthodoxen Hintergrund der Familie des Mädchens besonders spannend. Mit ungeheurem Respekt für die Andersartigkeit der Werte und des Glaubens schlägt die Therapeutin eine Brücke zur Familie. Im nächsten Kapitel kann der vermeintliche Don Juan erst dann echte Nähe zulassen, nachdem er die verinnerlichte Distanz zum Vater aufgehoben hat.
Die sich über 14 Jahre erstreckende Behandlung einer obdachlosen Mutter dürfte das Meisterstück der Therapeutin sein. Die Patientin hat das Nähe-Distanz-Problem gewissermaßen per Diagnose für sich gepachtet. Erst durch die kontinuierliche therapeutische Beziehung kann sie ihr Trauma überwinden und eine sichere Bindung aufbauen, in der Nachreifung stattfindet.
Selten werden uns Fallgeschichten mit so viel Wärme, Humor und sprachlichem Können nahegebracht wie hier.

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