Rezension zu Scheitern und Biographie
Systhema - Online-Journal für systhemische Entwicklungen
Rezension von Corina Ahlers
Scheitern ist bis jetzt kein Thema für Systemische TherapeutInnen
gewesen. Deren Techniken verführen biografische Identitäten zur
positiven Wende, unter Systemikern als ressourcen- und
lösungsorientierte, zukunfts- und zwecksorientierte Arbeitshaltung«
bekannt. Gerade deshalb ist es für uns PraktikerInnen äußerst
lohnenswert, die hier dargestellten Fallgeschichten unter dem
Aspekt zu lesen, dass Scheitern nicht nur negativ, Erfolg nicht nur
positiv sein kann. Die meisten Menschen, die TherapeutInnen
aufsuchen, haben zumindest das Gefühl, in Teilbereichen ihres
Lebens vorläufig gescheitert zu sein. Im ersten Teil dieses Bandes
über Arbeit und Leistung wird an Hand von Beispielen aus
verschiedenen Epochen gezeigt, dass die Deutungen des Scheiterns
nicht autonom sind, wie im therapeutischen Credo so häufig
transportiert wird, sondern gesellschaftlich determiniert.
Konnotationen des Scheiterns sind auch heute noch maximal von einem
Männlichkeitskonstrukt des beruflichen Erfolges geleitet, von dem
sich auch die in diesem Band dargestellten zwei Frauengeschichten
nicht abhalten lassen: Laut Gert Dressel und Nikola Langreiter
erzählen Wissenschaftlerinnen die Unwegsamkeiten ihrer
wissenschaftlichen Karriere zwar anders, vielleicht sogar offener
als Männer, dennoch können sie sich vom geforderten männlichen
Erfolgskonstrukt nicht abwenden. Ähnlich geht es Claudia Drekes
Pseudomigrantin«, die als Politikerin am ostdeutschen
Verwaltungskontext scheitert und deshalb in den Westen
zurückkehrt.
Während sich im Beitrag von Andreas Bähr der im 18. Jahrhundert
versagende Schriftsteller Gotthold Friedrich Stäudlin das Leben
nimmt, weil er seine Existenz nicht sichern kann und seiner Familie
nicht zu Last fallen will, ist Karl Marx – einer der bedeutendsten
Theoretiker des 19 Jahrhunderts – in der Analyse von Regina Roth
und Jürgen Herres durchgehend zerknirscht, weil er sich mit seinem
anspruchsvollen Werk den Lebensunterhalt und die Lebensqualität,
die er für sich und seine Familie beansprucht, nicht finanzieren
kann und diesbezüglich auf Friedrich Engels angewiesen ist. Dagegen
schafft es der Bildungsbürger Sebastian Hensel – in der Analyse von
Martina Kessel -, eine Erfolgsgeschichte mit mehreren beruflichen
Brüchen zu leben, diese wird jedoch von den Enkeln
familienbiografisch nicht so positiv verarbeitet wie es der
Großvater wohl gerne gehabt hätte.
Besonders interessant für TherapeutInnen ist der Beitrag von Renate
Liebold über Interviews mit Managern, die durchgehend ihre Position
in der Familie als absent bis ausgeschlossen beschreiben. Ein
einziger alternder Manager besinnt sich: Er hätte im Rückblick
gerne mehr von seinen Kindern gehabt bzw. auch seine Position in
der Familie anders wahrgenommen. Bei erfolgreichen
Führungspositionen wird die Rollenaufteilung der Geschlechter
unausweichlich, die besondere Schwierigkeit ist es aber,
gleichzeitig den zeitgemäßen Diskurs um die partnerschaftliche
Rollenaufteilung zu führen, die nicht stattfindet. Die Kinder sind
hier fast immer auf der Seite der Mutter und sehr weit weg vom
Vater.
Der zweite Teil des Sammelbandes bringt unter dem Titel Religion,
Nation, Generation« einige, meist wenig zusammenhängende Studien,
welche eher historisch gehalten und für TherapeutInnen weniger
relevant sind. Es geht einerseits um das Männlichkeitskonstrukt und
dessen Scheitern im zweiten Weltkrieg. Ein Interview mit Sander L.
Gilman zum Thema Scheitern in Literatur und Kultur der USA im Stil
eines Zeitungsartikels dient wohl eher der Aufwertung des
Sammelbandes.
Der letzte Teil läuft unter dem Titel Lob des Scheiterns,
Einsichten und Ausblicke« und ist ebenfalls eher locker verknüpft.
Utz Jeggle sieht im Scheitern einen Schritt zur persönlichen
Trennungskompetenz, Erhard Meueler interpretiert an Hand seiner
Karriere in der Erwachsenenbildung Kreativität als eine mögliche
konstruktive Umgangsform mit Scheitern, Christian Klein analysiert
Lebens- und Gesellschaftskonzepte rund ums Scheitern in Kästners
Roman Fabian« und Regeners Roman Herr Lehmann«.
Zuletzt vergleicht Sylka Scholz eine TV Show (Show des Scheiterns
2002) in Berlin mit einem Künstlerclub (Club der polnischen
Versager 2002) und kommt zu dem Schluss, dass dessen Gründer nicht
nur – wie schon die Show des Scheiterns – das hegemoniale
Männlichkeitsmodell implizit kritisieren, sondern darüber hinaus
Scheitern als neue Lebensalternative identitätsbildend
konstruieren: Im quasi familiären Zusammenhalt der Mitglieder
dieses Clubs« werden im Unterlaufen des Erfolgsprinzips Versagen
und Selbstzweifel zum konstitutiven Moment eines alternativen
Lebensmodells aufgewertet, das in komplexer Weise im Zusammenhang
zu modernen und postmodernen philosophischen und künstlerischen
Konzepten steht.
Abschließend versucht die Mitherausgeberin des Bandes, noch einmal
den roten Faden zwischen den Beiträgen zu spinnen, was allerdings
nicht viel mehr wird als die Forderung nach weiterer
wissenschaftlicher Bearbeitung des Scheiterns, z.B. gender- oder
milieuspezifisch. Die meisten existierenden Untersuchungen widmen
sich nämlich der männlichen Erfolgskarriere der Mittel- und
Oberschicht.
Insgesamt eine Sammlung von unterschiedlich guten Beiträgen zum
Thema Scheitern und dessen Deutung in unserer Gesellschaft«, für
Praktiker schon aus dem Grund lesenswert, weil es einen erweiterten
Fokus zur individualisierten therapeutischen Interpretation des
Scheiterns bringt, welche uns wieder einmal zeigt, dass Erzählungen
oft in ihrer Mehrdeutigkeit gewinnen, und dass Scheitern nicht nur
persönlich, sondern auch gesellschaftstheoretisch umgedeutet werden
kann.
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