Rezension zu Scheitern und Biographie
Berliner Zeitung
Rezension von Steffen Martus
Mit Erfolg versagen
Ein Sammelband untersucht das Scheitern in Biografien – und wie man
es nutzen kann
Wenn man bei Google das Wort »Scheitern«
eingibt, erhält man 879 000 Ergebnisse. Sucht man nach »Erfolg«,
sind das ziemlich genau 4 Millionen Einträge mehr. Offensichtlich
ist der Erfolg als Thema beliebter als das Scheitern. Was aber,
wenn das Scheitern faktisch wahrscheinlicher ist als der Erfolg und
dieser gleichwohl als Normalität behandelt wird? Bei den
Erfolgreichen erzeugt dieses Missverhältnis eine ständig steigende
Angst vor dem Scheitern; und die Scheiternden haben angesichts der
Schieflage kein Modell zur Verfügung, ihr Scheitern produktiv zu
machen. Eben dies wollen die Soziologin Sylka Scholz und der
Historiker Stefan Zahlmann ändern. Sie plädieren für eine neue
»Kultur des Scheiterns« und fordern »scheiterfähige«
Biografiekonzepte – schon daran sieht man, dass die »Logik des
Erfolgs« weiterhin dominiert, auch beim »Lob des Scheiterns«.
Die Beiträge des von ihnen herausgegebenen Bandes zeigen diese
»Vielfalt des Scheiterns« – von aufgeklärten Selbstmördern über das
Scheitern erfolgreicher Berufsbiografien im Privatleben, die
gescheiterte Zusammenarbeit von Ost und West, die militärischen und
politischen Mentalitäten der Unfähigkeit zum Scheitern bis hin zum
Scheitern von Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen.
Zum Sinnbild des scheiternden Bürgers wird Karl Marx im Beitrag von
Jürgen Herres und Regina Roth: Nicht nur, dass Marx beim Verfassen
des »Kapitals«, an dem er geradezu manisch »gearbeitet« hat,
beinahe versagt hätte, auch sein Lebensplan, sich mit der Kritik
des Kapitalismus finanziell zu salvieren und seine bürgerliche
Existenz zu sichern, scheiterte grandios – das Opus Magnum floppte
wider alles Erwarten seines Autors auf dem Buchmarkt. Dies erklärt,
warum Marx, der in seinen Schriften und Briefen mehr als 3000
Krisen- und Revolutionsprognosen abgegeben hat, ärgerlich
reagierte, wenn man ihn auf Fehlvorhersagen ansprach.
Für unsere Kultur des Scheiterns bildet sich seit dem 18.
Jahrhundert ein Muster heraus: Seitdem ist das Scheitern nicht
allein vom Scheiternden selbst verschuldet, er muss die Folgelasten
auch selbst tragen. Im 19. Jahrhundert kommt dann unter den
Bedingungen der Industrialisierung, der Urbanisierung und der
Verbürgerlichung die Fixierung auf die Erwerbsarbeit hinzu.
Bei allen Unterschieden in Ost und West nach 1945 hat sich an der
hypnotischen Wirkung dieses Erfolgskonzepts zunächst wenig
geändert. Entsprechend schwierig blieb es, Fehlschläge in ein
erfolgreiches Leben zu integrieren.
Im Zentrum des Sammelbandes steht das Scheitern in Deutschland oder
von Deutschen. Geht man von unterschiedlichen Kulturen des
Scheiterns aus, ist dies konsequent. Die USA – das zeigt das
Interview mit dem Kulturhistoriker Sander L. Gilman – knüpfen zwar
an aufklärerische Tendenzen Europas an, wenn es um die
Individualisierung des Misserfolgs geht Aber die Bedingungen sind
dort verschärft, indem das Scheitern »mit dem Makel der Sünde«
behaftet ist.
In jüngerer Zeit scheint sich die Kultur des Scheiterns zu ändern.
Das Modell der Patchworkbiografie unterläuft das Leitbild einer
ungebrochenen Erwerbsbiografie. Scheitern kann nun situativ
eingeordnet und als je individueller Anlass für eine
Neuorientierung verbucht werden. Es unterbricht nicht mehr den
Erfolg, sondern findet seine Nische in einem selbst schon brüchig
organisierten Selbstbild.
Am Erfolg dieses Modells, das auf die Produktivität des Scheiterns
setzt, könnte man freilich angesichts einer überalternden
Gesellschaft von Langzeitarbeitslosen zweifeln. Die Vorstellung
einer kreativen Lebensabschnittsbiografie speist sich aus den
Versprechungen einer Medienwelt an junge Konsumenten, die
Multioptionalität und Mobilität zum Paradigma erhebt – das
fotografierende Fernsehhandy mit mp3-Archiv ist die technische
Verkörperung dieses Paradigmas, und bekanntlich steigen bei
zunehmender Funktionsvielfalt die Verbrauchskosten.
Zudem zeigt Sylka Scholz im abschließenden Beitrag, dass sich an
zweierlei nichts geändert hat: daran, dass Scheitern und Erfolg
nach wie vor eine öffentliche Angelegenheit und damit eine Sache
von Männern ist, und daran, dass im Zentrum der Definition von
Erfolg und Scheitern noch immer die Erwerbsarbeit steht. Scholz
zeigt dies an Paradepferden der neuen Kultur des Scheiterns, an der
»Show des Scheiterns«, die in jeder Veranstaltung eine Reihe
Versager auf die Bühne holt und ihr Scheitern ausbreitet, und am
»Club der Polnischen Versager«, einer Assoziation polnischer
Künstler, die dem westlichen Erfolgsmodell den Kampf angesagt
haben. Beide sind Gewächse Berlins und damit der Hauptstadt des
Scheiterns, beide wollen Scheitern zu einem Teil des Lebens machen,
und beide treten als Vereinigung von Projektmachern auf, die Erfolg
in der Erwerbsarbeit suchen – »das private Leben, also
Liebesbeziehungen, Familie, das Zusammenleben mit Kindern werden
von beiden Projekten kaum angesprochen«.
In der »erfolgreichen« Gestaltung dieses Bereichs dürfte jedoch die
Zukunft einer »Risikogesellschaft« liegen, für die das berufliche
Scheitern wahrscheinlich ist. Für den »Bürger ohne Arbeit« ergibt
sich weniger das Problem der Verwaltung von Erwerbsarbeit, als
vielmehr der Organisation von Freizeit. Hier können sich die
erfolgreich Gescheiterten dann etwa mit Kunst und Literatur
beschäftigen, der einzigen Domäne des Scheiterns, die das Scheitern
an sich wertschätzt. Mit Samuel Beckett gesagt: »Ever tried, ever
failed. / No matter / try again, fail again, / fail better.«