Rezension zu Psychotherapie im Alter
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Rezension von Prof. Dr. habil. Gisela Thiele
Zielsetzung und Zielgruppen
Die Publikation »Psychotherapie im Alter« ist der Problematik der
psychotherapeutischen Diagnostik, der Angst und posttraumatischen
Störungen, Gruppentherapien und der Veränderung von Beziehungen und
psychischen Störungen im Alter verpflichtet. Es sind Themen, die
zentrale Aspekte des Alterns tangieren und infolgedessen besondere
Relevanz für die Altersgruppe der ab 60-Jährigen haben. Es ist ein
Werk, in dem verschiedene AutorInnen ihre spezifischen Erfahrungen
mit psychotherapeutischen Handlungsansätzen mit älteren Menschen
wiedergeben. Der Herausgeber, Dr. Johannes Kipp, Facharzt für
Neurologie, Psychiatrie und psychotherapeutische Medizin,
Psychoanalytiker und Gruppenlehranalytiker, ist Direktor des
Ludwig-Noll-Krankenhauses, der Klinik für Psychiatrie und
Psychotherapie sowie der Klinik für psychosomatische Medizin im
Klinikum Kassel.
Aufbau
Das Buch ist neben einem »Geleitwort« von Hartmut Radebold und
einer Einleitung in vier Kapitel unterschiedlicher Länge
untergliedert. Die aufgenommenen Aufsätze und Fallschilderungen
sind in den ersten beiden Jahrgängen der 2004 gegründeten
Zeitschrift »Psychotherapie im Alter« publiziert worden, wobei die
Auswahl unter dem Gesichtspunkt der Anwendungsorientierung
erfolgte.
1. Einleitung
In der »Einleitung«, als erstes Kapitel gegliedert, wird das
Spezifische an einer Psychotherapie mit älteren Menschen
herausgearbeitet. So seien die TherapeutInnen in der Regel jünger
als ihre PatientInnen, wodurch eigene Konflikte mobilisiert werden
könnten und es würden besondere Übertragungs- und
Gegenübertragungsbeziehungen bestehen (S. 13ff).
2. »Psychotherapeutische Diagnostik?«
Das zweite Kapitel ist mit dem Titel überschrieben
»Psychotherapeutische Diagnostik?". Zunächst wird in die
diagnostische Vorgehensweise mit älteren Patienten eingeführt. Der
Rolle des Körpers als intervenierender Größe käme dabei eine
besondere Rolle zu und sowohl die Geschwindigkeit als auch der
Inhalt des Gesprächs sollte vom älteren Menschen selbst bestimmt
werden.
Es schließt sich ein erstes Unterkapitel von Eike Hinze verfasst,
an »Das Erstgespräch mit älteren Patienten in der
psychoanalytischen Praxis«. Das Erstgespräch nehme eine zentrale
Stellung ein, denn es würde der Diagnostik, der Indikationsstellung
dienen und erfülle darüber hinaus bereits therapeutische Funktionen
(S. 19ff). Anhand von Fallvignetten werden im Folgenden mehrere
Erstgespräche aufgeführt, um daran die einzelnen Aspekte
verdeutlichen zu können.
Ein zweites Unterkapitel von Johannes Kemper widmet sich der
»Verhaltenstherapeutischen Erstuntersuchung älterer Patienten in
der psychotherapeutischen Praxis«. Er beschreibt die
Herangehensweise bei einer Verhaltenstherapie Alternder und
erläutert neben dem inneren Setting, die Durchführung und das
methodische Vorgehen (S. 34ff). Kemper stellt im Ausblick heraus,
dass die Verhaltenstherapie als handlungsorientierter Ansatz
älteren Patienten auch wegen der zeitlichen Begrenzung entgegen
käme.
Von Esther Buck und Johannes Kipp ist ein weiteres Unterkapitel
aufgeführt »Das Aufnahmegespräch in der Klinik für Psychiatrie und
Psychotherapie«. Die Organisation einer Aufnahme würde sich an
einer klinikinternen Leitlinie orientieren und folge einem
bestimmten Procedere. Es folgt ein Erstgespräch anhand eines
Fallbeispiels, in dem es um eine hinter einem körperlichen Leiden
(Stuhlgangproblem) versteckte Altersdepression geht, die nach einem
freien Intervall nach Verlusten typischerweise auftreten könne.
»Womit habe ich das verdient? Pflegerische Aufnahme von älteren
psychisch kranken Patienten« von Sabine Wachs und Johannes Kipp
widmet sich der stationären psychiatrischen Pflege Älterer (S. 53 –
62).
Ein fünftes Unterkapitel »Müssen Sie das wirklich alles wissen? –
Erstgespräch on der Gerontopsychosomatik« von Meinold Peters,
Sigrid Hübner und Caroline Manaf wendet sich dem Erstgespräch in
einer neurologischen Klinik zu einem stationären Aufenthalt zu. Bei
einer Patientin, die über große Unsicherheiten beim Gehen
berichtete, wird mit einer Musiktherapie erreicht, dass sich sowohl
die Gehfähigkeit als auch die Körperhaltung in relativ kurzer Zeit
verbesserten.
3. »Angst und psychotraumatische Störungen«
Im dritten Kapitel »Angst und posttraumatische Störungen« wird kurz
in die Formen der Angst und deren Entstehung eingeführt (S. 71-73).
Danach folgt ein Unterkapitel von Hartmut Radebold »Die
Vergangenheit ist unbewusst zeitlos – eine psychoanalytische
Fokaltherapie einer 80-Jährigen mit Angstzuständen und
Panikattacken«. Einer Frau, deren Sehschwierigkeiten sie sehr
belasten und sie in Angstzustände versetzen, konnte durch eine so
genannte Fokaltherapie, die auf 20 Stunden beschränkt war, geholfen
werden, unabhängig vom einzigen Sohn angstfrei zu leben.
Jutta Stahl und Ursula Schreiter Gasser sind die Autoren des
Unterkapitels »Verhaltenstherapeutische Angstbehandlung in der
Tagesklinik«. Sie behaupten, dass die Tagesklinik für die
Multidimensionalität psychischer Probleme von Alterspatienten ein
ideales Setting zur Behandlung darstelle (S. 81ff). Es wird mit
einem Fallbeispiel einer 73-Jährigen gearbeitet, bei der ihr
Hausarzt eine »paranoide Präpsychose und Panikattacken im Rahmen
einer depressiven Entwicklung« diagnostiziert hatte. Diese hatte
seit zwei Jahren ihre Wohnung nicht mehr ohne Begleitung verlassen
können und entwickelte deshalb einen Leidensdruck, der sie unter
Ermunterung ihrer beiden Töchter in die psychiatrisch orientierte
Tagesklinik führte. Die Behandlung beruhte auf zwei Wegen:
einerseits der Gruppentherapie und zum anderen auf einer ambulanten
Einzeltherapie, die mit zwei Expositionsübungen durch die
Therapeutin begleitet, schnell zum Erfolg führte, indem die
Patientin die Angst, mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu fahren,
schnell überwinden und in ein selbständiges Leben zurückführen
konnte.
Unterkapitel drei zu »Angstanfälle im Alter – ein Durchbruch alter
Traumata« wurde von den Autoren Johannes Kipp und Christoph Herda
verfasst (S. 95ff). Sie gehen von plötzlich auftretenden Zuständen
der Angst und Unruhe im Alter aus und schließen daraus, dass durch
reduzierte Copingstrategien frühere Traumata zu psychischen
Störungen führen könnten, die sich sehr häufig in körperlichen
Beschwerden ausdrücken. Psychische und psychosomatische Symptome
könnten auf einen neurotischen Kernkonflikt beruhen, der entweder
auf eine Traumatisierung bzw. eine Traumareaktivierung oder auf
einen Aktualkonflikt zurückgeführt werden könne.
Mit »Erzähltechniken bei der Therapie Posttraumatischer
Belastungsstörungen (PTPS) bei älteren Menschen: Life-Review und
Testimony« ist das Unterkapitel von Andreas Maerkcker und Julia
Müller überschrieben. Bei beiden Techniken stehe das Erzählen des
Traumas im Vordergrund, ohne dass sinnliche bzw. sensorische
Erinnerungen provoziert würden, was älteren Patienten an diesen
Methoden schätzen könnten (S. 110).
»Spätfolgen von Traumatisierungen – Möglichkeiten und Erfordernisse
stationärer Therapie« von Luise Reddemann werden in einem weiteren
Kapitel thematisiert. Die Autorin plädiert in ihrem Fazit für die
Notwendigkeit, Kenntnisse und Erfahrungen mit traumatisierten alten
Menschen in die psychotherapeutische Weiterbildung aufzunehmen und
meint »die deutsche Unfähigkeit zu Trauern habe mit einer
kollektiven Dissoziation zu tun« (S. 118).
Ein weiteres Unterkapitel beschäftigt sich mit der »Behandlung
einer Posttraumatischen Belastungsstörung bei einer 71-jährigen
Patientin nach einem Verkehrsunfall«, das von Markus Burgner und
Gereon Heuft ausgearbeitet wurde. Zunächst werden die Symptome
einer PTBS beschrieben, ein Fallbeispiel angeführt, um daran das
Vorgehen und die Ziele heraus arbeiten zu können. Angewandt wurde
in diesem Fall eine traumaspezifische Behandlung mit der so
genannten Technik der EMDR, bei der durch rhythmische horizontale
Augenbewegungen der Therapeutin die Weiterverarbeitung der
traumatischen Inhalte erreicht werden soll.
4. »Gruppentherapien«
Das vierte Kapitel mit weiteren sieben Unterkapiteln und einer
Länge von ca. 70 Seiten Umfang widmet sich den »Gruppentherapien«.
In einer Einführung werden zunächst die Argumente für und gegen die
Anwendung von Gruppentherapien im Alter erörtert. Von Bertram von
der Stein wird dann ein thematisches Kapitel zu »Analytisch
orientierte Gruppenpsychotherapie bei älteren Patienten
multikultureller Herkunft« angeschlossen (S. 129ff). Er hat die
Erfahrungen mit einer solchen ethnischen, alters- und bildungsmäßig
differenzierten Gruppe beschrieben und kommt zum Fazit, dass die
Gruppe als Schutz und Grenze erlebt werden könne, wo auch bisher
gemiedene Tabuthemen angesprochen werden könnten.
Ulrich Schmid-Furstoss schließt ein Unterkapitel zum Thema
»Problemadaptierte Gruppenpsychotherapie im teilstationären
Setting« an. Auch diese Methode habe sich als geeignet für ältere
Patienten erwiesen, insbesondere bei wechselnder Klientel in der
tagesklinischen Behandlung.
Fortgefahren wird in der Publikation mit der Thematik
»Professionell unterstützte Selbsthilfegruppe – Erfahrungen aus
einem gemeindepsychiatrisschen Projekt mit psychiatrieerfahrenden
Älteren« von Ulrich Wichmann-Jentzen. Hier wird eine
Selbsthilfegruppe vorgestellt, der vor allem allein lebende
Patienten mit chronischen endogenen Psychosen und depressiv
Erkrankte angehören und die versuchen, ihre regressiven Wünsche
weniger mit stationärer Versorgung als vielmehr mit Eigeninitiative
zu befriedigen (S. 153ff).
Ein sehr interessantes viertes Kapitel schließt sich an »Erinnerung
haben oder sein? Menschen mit Demenz – Menschen mit Musik« von
Dorothea Muthesius und Jan-Peter Sonntag verfasst. Die Autoren
begründen die Randständigkeit der Psychotherapie bei Menschen mit
Demenz mit der sprachlich reflexiven Kompetenz, die bei Dementen
kaum mehr möglich scheint und versuchen deshalb mittels basaler
Musiktherapie Annäherung an diese Patienten zu erreichen.
Eine weitere Methode wird durch Barbara Narr vorgestellt »Kunst als
Ort der Erinnerung – Beispiele aus der Kunsttherapie mit
Pflegeheimbewohnern«. Sie geht davon aus, dass das Erinnern im
Pflegeheim das tragende Element jeder Kommunikation sei. Diese sei
»…in Gesichtern, Gebärden, in Bewegungen und Handlungen
gespeichert« (S. 175).
Mit »Meine Kindheit im Krieg und auf der Flucht – Gesprächskreis
mit 60- bis 70-Jährigen« ist das folgende Unterkapitel von Gertraut
Schlesinger-Kipp überschrieben, das hier etwas deplaziert
erscheint, weil es die Ausführungen zu Patienten mit Demenz
unterbricht. Sie resümiert, dass es möglich wäre, thematisch
zentrierte Gruppen anzubieten, die Entlastung geben könnten und zur
Selbsthilfe anregten.
Mit »Gewohnheit, Ritual und Zwang im Leben Demenzkranker« setzt Jan
Wojnar die Thematik zu Menschen mit Demenz fort. Er betont, dass
die unmittelbare Vergangenheit bereits nach wenigen Sekunden
vergessen und deshalb das Erkennen kausaler Zusammenhänge zwischen
den einzelnen Ereignissen erschwert sei, so dass das Leben in
Augenblicke zerfalle. Ein positives Resümee wagt Wojnar, indem er
feststellt: »Das Leben im Augenblick befreit von Sorgen um die
Zukunft, von Angst vor dem Sterben, von Verpflichtungen gegenüber
anderen Menschen und von Leistungsdruck« (S. 197).
5. »Veränderung von Beziehungen und psychischen Störungen im
Alter«
Das fünfte und damit letzte Kapitel »Veränderung von Beziehungen
und psychischen Störungen im Alter« setzt sich mit
partnerschaftlichen und sexuellen Problemen älterer Menschen
auseinander. Ein erstes Unterkapitel zu »Seyualität, Begehren und
die Sehnsucht nach Berührung im Alter« entstammt der klinischen
Arbeit des Autors Burkhard Brosig, der als Konsiliararzt im
Gießener Universitätsklinikum tätig ist. Nach kurzen theoretischen
Einführungen, in der er die »…Haut als psychische Hülle…« (S. 203)
bezeichnet, weist er im Kontext einer Fallgeschichte einer
79-jährigen Frau mit einer akut aufgetretenen Neurodermitis nach,
dass die Sehnsucht nach Zärtlichkeit und Sexualität nie
versiegt.
Ein weiterer Abschnitt von Astrid Riehl-Emde widmet sich der
Problematik »Eheliches Burnout – Wo sind Lust und Liebe geblieben«
zu. Sie beschreibt einen Fall einer Paartherapie im Alter (73 und
69 Jahre alt), indem eine Option beschrieben wird, die
Vergangenheit ruhen zu lassen und zum bisherigen Arrangement
zurückzukehren, als nochmals verletzt zu werden. Die Aufarbeitung
des Vergessenen und Verdrängten könne aber auch eine Chance zu
einer verbesserten Beziehung und damit zu höherer Lebensqualität
auch im Alter sein.
Ein vorletztes Unterkapitel, vom Herausgeber Johannes Kipp
verfasst, setzt sich mit dem Thema »Zur Polarität von Ordnung und
Vermüllung – Psychosynamik des Sammelzwangs im Alter« auseinander.
Er beschreibt, dass Menschen mit Zwangserkrankungen meist sehr
ordentlich und genau wären (S. 227), das pathologische Horten aber
gedeutet und verstanden werden müsse, um Zugang zu den Bedürfnissen
und Wünschen der Patienten erlangen zu können.
Mit Ausführungen von Thomas Niedermeier und Angelika Neumann zu
»Stationäre verhaltensmedizinische Behandlung von Zwängen bei
älteren Patienten – ein Fallbeispiel« endet die ausgesprochen
aufschlussreiche und anregende Publikation.
Fazit
Es wäre wünschenswert, das vorliegende Buch dem interessierten und
in die Thematik eingeweihten Leser ohne Einschränkungen zu
empfehlen. Es ist nicht nur außerordentlich lehrreich, es ist auch
inspirierend, dass der Herausgeber es »wagt«, sich der Thematik
psychoanalytischer Ansätze in der Behandlung älterer Patienten zu
widmen, gibt es doch sowohl von Älteren selbst als auch bei
überweisenden Hausärzten massive Vorurteile gegen diese
Hilfsangebote. So verwundert nicht, dass in einer Studie von Beurs
et.al (1999) festgestellt wurde, dass 89% der älteren Patienten mit
einer Angstdiagnose zwar von einem Hausarzt behandelt werden, aber
nur 2,6% von einem Psychiater oder Psychotherapeuten. Die
Gliederung »Psychotherapeutische Diagnostik«, »Angst und
posttraumatische Störungen«, »Gruppenmethoden« und »Veränderung von
Beziehungen ...« erscheint auf den ersten Blick nicht stringent,
ist aber dem Umstand geschuldet, eine Auswahl praktischer
Anwendungsbeispiele vorstellen zu wollen. Die Ausführungen sind
dennoch auch für wenig Vorbelastete dieser schwierigen Materie
durchaus versteh- und nachvollziehbar, indem in jedem Kapitel
integrierte Fallbeispiele lebensnah zeigen, womit, mit welchen
Methoden und bei welchen Störungen Hilfe geleistet werden kann. Ich
möchte mit dieser Publikationsempfehlung besonders auch ältere
Menschen ermutigen, sich der Psychotherapie im Alter nicht zu
verschließen, sondern mit den hier gegebenen Erfahrungen mutig das
eigene Alter stressfreier zu gestalten.
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