Rezension zu Der stumme Schrei der Kinder
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Rezension von Anna Kaupp
Ilany Kogan zeigt in »Der stumme Schrei der Kinder« eindrucksvoll,
dass der Holocaust zwar vorbei ist, seine Folgen aber noch lange
nicht ausgestanden sind.
Die Personen, die in diesem Buch beschrieben werden, gehören alle
der zweiten Generation an; sie sind Kinder von Überlebenden des
Holocaust. Sie leben jetzt, aber ihr Verhalten wird von der
Vergangenheit ihrer Eltern geprägt. Diese Vergangenheit beeinflusst
massiv die Wahrnehmung ihrer Umwelt. Dies geschieht, ohne dass sie
dies bewusst wahrnehmen, sondern sie reagieren oftmals wie unter
Zwang.
Jedes Kapitel wird der Analyse eines anderen Schicksals
gewidmet.
Im ersten Kapitel wird dargestellt, dass Schuldgefühle und
Depressionen von der Mutter auf ihre Kinder bis zur dritten
Generation übertragen werden können.
Das zweite Kapitel widmet sich der Geschichte einer jungen Frau, in
deren Armen ihr Liebhaber stirbt. Dadurch werden Schuldgefühle
ausgelöst, die ihr Leben gefährden.
Im vierten Kapitel wird erzählt, dass sich in der Entwicklung einer
Frau das Selbst immer mehr integriert. Das wird daran deutlich,
dass ein Säugling überhaupt nicht verbal kommuniziert, ein
Kleinkind schon besser und ein Erwachsener die verbale
Kommunikation perfektioniert hat.
Das fünfte Kapitel handelt von der Analyse eines Mannes, der seinen
Vater, der ein Überlebender ist, angeschossen hat, als dieser
seinen Sohn davon abhalten möchte, sich selbst das Leben zu
nehmen.
Kapitel sechs handelt von einer Tochter, deren Mutter als Kind
überlebt hat. Diese Tochter hat große Schwierigkeiten sich zu
verlieben oder Liebe zuzulassen.
Das letzte Kapitel versucht eine Möglichkeit aufzuzeigen, einen
therapeutischen Zugang zu den Kindern der Überlebenden zu finden.
Im Gegensatz zu den anderen Kapiteln wird darin nicht von einem
persönlichen Schicksal berichtet, sondern es handelt von Kindern
der Überlebenden und der israelischen Bevölkerung allgemein und von
ihrer Konfrontation mit einer lebensbedrohlichen Situation. Dabei
wird die psychoanalytische Behandlung während des Golfkrieges
betrachtet.
Ich finde, das Buch ist sehr gut und verständlich geschrieben. Es
wurde mir erst beim Lesen bewusst, dass nicht nur die Überlebenden
mit ihren Erinnerungen klarkommen müssen, sondern auch die Kinder
mit der Vergangenheit ihrer Eltern. Es wird sehr deutlich gezeigt,
dass die Auseinandersetzung mit diesem Thema noch lange nicht
vorbei ist, obwohl es immer weniger Menschen gibt, die zu dieser
Zeit gelebt haben. Die Folgen sind viel langfristiger, als viele
vielleicht denken.
Ilany Kogan ist eine israelische Psychoanalytikerin, die sehr
eindrucksvoll beschreiben kann, wie es in verschiedenen Schritten
den Patienten gelingt, die Geschichte ihrer Eltern zu begreifen und
dadurch für sich selbst ein unbelasteteres Leben zu führen. Manche
Textpassagen wurden im Interview-Stil geschrieben. Das verleiht dem
Text Lebendigkeit. Das Nachwort, von Kogan selbst verfasst, widmet
sich noch einmal dem Prozess der Traumaübermittlung. Im nächsten
Teil werden die Phasen dargestellt, mit denen die Kinder zu einem
zusammenhängenden Selbst mit Hilfe der Therapie finden können.
Ein sehr gutes Buch, dass nachvollziehbar und in verständlicher
Sprache geschrieben ist. Es loht sich zu lesen, da dieses Thema
alle direkt oder indirekt betrifft.