Rezension zu Blindes Vertrauen
Psyche
Rezension von Georg R. Gfäller
Volkan legt in seinem neuen Buch noch besser als in den
vorangehenden dar, wie Psychoanalyse, politische Verantwortung und
Politik nicht nur theoretisch, sondern auch handelnd in Verbindung
gebracht werden können. Die Vermittlung von Psychoanalytikern bei
nationalen und internationalen Konflikten oder gar ihre Mitwirkung
bei der Konfliktlösung ist sinnvoll und wird nachvollziehbar
dargestellt. Volkans Ansatz besteht darin, Völker, Nationen,
Staaten und Ethnien als Großgruppen zu behandeln und nach
Mechanismen zu suchen, die solche Großgruppen auszeichnen. Sein
Konzept unterscheidet sich damit von der englischen
Großgruppenforschung, die Prozesse innerhalb von Großgruppen samt
ihrer Untergruppenbildungen usw. untersucht (vgl.: Die Großgruppe.
Hg. von L. Kreger. Stuttgart 1975). Volkan analysiert, welche
Prozesse zur Bildung von Großgruppen beitragen und wie diese
Gruppen sich dann von anderen Großgruppen abgrenzen, wie man es im
politischen und gesellschaftlichen Bereich beobachten kann.
Zentrale Fragen sind: a) Was ist die Identität der Großgruppe, wie
setzt diese sich in Abgrenzung zu anderen Großgruppen zusammen, b)
Wie können Großgruppen regredieren und dann gefährlich werden? c)
Wie können progressive Elemente von Großgruppenprozessen genutzt
und gestärkt werden, damit die einzelnen Großgruppen souverän sind,
ohne Feindbilder auskommen und so zum Frieden beitragen?
Seit den Prozessen der Globalisierung, des internationalen
Terrorismus und den nur scheinbar regionalen kriegerischen
Auseinandersetzungen sollte es für aufgeklärte Großgruppen nicht
mehr darum gehen, in strenger Weise zwischen »Wir« und »den
Anderen« zu unterscheiden, sondern durch Gesundung der
Großgruppenprozesse zu Verständigung, möglicherweise sogar
Aussöhnung zu kommen (S. 321). Praktisch und theoretisch weist
Volkan nach, daß es mit Hilfe der Psychoanalyse und der daraus
abgeleiteten Großgruppenanalyse möglich und sinnvoll ist, bei
internationalen Konflikten vermittelnd einzugreifen. Auch bei
Misserfolgen sollte man nicht aufhören, in politischen
Krisensituationen das gesamte Handwerkszeug der Psychoanalyse und
der Großgruppenanalyse einzusetzen. Das ist Volkans Credo, und dazu
liefert er eindrucksvolle Beispiele.
Das Buch ist in vier Teile gegliedert: Teil I beschäftigt sich mit
der Psychologie von Großgruppen, Teil II mit der Psychologie des
religiösen Fundamentalismus und Teil III mit Macht und
Persönlichkeit; Teil IV ist eine Fallstudie zu Albanien.
Das Vorwort beschreibt, wie es möglich ist, den Platz hinter der
Couch zu verlassen und an den politischen Verhandlungstisch zu
kommen, wenn man eine dafür geeignete Organisation aufbaut und sich
engagiert, wie der Autor es tat.
Teil I beginnt mit den »sieben Fäden der Großgruppenidentität«: 1.)
Gemeinsame greifbare Reservoire für Bilder, die mit positiven
Emotionen verbunden sind: hier erarbeitet Volkan die These, daß
schon in der trüben Kindheit Aspekte der Identität der umgebenden
Großgruppe in die Kernidentität des Kindes eingehen; die Großgruppe
bildet zudem kulturell signifikante »Bilder-Container» für die
Externalisierung unangenehmer oder nicht integrierter Selbst- und
Objektbilder aus. 2.) Gemeinsame »gute« Identifikationen: über die
Identifikation mit Anteilen der Eltern nehmen Kinder kulturelle und
gesellschaftliche Normen auf, die zur positiv gesehenen Identität
der Großgruppe gehören. 3.) Aufnahme der »schlechten« Eigenschaften
anderer: damit werden ursprünglich externalisierte Selbst- und
Objektbilder, die anderen Großgruppen und deren Mitgliedern
zugeschrieben werden, wieder zurück- und aufgenommen. 4.) Aufnahme
der inneren Welt einer (revolutionären oder transformierend
wirkenden) Führergestalt, wobei einschränkend gesagt ist, dass sich
eine Großgruppe samt ihrer Identität nur im Zustand großer
Regression gänzlich der inneren psychischen Organisation einer
Führergestalt unterwirft; einen gewissen Einfluss auf die
Großgruppenidentität haben charismatische Führer aber immer. 5.)
Gewählte Ruhmestaten und 6.) gewählte Traumata: hier ist die enge
Zusammenarbeit mit Historikern gefragt, denn die Identitätsbildung
bei Großgruppen tendiert dazu, sowohl Ruhmestaten als auch Traumata
zu wählen, die mehr mit Wünschen, Phantasien und psychischen
Abwehrmechanismen als mit wirklichkeitsgetreuen Geschichten zu tun
haben. Die Ruhmestaten dienen dem Stolz der Großgruppe, wodurch man
sich anderen überlegen wähnt; die Traumata sind schwere Kränkungen,
die das Selbstbild beeinträchtigen und im Sinne der späteren
»Notwehr« nachträgliche Genugtuung fordern. Bei der Übertragung
starker Traumata auf die nächste Generation werde das beschädigte
Selbstbild der Traumatisierten in der Kernidentität der Nachkommen
deponiert. 7.) Bildung von Symbolen, die zu eigener Autonomie
gelangen: das ist gewissermaßen das »Logo« der Großgruppe, z. B.
die Nationalfahne, die Hymne, der Davidstern usw. Wenn eine
Großgruppe unter Stress steht, könne aus dem Symbol leicht ein
Protosymbol werden, ein Symbol, das nicht mehr die Großgruppe
repräsentiere, sondern das fast körperlich die Großgruppe sei, so
dass jede Beschädigung als großer Angriff erlebt werde. So kann
Dänemark relativ ruhig auf die Verbrennung seiner Fahnen reagieren,
die schon gedemütigten arabischen Völker aber reagieren äußerst
aggressiv auf die Darstellungen des Propheten in Karikaturen.
Im weiteren Verlauf analysiert Volkan diese sieben »Fäden« der
Großgruppenidentität sowohl theoretisch als auch an praktischen
Beispielen. Im psychoanalytischen Sinne geht es ihm dabei um das
Wie der Integration sowohl »guter« als auch »böser« Objekt- und
Selbstbilder.
Das nächste Kapitel beschäftigt sich mit regressiven Prozessen von
Großgruppen, die Volkan wie folgt beschreibt: (S. 68ff.): 1.) Die
Gruppenmitglieder verlieren Identität und Souveränität. 2.) Die
Gruppe schart sich blind um die Führergestalt. 3.) Die Gruppe wird
in »gute« Segmente (Gruppenmitglieder; die der Führergestalt
gehorsam folgen) und »schlechte« Segmente (Gruppenmitglieder, die
bei den übrigen Mitgliedern den Eindruck erwecken, dass sie sich
der Führergestalt widersetzen) unterteilt. 4.) Die Gruppe
entwickelt eine strikte Unterscheidung zwischen ihren eigenen
Mitgliedern (»Wir«) und »feindlichen« (meist benachbarten) Gruppen
(»Sie«). 5.) Die der Gruppe gemeinsamen Moralvorstellungen oder
ihre gemeinsamen Überzeugungen werden zunehmend verabsolutierend
verstanden und zur Verurteilung derjenigen benutzt, die diesen als
gruppenspezifisch angesehenen Charakteristika nicht entsprechen.
Insgesamt werden 20 solcher Mechanismen genannt, mit denen sich
regressive Prozesse in Großgruppen gut beschreiben lassen.
Für progressive Entwicklungen von Großgruppen nennt Volkan 10
Punkte bzw. Symptome (S. 102f.). Wesentlich ist dabei, dass
Großgruppen in die Lage kommen, reale Gefahren von innen und außen
gut abzuwehren und dabei Selbstvertrauen und demokratische Prozesse
zu entwickeln.
Im nächsten Kapitel des ersten Teils untersucht der Autor Rituale,
die dazu dienen können, die Identität einer Großgruppe samt ihrer
Souveränität zu stärken, d. h. Rituale, die geeignet sind, Menschen
trotz aller Unterschiede miteinander zu verbinden. Ein Beispiel
dafür sind Feiertage oder Jahrestage, an denen bestimmte Ereignisse
der Großgruppe gefeiert werden. Bei der Beobachtung solcher Rituale
ist Volkan aufgefallen, dass zur Abgrenzung der
Großgruppenidentität von anderen Großgruppenidentitäten oft
geringfügigste Unterschiede größeres Gewicht haben als wirkliche
Differenzen. Je stärker eine Großgruppe regrediert, desto stärker
werden solche geringfügigen Unterschiede betont. Eine Großgruppe
definiert sich ebenso wie ein Individuum nicht nur durch das, was
sie ist, sondern vor allem durch das, was sie nicht ist (S. 122).
Hierzu eignen sich Rituale in besonderer Weise.
Im zweiten Teil des Buches wird eine Analyse des religiösen
Fundamentalismus unternommen. Volkan beschreibt Ereignisse, die
diesen Fundamentalismus im Sinne eines regressiven
Großgruppenprozesses durch Angriffe von außen fördern. Die fast
hysterische Verunglimpfung des Islam – als wären alle Moslems
potentielle Terroristen – ist ein Beispiel dafür, wie auch mächtige
Staaten wie die USA oder Israel die Feindschaft gegenüber ihrem
Land durch entsprechende Verhaltensweisen geradezu fördern. Auf
diese Weise werden regressive Großgruppenprozesse bei den
definierten »Feinden« ausgelöst, die selbst von liberalen, gut
gesinnten Führungspersonen der »feindlichen« Großgruppe kaum
aufgehalten werden können. In dem Maß, in dem sich regressive
Prozesse gegenseitig aufschaukeln, wird Deeskalation
schwieriger.
Im dritten Teil des Buches untersucht Volkan das schwierige
Verhältnis von Macht und Persönlichkeit, er analysiert den Einfluß
von Führerpersönlichkeiten und deren Psychologie auf die Gestaltung
von Großgruppenprozessen. Wenn der Druck auf eine Großgruppe von
außen zu stark wird, regrediert diese fast zwangsläufig, es werden
neue Führerpersönlichkeiten gewählt, die in dieser Situation durch
eine scheinbar klare Unterscheidung von Freund und Feind mit recht
primitiven Argumenten an die Macht kommen können. Dabei spiele die
meist starke Ausprägung narzisstischer Persönlichkeitsanteile bei
solchen Führerpersönlichkeiten eine große Rolle. Andererseits
beschreibt Volkan auch Führerpersönlichkeiten wie Mahatma Gandhi,
die fast wie Lehrer höchst progressive Großgruppenprozesse auch in
ungünstigsten Ausgangslagen bewirken könnten. An den vielen
Beispielen von Führerpersönlichkeiten zeigt sich Volkans gute
Kenntnis der Weltpolitik, die aus seiner engen Zusammenarbeit mit
Diplomaten, Politikern und hohen Beamten gespeist ist.
Der vierte und letzte Teil beschäftigt sich mit Albanien und der
Geschichte, wie sich dieses Land aus einer sehr regressiven
Position in eine progressive Entwicklung befördert hat, woran
Volkan und sein Institut mitwirken durften. Es wird eindrücklich
gezeigt, wie Kenntnisse von Großgruppenprozessen einem Land dabei
helfen können, sich aus einer Situation völliger Isolierung und
Verarmung heraus langsam zu einem modernen Staat zu entwickeln.
Auch bei diesem Prozess gab es deutliche Rückschläge, die Volkan
beschreibt. Als Ergebnis aber ist es möglich zu sagen, dass eine
breitgefächerte Erfahrung und eine fundierte Theorie von
Großgruppenprozessen politische Veränderungen im Sinne von
Demokratisierung und Industrialisierung gut unterstützen
können.
Das Buch zeugt von großer Kenntnis auch der politischen und
diplomatischen Prozesse und ist spannend zu lesen. Der weite Bogen
von der Couch bis zur aktiven Einmischung in internationale
Konfliktgeschehnisse ist nachvollziehbar beschrieben und ermutigt,
selbst in solchen Bereichen tätig zu werden. Es wird in aller
Deutlichkeit gezeigt, dass Psychoanalyse nicht nur als
Behandlungsverfahren sinnvoll ist, sondern auch zur Klärung von
Konflikten auf nationaler und internationaler Ebene beitragen kann.
Volkan ist einer der wenigen, die für diese Öffnung der
Psychoanalyse viel getan haben.
Wegen der großen Plausibilität des Buches sind kaum kritische
Einwände zu erheben. Einige kleinere Einwendungen bestehen dennoch:
1.) Volkan berücksichtigt zu wenig die Ergebnisse der analytischen
Großgruppenforschung, wie sie mit Kreeger, Pat de Maré und anderen
in London verbunden ist. Das wäre eine gute Ergänzung, besonders um
die inneren Mechanismen von Großgruppen zu erfassen. 2.) Das
Gewicht menschlicher Destruktivität ist bei der Analyse von
Großgruppenprozessen nicht ausreichend berücksichtigt. Nach meiner
Erfahrung mit analytischen Großgruppen und deren Gewaltpotential
ergibt die Berücksichtigung spezifischer
Großgruppenabwehrmechanismen (z.B. Dichotomisierung,
Legendenbildung, die schnelle Bereitschaft, jegliche Kommunikation
zu verunmöglichen, Regression Einzelner bis auf fast psychotisches
Niveau) noch weiteres Handwerkszeug, um mit Großgruppen und der
immer lauernden Gefahr der Triebentmischung bzw. der heftigen
Entladung von purer Gewalt oder auch Sexualität umzugehen. 3.) Die
»sieben Fäden der Großgruppenidentität« sind aus meiner Sicht noch
nicht gänzlich durchgearbeitet; wenn man aber Volkans Werk von
seinen ersten Schriften bis jetzt durchsieht, ist eine zunehmende
Differenzierung im Gange, die wohl schließlich dazu führen wird,
dass diese »Fäden« noch weiter präzisiert werden können, vor allem
im Hinblick auf die Wechselwirkung zwischen den »Fäden« und der
zwischen den Großgruppen.
Das ist alles, was an Kritik anzubringen ist. Zentral bleibt, dass
Volkan ein Werk geschaffen hat, das zeigt, wie die Psychoanalyse
bei der Entschärfung nationaler und internationaler Konflikte
helfen kann. Das Buch sollte Pflichtlektüre jedes angehenden und
jedes praktizierenden Psychoanalytikers sein.