Rezension zu Der stumme Schrei der Kinder
www.uni-online.de
Rezension von Lisa Flach
2009 erschien im Psychosozial-Verlag die zweite Neuausgabe des
Buches »Der stumme Schrei der Kinder – Die zweite Generation der
Holocaust-Opfer« von Ilany Kogan in der Übersetzung von Max Looser.
Das im Original 1995 unter dem Titel »The Cry of Mute Children. A
Psychoanalytic Perspective of the Second Generation of the
Holocaust« auf Englisch erschienene Werk ist Teil der Buchreihe
»Bibliothek der Psychoanalyse« des Psychosozial-Verlags.
Die Autorin, Ilany Kogan, ist israelische Psychoanalytikerin und
klinische Psychologin. Sie hat eine eigene Praxis und lehrt an der
Universität von Tel Aviv. Das vorliegende Buch beruht auf ihrer
klinischen Erfahrung.
Das Interesse der Autorin an der Untersuchung der Söhne und Töchter
von Holocaustüberlebenden ergab sich aus ihrer Freundschaft und
Zusammenarbeit mit dem verstorbenen Professor Hillel Klein, der
sein ganzes Leben der Erforschung des Holocaust widmete.
Zu dem Thema gibt es bereits Literatur, wenn auch nur recht wenig.
Das vorliegende Buch leistet einen Beitrag über die vorhandene
Literatur hinaus, indem es eine ausführliche Beschreibung der
Analysen von Kindern Überlebender und der wiederkehrenden Probleme
und Konflikte in ihrem Leben anschaulich darstellt.
Ilany Kogan beschreibt mit außerordentlichem Einfühlungsvermögen
und psychoanalytischer Kompetenz Schicksale der Angehörigen der
zweiten Generation von Überlebenden des Holocaust.
Besonders an dem vorliegenden Buch ist, dass es sich ausschließlich
mit den psychoanalytischen Aspekten der Arbeit mit den Kindern
befasst. Es liefert eine ausführliche Beschreibung des Materials
aus acht Analysen.
Die Falldarstellungen werden in einem kurzen, allgemeinen Teil
eingeleitet. Anschließend wird die Analyse, aufgeteilt in ihre
verschieden Phasen, dargestellt. Jeder der vorgestellten Fälle wird
mit einer kurzen Diskussion abgeschlossen.
Die Autorin gibt neben Beschreibungen und Hintergrundinformationen
zu den Patienten auch Dialoge aus der Analyse wortgetreu wieder.
Diese wörtlichen Dialoge veranschaulichen die Arbeitsweise.
Fachbegriffe werden in Fußnoten erklärt, so dass die Darstellung
auch für Nicht-Psychoanalytiker nachvollziehbar ist.
Im Nachwort stellt die Autorin noch einmal theoretische
Hintergründe zu den zwei für das Buch typischen Hauptthemen dar.
Diese beiden Hauptthemen sind zum einen die Wechselwirkung zwischen
Phantasie und Realität im Leben von Patienten der zweiten
Generation und zum anderen das Bemühen um den Aufbau eines neuen,
selbständigen und stimmigeren Selbst mit Hilfe der therapeutischen
Beziehung.
Zum Inhalt:
Die vorliegenden Fallschilderungen geben einen Einblick, welche
verheerenden Folgen der Holocaust langfristig zeigt, »wie Kinder
unbewusst das Trauma der Eltern erfassten, wie sie die Folgen der
vernichtenden Gewalt, die unbewältigbaren Verluste, das durch
Schweigen erzeugte Geheimnis in ihrer Fantasie bearbeiten und diese
unbewusst ausleben« (Dr. Werner Bohleber, Buchumschlag).
Untersuchungen anderer Psychologen wiesen schon früh darauf hin,
dass die Nachkommen von Überlebenden im Hinblick auf die Entstehung
emotionaler Probleme besonders gefährdet waren. Häufig wurde die
Kinder von den Eltern unbewusst wie ein Müllcontainer für ihr Leid
und ihre Probleme benutzt. Daraus resultierend gehorcht das
Verhalten dieser Kinder einem Zwang, der ihnen nicht bewusst
ist.
»Indem Ilany Kogan den Patienten jene Teile ihres Selbst, die von
den Bruchstücken ihrer Elterngeschichte durchsetzt waren und die
sie besetzt gehalten hatten, in einer schlüssigeren Form
zurückgibt, ermöglicht sie es ihnen, [anders mit der Vergangenheit
ihrer Eltern in ihrem Leben umzugehen] [...]. Die Toten können
betrauert werden, ohne daß ihre Todeskämpfe nachvollzogen werden
müssen. Das vormals von den Eltern absorbierte Selbst findet nun
seine Autonomie. An die Stelle einer tödlichen Wiederholung tritt
der Weg ins Leben« (Janine Chasseguet-Smirgel, Vorwort, S. 13).
Das Buch bietet insgesamt einen beeindruckenden emotionalen
Einblick in das Thema und in die Arbeitsweise der
Psychoanalytikerin Ilany Kogan. Durch die Falldarstellungen ist es
eher praktisch orientiert, aber Nachwort und Einleitung
gewährleisten auch eine theoretische Unterfütterung des Themas, die
dem Leser Elemente der Falldarstellungen erklären und verständlich
machen.