Rezension zu Scheitern und Biographie
Tagesspiegel
Rezension von Elke Kimmel
Allgemeine Verunsicherung
Scheitern als Chance: Soziologen und Psychologen entdecken ein
zeitgemäßes Thema
Mit dem Slogan »Scheitern als Chance« rief Christoph Schlingensief
bei den Bundestagswahlen 1998 ein in den 80er Jahren beliebtes
Motto in die Erinnerung einer breiteren Öffentlichkeit zurück.
Erfolgreich war seine als »Chance 2000« angetretene Bewegung nicht.
Der Slogan »Scheitern als Chance« aber wird heute ständig zitiert –
egal, ob von Cargolifter oder von der Love Parade die Rede ist.
Wie steht es aber tatsächlich mit der gesellschaftlichen Akzeptanz
von Gescheiterten? Welchen Wahrheitsgehalt haben Floskeln wie die,
dass Scheitern eine hinnehmbare Folge von Bewegung sei? Entwickelt
sich die deutsche Gesellschaft in die Richtung des amerikanischen
Mottos, demzufolge man »es« immer wieder schaffen kann? Geistes-
und Sozialwissenschaftler ebenso wie Psychologen sehen im Phänomen
des Scheiterns zunehmend ein attraktives Forschungsparadigma. Wer
den Umgang von Literatur oder Medien damit analysiert, erfährt viel
über die Wertvorstellungen einer Gesellschaft – offizielle wie
inoffizielle.
Anlass für das zunehmende Interesse am Scheitern gibt es angesichts
der auch in Deutschland gravierender werdenden Folgen persönlichen
Versagens genug, meint der Berliner Kulturhistoriker Stefan
Zahlmann. Eine »Erosion einer Basisgewissheit« greife um sich. Die
Überzeugung, dass es wirkliche Armut in Deutschland nicht (mehr)
gibt, schwindet; dafür nehme ein »Gefühl permanenter Unsicherheit«
in der Generation der um 1970 Geborenen überhand. Von der
Entwicklung »scheiterfähiger Lebenskonzepte« hänge die Existenz
dieser Altersklasse ab. Diese reagiere deshalb zunehmend genervt,
wenn sich Politiker weigerten, die veränderten Rahmenbedingungen
angemessen zu berücksichtigen. Als eine positive Folge der
derzeitigen Entwicklung sieht Zahlmann aber auch einen
Solidarisierungseffekt unter den Betroffenen: »Gegen die Isolation
und die Angst vor dem Scheitern hilft vor allem der Kontakt zu
anderen, die mit ähnlichen Problemen konfrontiert sind – und der
wird intensiver.«
Zahlmann macht eine Tendenz zur Amerikanisierung (»You can make it
if you really want«) in Deutschland aus, die scheinbar gebraucht
werde, um mit der zunehmenden Unsicherheit leben zu können. Aber
sieht die Gesellschaft im Scheitern wirklich eine Chance? Reinhold
Bauer, Technikhistoriker an der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg,
bezweifelt einen grundlegenden Wandel in der gesellschaftlichen
Wertung. Der behaupteten Akzeptanz stehe in Wirklichkeit die
mangelnde Offenheit entgegen, den Misserfolg eigener Projekte
zuzugeben. Bauer weiß, wovon er redet: Im Rahmen seiner
Habilitationsschrift hat er eine Reihe von Unternehmen
angeschrieben, um Einblick in deren Firmenarchive zu erhalten. Beim
Thema »gescheiterte Innovationen« ließ die Kooperationsbereitschaft
der Angefragten allerdings schlagartig nach – einige behaupteten
gar, solche hätte es bei ihnen nie gegeben. Tatsächlich ist ein
Prozentsatz von 85 Prozent fehlgeschlagener Neuentwicklungen
nachweisbar.
»Zwar reden viele davon, dass Scheitern zu jedem persönlichen
Lebenslauf und auch zu wirtschaftlichen Unternehmungen dazu gehöre.
Allerdings wird in dieser Sichtweise Scheitern vor allem als
retardierendes Moment auf dem Weg zum Erfolg akzeptiert«, sagt
Bauer.
Tatsächlich tut sich nicht nur die deutsche, sondern auch die
amerikanische Gesellschaft schwer, wirklich gescheiterte
Unternehmungen oder Personen anzunehmen: Jedes Versagen ohne das
sprichwörtliche Happy End hat weiterhin im Verborgenen
stattzufinden. Das Interesse an »Losern« ist weiterhin gering.
Eine Ausnahme bildet das medial inszenierte, wiederholte Scheitern
von alkohol- oder drogenabhängigen Schauspielern oder Models wie
Harald Juhnke oder Kate Moss. Ihr Abstieg und ihre zeitweise
Rückkehr auf die Bühne vollziehen sich vor laufenden Kameras.
Daneben werden jene als Helden unserer Zeit ausgerufen, denen nach
spektakulären ökonomischen Fehlschlägen ein Neuanfang gelingt. Ein
Beispiel: die Kinowelt-Brüder Michael und Rainer Kölmel. Deren
kometenhafter Aufstieg mit ihrer Filmfirma inklusive
Börsennotierung endete mit dem Zusammenbruch des Neuen Marktes –
vorerst. Nach dem Insolvenzverfahren im Mai 2002 begannen die
Brüder mit dem Aufbau eines neuen Unternehmens, nun allerdings ohne
die Beteiligung von Aktionären.
Besonders bitter ist dagegen individuelles oder kollektives
Scheitern, wenn zum Zeitpunkt des Handelns eigentlich alle
Parameter für die getroffene Entscheidung sprachen. Noch einmal
Bauer: »Im Nachhinein kann man zwar bei ausreichender Quellenlage
in der Regel feststellen, warum Projekte scheiterten. Die
Betroffenen selbst aber handelten unter dem Eindruck zeitbedingter
Rahmenbedingungen, die ihre Entscheidungen objektiv richtig
erschienen ließen.« Manchmal kann auch nur der Zeitpunkt für eine
Neuerung schlecht gewählt sein: Die Mikrowelle, heute aus vielen
Haushalten nicht wegzudenken, war bei ihrer Weltpremiere Ende der
vierziger Jahre eine Totalpleite, weil sie nicht den
Essgewohnheiten der potenziellen Abnehmer entsprach. Erst als die
Japaner sich der Idee annahmen und die Geräte drastisch
verkleinerten, wurde der Speisewärmer zum Verkaufsschlager.
In den verschiedenen Diskursen über das Scheitern wird außerdem
gern unterschlagen, dass dieses eine spürbare Fallhöhe erfordert.
Vielen Menschen fehlt die Voraussetzung zum Scheitern, weil sie nie
eine positive Vision besaßen. Angesichts denkbarer Alternativen und
fehlender Lebensentwürfe versagen Jugendliche heute unbemerkt –
ähnlich wie Arbeiter zu Anfang des letzten Jahrhunderts und Frauen
bis in die 1960er Jahre. Scheitern ist auch heute ein Privileg der
zumindest temporär Erfolgreichen.
Selbst wenn also der ironisch bis zynische Umgang mit dem Scheitern
derzeit en vogue ist: »Loser« will niemand sein, das endgültige,
unwiderrufliche Scheitern findet abseits der öffentlichen
Wahrnehmung statt. Fazit Bauer: »Dieses Versagen hat nichts von
seiner stigmatisierenden Wirkung verloren.«