Rezension zu Die späte Familie (PDF-E-Book)

www.socialnet.de

Rezension von Prof. Dr. Hermann Brandenburg

Entstehungshintergrund

Das Buch hat, wie die Autoren schreiben, eine Vorgeschichte: 1999-2001 wurde unter der wiss. Leitung von Gröning in Kooperation mit der AWO Bezirk Ostwestfalen-Lippe ein Praxisforschungsprojekt zum Thema »Angehörigenarbeit in der stationären Altenhilfe« durchgeführt. Finanziert wurde das auf zwei Jahre angelegte Projekt von der Stiftung Wohlfahrtspflege, die Ausrichtung lag bei der Heimvolkshochschule Haus Neuland in der Nähe von Bielefeld. Inhaltlich ging es um Konsequenzen aus dem Bewohnerwandel in Heimen für die konkrete Praxis der Angehörigenarbeit. Im Zentrum stand folgende Überlegung: Arbeit mit der Familie ist als »gemeinsame Sorge« (systemisch) zu verstehen und kann nicht nur als Herausforderung einer Person (Betroffene oder Hauptpflegeperson) wahrgenommen werden. Im Zusammenhang des genannten Projekts wurden Fachtagungen durchgeführt, von denen die Vorträge zur »Familiendynamik« und »Ethik« für den vorliegenden Band überarbeitet wurden. Darüber hinaus wurden die Ergebnisse von sechs mehrtägigen Praxisentwicklungsworkshops mit eingearbeitet. Insgesamt muss die vorliegende Publikation auch im Kontext einer Folgeveröffentlichung der beiden Herausgeberinnen gesehen werden. Im Jahre 2008 erschien beim Mabuse-Verlag in Frankfurt das Buch: Gerechtigkeit, Geschlecht und demographischer Wandel.

Aufbau und Inhalt

Es geht um Verstehenszusammenhänge zwischen den zuletzt genannten Begriffen: Gerechtigkeit, Geschlecht und demographischer Wandel – und zwar bezogen auf Generationenbeziehungen. Mit diesem Fokus werden zwei Engführungen des aktuellen Diskurses überwunden:

1. Die Familiensoziologen und Familientherapeuten fokussieren weitgehend Familien mit Kindern, konzentrieren sich auf die Paarebene oder die Eltern-Kind-Beziehung. Bestenfalls wird noch beim »empty nest« die Übergangssituation thematisiert, das (hohe) Alter und die mit ihm verbundene Familiendynamik (nicht nur hinsichtlich der Pflegebeziehung!) bleiben ausgeklammert.

2. Die Gerontologie betont in ihrem soziologischen Diskurs die »Intimität auf Abstand«, die Selbstständigkeit und den Wunsch nach Unabhängigkeit von der Hilfe Dritter auch im hohen Lebensalter; der psychologische Diskurs in der Gerontologie benennt die Belastungen im Kontext der Angehörigenpflege und damit verbundenen psychodynamischen Verstrickungen (vor allem zwischen der oder dem Betroffenen und weiblicher (!) Hauptpflegeperson). Allerdings gerät die Generationenfolge völlig aus dem Blick.

»Was in der Forschung weiterhin fehlt, ist die Frage, wie Generationen bezogen auf die Lebensspanne miteinander interagieren, welche Muster der Beziehungsgestaltung es gibt zwischen den erwachsenen Generationen, und zwar nicht der lokalen oder strukturellen Beziehungsgestaltung, sondern der qualitativen oder, wenn man so will, der emotionalen.« (S. 11).

Aber nicht nur die Individualisierungsperspektive versus die Generationenperspektive ist für das Buch konstitutiv, wichtig ist auch die Zusammenstellung von theoretischen Ansätzen zu den Entwicklungsaufgaben im hohen Lebensalter:

- das Konzept der psychosozialen Entwicklung in acht Phasen bei Erikson (hierzu eine Darstellung und Interpretation von Peter Conzen)
- das psychoanalytische Konzept der Persönlichkeitsentwicklung nach Heuft
- das Konzept der Entwicklungsaufgaben nach Radebold und
- das Konzept der »filialen Reife« nach Blenkner und Bruder

Alle vier genannten Ansätze sind psychoanalytisch und systemisch orientiert, so auch der Schwerpunkt der Beiträge, die in diesem Band versammelt sind.

Das erste Kapitel ist überschrieben mit »Verstehenszugänge zum Thema Generation« und stellt die aus Sicht der beiden Herausgeber wichtigen Grundkategorien vor. Interessant ist, dass die bisherige Debatte auf Lücken überprüft und »gegen den Strich« gebürstet wird. Paradoxien und Ambiguitäten des Altern(s) werden benannt, die Entwicklungsaufgaben skizziert und theoretisch verortet (s.o.), die Familiendynamik auch auf die erwachsenen Kinder und ihre alten (und gebrechlichen) Eltern ausgeweitet, schließlich ein verstehender Zugang zum hilfebedürftigen Alter angeboten. Identität und lebensgeschichtlicher Kontext sind dabei, orientiert am Geriater Psychoanalytiker Radebold, die beiden Zugänge, die ein Verstehen des (hohen) Alters im Kontext von Familienbeziehungen, ermöglichen sollen.

Im zweiten Kapitel werden biographische Hintergründe dargelegt, dabei auch die Spuren des Familiengedächtnisses in Nazideutschland und bei Angehörigen bei »Kindern der Shoah« verfolgt. Autoren sind Schulz, Nentwig und Bauer. Eindrucksvoll wird Generation als erzählte Geschichte präsentiert.

Das dritte Kapitel thematisiert ethische Aspekte zu den Generationenbeziehungen und beginnt mit einem Plädoyer gegen die Sterbehilfe. Man muss kaum Anhänger psychoanalytischer Interpretationen sein, um diesem Beitrag zu würdigen. Beeindruckend ist, wie das Koma der Mutter und die damit verbunden völlige Hilflosigkeit als »Rückkehr in die Kindheit«, als Wiedergutmachung und als Rache verstanden werden kann: »... als ob meine Mutter etwas nachholte, was sie nie hatte, wonach sie sich jedoch ein ganzes langes Leben unendlich gesehnt hatte: Wie ein kleines Kind von einer guten Mutter endlich rundum versorgt zu werden.« (S. 114). Die Einsicht in diese fast ein Jahr dauernde Regression war für die Tochter ein Trost und versöhnte sie mit vielen Zumutungen, die sie in der Beziehung zur Mutter erlebt hatte. Stark ist dieser Beitrag in der Analyse, und das gilt für die allermeisten Texte dieses Bandes. Die praktischen Konsequenzen jedoch sind zu allgemein formuliert und nicht spezifisch genug. Es folgen weitere Texte von Brumlik, Dörner, Honneth und Steinkamp. Herausheben möchte ich nur einen, nämlich das »Nein« zum Menschenbild des nützlichen Menschen von Dörner. Hier ist der Blick in die Geschichte der Institutionalisierung am Beginn der Moderne erhellend. Die Deinstitutionalisierung der »Unbrauchbaren« ist wahrscheinlich eines der größten Herausforderungen einer postindustriellen Gesellschaft, die weitgehend alles der Kategorie der Nutzenbewertung unterzuordnen versteht.

Das vierte und größte Kapitel enthält Beiträge zur Familiendynamik und zu den Intergenerationenbeziehungen. Conzen exemplifiziert das Modell von Erikson und diskutiert die Fürsorge für die alten Eltern als Kernaufgabe des Erwachsenenalters. Buchholz berichtet und interpretiert familiäre Muster, Hötger wirft einen historischen Blick auf Generationenbeziehungen im ländlichen Raum, Ertl bringt interkulturelle Aspekte in den Beziehungen zwischen Kindern und (Groß-)Eltern zur Sprache, Bauer und Kunstmann analysieren am Beispiel von zwei Fallgeschichten Paardynamik, Familien und Generationenbeziehungen und zum Schluss werden von Bauer »Abschiedsprozesse in Familien« untersucht, wobei das Bild des Familienromans als Hintergrundfolie genutzt wird.

Fazit

Ein wichtiges, ein wertvolles Buch. Und zwar deswegen, weil es den tradierten Blick erweitert, die Engführung auf die Belastungsproblematik und die damit verbundene Gefahr der Pathologisierung und Therapeutisierung der Familie vermeidet und den Blick auf die Intergenerationenbeziehungen ausweitet. Empfehlenswert ist die Veröffentlichung für theoretisch und wissenschaftlich Interessierte, aber auch für Praktiker.



www.socialnet.de

zurück zum Titel