Rezension zu Psycho-News

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Rezension von Tom Levold

Mein Lieblingbuch 2004:

Das vorliegende Buch ist insofern ein eher ungewöhnliches Buch, als es sich weder um eine Monografie noch um einen themenbezogenen Sammelband handelt. Es ist eher ein »Meta-Buch«, ein Buch, welches den Inhalt von Zeitschriften-Artikeln und anderen Büchern zum primären Gegenstand hat, im Sinne einer weit gefächerten Rundschau – ohne Vollständigkeitsanspruch, aber jeweils auf das in den aktuellen Diskursen gerade Vorfindliche einerseits und das immer wieder variierte und reformulierte Anliegen des Autors andererseits bezogen: nämlich deutlich zu machen, dass es ausreichende, empirisch abgesicherte Gründe dafür gibt, Psychotherapie als eigenständige Profession zu betrachten, die sich nicht den Geltungsansprüchen eines »Wissenschaftsimperialismus« zu unterwerfen braucht, welcher z.B. in der berufspolitischen Debatte der letzten Jahre in Deutschland auch durch die Politik des »Wissenschaftlichen Beirates Psychotherapie« immer mächtiger geworden ist und im Erfolgsfalle die weitgehende Blockade einer eigenständigen professionellen Weiterentwicklung des psychotherapeutischen Feldes bewirken kann.

Systemisch orientierte KollegInnen könnten nun, wenn ihnen Michael B. Buchholz kein Begriff sein sollte, angesichts des Untertitels zunächst zurückschrecken: Die »Verteidigung der Psychoanalyse« scheint auf den ersten Blick kein Unterfangen zu sein, für das man sich als »SystemikerIn« interessieren müsste, zumal die unmittelbaren Adressaten der Psycho-News vor allem in der psychoanalytischen Gemeinde zu finden sind. Allerdings finde ich den Titel etwas unglücklich gewählt. Er könnte meiner Meinung nach mit gleichem Recht auch lauten: »Briefe zur konzeptuellen Öffnung der Psychoanalyse« oder »Einladungen zum Blick über den Zaun«, denn schon beim ersten Blick in den Band wird deutlich, welch gewaltiger Horizont an Themen, theoretischen Hintergründen, Einfällen und Verweisen hier aufgespannt wird – alles andere also als eine Einengung auf die Bestandssicherung eines althergebrachten psychotherapeutischen Verfahrens.
Der Band enthält u.a. drei im »Anhang« befindliche Aufsätze über Diagnostik, Depression und »Compliance« – jeweils unter dem Gesichtspunkt des Paradigmenwechsels von einer Einpersonen- hin zu einer Interaktionsperspektive – sowie eine kritische Auseinandersetzung mit einem Gutachten zur »wissenschaftlichen Anerkennung« der Verhaltenstherapie.

Der Hauptteil des Buches jedoch versammelt auf fast 340 Seiten 19 Texte des Autors, die von November 2002 bis April 2004 im monatlichen Abstand (zwei im Januar 2003) im Auftrag der Deutschen Gesellschaft für Psychoanalyse, Psychotherapie, Psychosomatik und Tiefenpsychologie (DGPT) verfasst und als durchnummerierte Psycho-News-Letter per E-Mail-Rundbrief an eine ausgewählte Leserschaft verschickt worden waren. Diese Beiträge sind auch als einzelne PDF-Dateien auf der DGPT-Website zu finden, die Reihe wird gegenwärtig fortgeschrieben. Anliegen des DGPT-Vorstandes war es damals, »angesichts der zunehmenden Verflechtung von berufs- und wissenschaftspolitischen Kontroversen um die Psychoanalyse und die aus ihr abgeleiteten Therapieverfahren einen Überblick über die aktuelle Diskussion zu diesen Themen in wissenschaftlichen Buch- und Zeitschriftenveröffentlichungen zu erhalten«. Michael Buchholz damit zu beauftragen lag nahe, da er – wie nur wenige sonst – über die dafür notwendige inhaltliche Reichweite und die entsprechende »Verknüpfungskompetenz« verfügt, zumal er auch schon früher immer wieder mit Sachkunde und großem Engagement deutlich gemacht hat, auf welch schwachen Füßen die Wissenschaftskonzeption des »Wissenschaftlichen Beirates Psychotherapie« steht und welche verheerenden Folgen es für die Zukunft der psychotherapeutischen Praxis (gleich welcher Provenienz) und Weiterentwicklung haben wird, wenn sich dieses Wissenschaftsverständnis durchsetzt. Vor diesem Hintergrund bezieht sich die »empirische Verteidigung der Psychoanalyse« zunächst einmal auf den Angriff eines den Naturwissenschaften entlehnten und im unangebrachten Analogieschluss auf die Humanwissenschaften übertragenen Wissenschaftsverständnisses einerseits, auf die problematische Konzeption der psychotherapeutischen Praxis als »Anwendung von Wissenschaft« (im Gegensatz zu einem Verständnis von Psychotherapie als Profession) andererseits. Ein Anliegen, dem sich auch die meisten Vertreter der Systemischen Therapie verbunden fühlen dürften.
Michael Buchholz ist nicht nur Psychoanalytiker, sondern auch ein Familientherapeut der ersten Stunde und ein hervorragender Kenner der systemischen Literatur. Seine besondere Stärke liegt ohne Zweifel darin, die jeweiligen Ansätze auch gegen ihren Strich bürsten, Mainstream-Floskeln entlarven und intellektuelle Potentiale herauszuarbeiten zu können, die sich gerade aus der Überschreitung von Schulengrenzen ergeben. Insofern lässt sich der Band auch als eine »Verteidigung der Psychoanalyse« (nämlich als lebendiges und offenes soziales System) gegen ihre bornierten und ideologisch eingemauerten Spielarten lesen.

Die einzelnen Beiträge kreisen jeweils um unterschiedliche Schwerpunktthemen wie Psychotherapieforschung, Neurowissenschaften, Affektive Kommunikation, Epidemiologie, Bindungsforschung, Gruppentherapie, Vertrauen, Professionalisierung, Krankheitstheorien, Sprache und Sprechen, Geschichte der Psychoanalyse, Gewalt, Religion, Persönlichkeit und vieles mehr, decken also ein äußerst breites Spektrum von Perspektiven ab: Eine argumentative Engführung ist nicht beabsichtigt. Zunächst werden unterschiedliche Befunde der Psychotherapieforschung zugänglich gemacht, welche Psychotherapie als interaktive Veranstaltung in den Blick nehmen (bei der Therapeuten und Patienten gemeinsam Teil des sozialen Systems Psychotherapie sind) und nicht – wie gerade in der Therapieforschung so beliebt – als »Medikament«, das ist einer bestimmten Dosis mit einer standardisierten Vorgehensweise von einem Experten verabreicht wird. Im weiteren Verlauf erhalten die Newsletter zunehmende Komplexität und Eigengestalt, aber durchaus unter Wahrung des ursprünglichen Auftrages. Es wird nicht nur berichtet und referiert, die horizontalen und vertikalen Verknüpfungen nehmen zu, zahlreiche Verweise auf philosophische Konzepte, kulturwissenschaftliche Studien (z.B. zur Musikanthropologie oder zum Körperpiercing) und auch literarische Texte sind zu finden, in Exkursen werden theoretische Modelle und Begriffe erklärt und mit aktuellen Diskursen verbunden, wobei immer wieder überraschende Zusammenhänge auftauchen, denen nachzuspüren äußerst reizvoll ist.

Buchholz navigiert souverän durch die Materialfülle. Sein Anliegen ist nicht, dem Leser die eigene Orientierung im »Blätterwald« zu ersparen, sondern deutlich zu zeigen, was alles zu finden ist, wenn man sich auf die Suche macht und bereit ist, auch ungewöhnlichen Assoziationen zu folgen. Manche Bücher (z.B. Edelman und Tonioni: »Wie aus Materie Bewusstsein entsteht«) werden sehr ausführlich referiert, andere nur kurz erwähnt. Dementsprechend sind viele Hinweise abseits der Hauptargumentationslinien nicht ausgearbeitet, sondern nur angedeutet – immer aber auf eine Weise, die de Neugier weckt, wie sich überhaupt Michael Buchholz’ Begeisterung für das Lesen (als »Homme de libres« gewissermaßen) an jeder Stelle dem Leser mitteilt. Dass dabei psychoanalytische Zeitschriften bei der Literaturrecherche im Vordergrund stehen, ergibt sich aus den bereits genannten Gründen. Aber gerade hier wird dem Leser deutlich, dass eine (zunehmend) interaktionsorientierte zeitgemäße Psychoanalyse sich nicht nur systemisch-konstruktivistischen Grundsätzen immer weiter annähert (Mehrpersonenperspektive, Kontextbezug, subjektabhängige Konstruktion von Wirklichkeiten, Ressourcenorientierung usw.), sondern auch Fragestellungen und Forschungsprogramme anzubieten hat, mit denen sich auch SystemikerInnen beschäftigen sollten. Buchholz postuliert hier als Bezugsrahmen für empirische Forschung insbesondere eine Triade aus »Interaktion, (das Erleben organisierender) Kognition und (das eigene Denken bedenkender) Mentalisierung« (S. 11), ein Zusammenhang weit ab von jeder Einpersonen-Psychologie, der sich ohne weiteres auch mit systemischen Konzeptionen in Verbindung bringen lässt.

Aufgrund der Fülle des präsentierten, gewissermaßen in verschiedenste Richtungen mäandrierenden Materials ist eine inhaltliche Zusammenfassung an dieser Stelle weder zu leisten noch sinnvoll. Dem Autor selbst schwebt vor, »dass geneigte Leser sich abends ein Briefchen reinziehen, darüber schlafen, am nächsten Tag ab und zu daran denken und am nächsten Tag oder in der nächsten Woche – je nach Leselust und -laune – mit dem nächsten Briefchen fortfahren«, um sich dann »in reichen Blätterwäldern auf Spurensuche zu begeben« (S. 13). Dies scheint mir eine vernünftige Gebrauchsanleitung zu sein, denn – um in der implizit benutzten Drogenmetapher zu bleiben – es gibt so viele »Kicks« bei der Lektüre, dass sich u.u. auch schnell das Gefühl einer Überdosis einstellen kann.

Wer die einzelnen News-Letter schon aus dem Internet kennt, ist schon überrascht, welch stattlicher Band daraus geworden ist, und das Leseerlebnis ist allemal ein anderes, wenn man das Buch in der Hand hält – und nicht nur einen Ausdruck einer Textdatei. Das einzige Manko besteht in den Fehlen eines Personenregisters, welches das Navigieren (und Wiederfinden) im Buch erheblich erleichtert hätte.


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