Rezension zu Sequentielle Traumatisierung bei Kindern
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Rezension von Johanna Fleischhauer
Ein klassisches Werk der Traumapsychologie ist wieder verfügbar
Die Originalausgabe von 1979 wurde Ende 2005 vom Psychosozial
Verlag in unveränderter Form wieder aufgelegt, lediglich der
Einband ist neu, attraktiver gestaltet.
Keilsons Studie ist wissenschaftshistorisch bedeutsam, weil in ihr
die Traumatisierung durch von Menschen organisierte Gewalt zum
ersten Mal als langfristig wirksamer Prozess aufgefasst wurde. Sie
ist damit gegenwärtig interessant für die Aufarbeitung Jahrzehnte
langer Auswirkungen von Krieg, Nationalsozialismus und Holocaust
auf die Generation der europäischen Kriegs- und
Nachkriegskinder.
Sie ist aber auch hoch aktuell, weil sie nachweist, dass zeitliche
Sequenzen nach dem Ende manifester Gewalteinwirkung besonders
bedeutsam für die weitere psychische Entwicklung sind. Diese
enthalten spezifische, noch immer weithin unterschätzte
Traumapotentiale – eine Erkenntnis, die unter anderem in der Arbeit
mit Flüchtlingen aus Kriegsgebieten von zentraler Bedeutung ist.
Für Kindertherapeuten sind Keilsons Forschungen wichtig, weil er
die jeweiligen Ausprägungen der kindlichen Traumata im Zusammenhang
mit dem Entwicklungsprozess ihrer Persönlichkeit erklärt.
Die Untersuchung ging letztlich aus dem klandestinen Engagement
Keilsons als Arzt und Psychotherapeut jüdischer Kinder hervor, die
während der nationalsozialistischen Verfolgung in den Niederlanden
von nichtjüdischen Familien aufgenommen wurden (»hidden children«).
Nach dem Krieg war Keilson maßgebliches Mitglied einer Kommission,
die über das zukünftige Erziehungsmilieu der mehr als 2000
überlebenden, verwaisten Kinder zu entscheiden hatte. Zu jedem Kind
wurde während des gutachterlichen Verfahrens mindestens ein Dossier
angelegt; diese Dossiers bilden das Basismaterial für die spätere
Analyse. Anlass der Untersuchung, mit der Keilson 25 Jahre nach
Kriegsende begann, waren Bitten um therapeutische Hilfe durch
Angehörige der zweiten Generation, bei deren Problemen er einen
Zusammenhang mit den ihm bekannten Traumata ihrer Eltern vermutete.
Um die längerfristige Entwicklung der Kriegswaisen zu erforschen,
wurden über 200 Personen erneut aufgesucht und befragt. Die hohe
Zahl der untersuchten Fälle, der lange Zeitraum bis zur follow-up
Untersuchung und die über Jahrzehnte angesammelte Kenntnis
psychischer Entwicklungsverläufe, die der Interpretation der Daten
besondere Tiefe verleiht, machen die Studie qualitativ und
quantitativ einzigartig.
Zum Inhalt:
Die Einführung gibt Informationen zur historischen Situation der
jüdischen Kinder in den Niederlanden unter nationalsozialistischer
Besatzung, zum sequentiellen Traumabegriff, zum an der
Psychoanalyse orientierten entwicklungspsychologischen Konzept und
zur Untersuchungsmethodik.
Der Hauptteil umfasst die Untersuchung der Kinderdossiers. Die
Fälle werden in sechs »Altersgruppen« von der Geburt bis zum
achtzehnten Lebensjahr zusammengefasst, dem Alter entsprechend, in
dem die Kinder zu Beginn der manifesten Verfolgung von ihrer Mutter
getrennt wurden. Die zentralen Entwicklungsbedürfnisse dieser
Altersphase definiert Keilson in Freud’schen Kategorien.
Persönlichkeitsstörungen, die in den Untersuchungen bei Kriegsende
festgestellt wurden, werden aus der massiven Frustration dieser
basic needs und der Konfrontation mit extremen
Bedrohungssituationen ohne ausreichenden Schutz erklärt.
Die follow-up Untersuchung umfasst Befragungen der Herangewachsenen
in den Niederlanden und Israel zu drei Bereichen ihrer
Lebensführung: Partnerschaftsbeziehungen, Beruf und Freizeit; ein
weiterer Fokus liegt auf den Erinnerungen an die Zeit der
Verfolgung und die Nachkriegssequenz; letztere wird im Rückblick
von vielen Betroffenen als besonders belastend charakterisiert.
Im Anhang ist eine detaillierte tabellarische Übersicht mit
biographischen Stichworten zu den 204 Teilnehmer/innen der
follow-up Studie zu finden.
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