Rezension zu Psychoanalyse, Ethnopsychoanalyse, Kulturkritik
psychosozial
Rezension von Dr. Roland Kaufhold
Der 90jährige Schweizer Psychoanalytiker und Schriftsteller Paul
Parin blickt auf ein langes, außergewöhnlich produktives Leben
zurück. Die Anzahl, thematische Bandbreite und Qualität seiner
Publikationen – 15 Bücher und über 400 weitere Beiträge – ist
beeindruckend. Im Alter wurde er hierfür vielfach geehrt. Der
»soziale Ort« (Bernfeld) dieser Produktivität war »einerseits«
Zürich: Noch immer lebt Paul Parin in der Wohnung, in welcher er
bereits vor über einem halben Jahrhundert, seinerzeit noch
gemeinsam mit seiner Lebensgefährtin Goldy Parin-Matthey sowie dem
viel zu früh verstorbenen Psychoanalytiker Fritz Morgenthaler, eine
Gemeinschaftspraxis betrieb.
Immer, wenn es Paul Parin und seine Lebenspartnerin Goldy
Parin-Matthey im idyllisch-engen Zürich nicht mehr aushielten,
brachen sie auf: Zuerst, 1944 bzw. 45, als antifaschistische
Kämpfer zu den jugoslawischen Partisanen, später zu mehrmonatigen
Forschungsexpeditionen nach Afrika, noch später nach
Indonesien.
Paul Parins aus diesen Forschungstätigkeiten erwachsenen Bücher
sind weitgehend noch zugänglich – ob dies in einigen Jahren noch so
sein wird, erscheint angesichts der Schnelllebigkeit des
Buchmarktes als höchst ungewiss. Ein systematischer Zugang zu
seinen unzähligen Zeitschriftenbeiträgen aus dem Zeitraum ab 1948
ist jedoch bereits heute mit erheblichem Aufwand verbunden.
Johannes Reichmayr hat eine sehr verdienstvolle Arbeit unternommen:
Er hat eine CD erstellt, welche 242 deutsch-, z.T. auch englisch-,
französisch- sowie spanischsprachige Veröffentlichungen Parins aus
den Jahren 1948 bis 2001 enthält – ein zeitgeschichtliches Juwel.
Nahezu alle Zeitschriftentexte Parins, sogar einige seiner Bücher –
viele tausend Seiten – sind nun »für ewig« und leicht zugänglich
aufbewahrt – und laden zu einer Neu- bzw. Wiederentdeckung ein.
Ergänzt werden diese Texte durch eine liebevoll zusammengestellte
Sammlung von Photos sowie einiger auditiver Aufnahmen Parins. Wie
soll man diesem gewaltigen Lebens- und Lesewerk in einer kurzen
Besprechung gerecht werden? Ein hoffnungsloses Unterfangen.
Beginnen wir also mit dem ersten auf der CD erfassten Parin-Text.
1945, nach der Niederlage der Nationalsozialisten, waren die als
antifaschistische Ärzte in Titos Partisanenarmee engagierten Parins
nach Zürich zurückgekehrt. »Nach dem Sieg waren wir überflüssig«,
erinnert sich Paul Parin im Rückblick. Ihre Entidealisierung
vermochten sie kreativ umzuformen. Die psychoanalytische Ausbildung
war nun ein Ziel, für das einzusetzen sich lohnte. 1948 publiziert
der junge Arzt und Psychoanalytiker im »Schweizer Archiv für
Neurologie und Psychiatrie« eine 21seitige klinische Studie über
seine medizinisch-psychiatrischen Erfahrungen in der jugoslawischen
Volksbefreiungsarmee: »Die Kriegsneurose der Jugoslawen«. Parin
leitet bereits diese frühe wissenschaftliche Studie in der ihm
eigenen luziden, lakonischen Art ein: »Jeder Krieg mutet einer
größeren Anzahl von Menschen in psychischer Beziehung mehr zu, als
man gemeinhin glaubt, daß ein Mensch ertragen könne, und ein
kleiner Teil der so Betroffenen wird psychisch krank.« Sein
psychoanalytisch geschulter Blick veranlasst ihn wenig später zu
der Beobachtung: »Die genitale Libido stieß auf Versagung. Mit
Ausnahme von Slowenien, wo als einzigem Landesteil die
Partisanenanfälle nicht vorkamen, galt in allen Partisaneneinheiten
strengstes Sexualverbot. Liebesbeziehungen wurden nicht geduldet« –
bis hin zur Todesstrafe.
Schauen wir uns die thematischen Schwerpunkte von Parins Schaffen
an: Bereits 1958 veröffentlicht er seine erste, aus seinen
Afrika-Forschungsreisen erwachsene ethnopsychoanalytische Studie:
den 14seitigen Beitrag »Einige Charakterzüge ›primitiver‹
Afrikaner«; in den 1960er Jahren folgen unzählige weitere
ethnopsychoanalytische Diskussionsbeiträge. 1961 publiziert Parin
»Psychoanalytische Bemerkungen zur Homosexualität«. Er verfasst
unzählige Buchbesprechungen auch zu englisch- und
französischsprachigen Neuerscheinungen. Ende der 1960er Jahre ist
ein deutlicher Anstieg seiner Produktivität sowie eine Hinwendung
zu gesellschaftskritischen Fragestellungen zu konstatieren. Seine
Studien »Ist die Verinnerlichung der Aggression für die soziale
Anpassung notwendig?« (1969) sowie »Freiheit und Unabhängigkeit:
Zur Psychoanalyse des politischen Engagements« (1969) können als
»Klassiker« gelten.
Wohl angeregt durch die frühen familientherapeutischen Bücher
Horst-Eberhard Richters richtet Parin nun einen kritischen Blick
auf »Änderungen der Geschlechtsidentität während der Therapie«
(Psyche, 1972). Und immer wieder setzt er sich in Rezensionen
unmittelbar freundschaftlich-kritisch mit H.-E. Richter
auseinander. So bemerkt er 1972 zu dessen Buch »Die Gruppe«:
»Das vorliegende Buch beschreibt klar und kritisch einige konkrete
Versuche, das Erhoffte zu erreichen. Der Leser versteht, welche
Schritte weiter geführt haben und wie man sich der Erfüllung jener
›Hoffnung vieler‹ annähern kann. Andererseits erweist sich bereits
einiges an jener Hoffnung als Illusion. Kurz gesagt: wir nehmen
teil an der Arbeit eines Pioniers.« Parin sympathisiert mit
Richters Entschluss, das vertraute analytische Setting zu verlassen
und sich auf eine »ungewohnte Praxis« einzulassen: »Er verzichtet
in der Praxis und bei der Reflexion des Erfahrenen vollständig auf
den Status des Psychoanalytikers und auf alles, was sich davon
abzuleiten pflegt, doch natürlich nicht auf sein analytisches
Können und Wissen.«
Ab Mitte der 1970er Jahre wendet Parin seine ethno- und
psychoanalytischen Erkenntnisse auf seine eigene Ethnie – sprich:
auf den deutschsprachigen Lebensraum – an: »Typische Unterschiede
zwischen Schweizern und Süddeutschen aus dem gebildeten
Kleinbürgertum« (1976) »Zunehmende Intoleranz in der
Bundesrepublik« (1976) und »Der ängstliche Deutsche: Kleinbürger
ohne Selbstbewusstsein« (1976), lauten nun programmatisch seine
Studien. Die Züricher Jugendunruhen Anfang der 1980er Jahre
veranlassen den aus einer großbürgerlich-privilegierten Familie
stammenden Parin zu einer behutsamen Parteinahme. Er nimmt in
Zürich – wie im bewegenden Filmportrait der Schweizer Filmemacherin
Marianne Pletscher dokumentiert -, an Demonstrationen teil und
wirbt in wissenschaftlichen Studien für die Motive der
aufbegehrenden Jugendlichen. Die Lektüre von »Befreit Grönland vom
Packeis« (1980) und »Wenn der Freund und Helfer zuschlägt« (1981)
ist weiterhin lesenswert. Ich selbst habe letzteren Beitrag 1981 im
Philosophieunterricht eines Gymnasiums gelesen. Der Name des Autors
hatte sich mir eingeprägt.
1980 wird Paul Parin mit seinem literarischen Erstlingswerk »Jahre
in Slowenien« zum Schriftsteller. Zehn Jahre später schließt er aus
Altersgründen seine psychoanalytische Praxis; im gleichen Jahr
erscheint »Es ist Krieg und wir gehen hin« – sein Erinnerungsbuch
an sein antifaschistisches Engagement in Jugoslawien. Der
fürchterliche Krieg im ehemaligen Jugoslawien veranlasst Parin,
seine literarische Tätigkeit immer wieder zu unterbrechen. Er
verfasst unzählige, auf der CD dokumentierte Studien über den
Jugoslawienkrieg, engagiert sich insbesondere für die verfolgten
Kosovo-Albaner. Genannt seien die Beiträge: »Das Bluten
aufgerissener Wunden. Ethnopsychoanalytische Überlegungen zu den
Kriegen im ehemaligen Jugoslawien« (1993) und »Lügen in Zeiten des
Friedens« (1998).
In dem öffentlichen Aufruf »Warnung vor Seelenmord an Kindern.
Bosnische Flüchtlinge vor der Rückschaffung« (1998) appelliert der
seinerzeit 81jährige nachdrücklich, unter Berufung auf seine
Biographie, für ein Bleiberecht dieser Kriegsflüchtlinge: "»Ich
schreibe über ›alleinerziehende Mütter‹ aus Bosnien-Herzegowina und
über andere Familien aus dem ehemaligen Jugoslawien, deren Kinder
alle der gleichen Gefahr ausgesetzt sind, wenn sie zurückgeschickt
werden. Ich schreibe, um zu warnen und zu bitten. Meine Warnung
richtet sich an die Öffentlichkeit und an unsere Behörden. (...)
Ich möchte nicht noch einmal stummer Zeuge einer unmenschlichen
Politik sein, für die sich kommende Generationen entschuldigen und
deren wir uns schämen müssen.« Die vorliegende CD mit den Schriften
Paul Parins ist eine Einladung, sich noch einmal mit dem
tiefgründigen, weitgefächerten Wirken dieses außergewöhnlich
produktiven Wissenschaftlers, Psychoanalytikers und Erzählers
auseinanderzusetzen. Paul Parin hat vielen von uns mehr geschenkt,
als wir zurückzugeben vermochten.
Buchveröffentlichungen Paul Parins
1963: (und F. Morgenthaler und G. Parin-Matthey): Die Weissen
denken zuviel. Psychoanalytische Untersuchungen bei den Dogon in
Westafrika. München: Kindler.
1971: (und F. Morgenthaler und G. Parin-Matthey): Fürchte deinen
Nächsten wie dich selbst. Psychoanalyse und Gesellschaft am Modell
der Agni in Westafrika. Frankfurt am Main: Suhrkamp. (Neuauflage:
Psychosozial-Verlag).
1978: Der Widerspruch im Subjekt. Ethnopsychoanalytische Studien.
Frankfurt am Main: Syndikat.
1980: Untrügliche Zeichen von Veränderung. Jahre in Slowenien.
Frankfurt am Main: Fischer TB.
1985: Zu viele Teufel im Land. Aufzeichnungen eines
Afrikareisenden. Frankfurt am Main: Syndikat.
1986: (und G. Parin-Matthey): Subjekt im Widerspruch. Aufsätze
1978-1985. Frankfurt am Main:
Syndikat. (Neuauflage: Psychosozial-Verlag).
1990: Noch ein Leben. Eine Erzählung. Zwei Versuche. Freiburg i.
Br.: Kore. (Neuauflage: Psychosozial-Verlag).
1991: Es ist Krieg und wir gehen hin. Bei den jugoslawischen
Partisanen. Berlin: Rowohlt.
1993: Karakul. Erzählungen und ein Faksimile. Hamburg: EVA.
1995: Eine Sonnenuhr für beide Hemisphären und andere Erzählungen.
Hamburg: EVA.
1996: Heimat, eine Plombe. Rede am 16. November 1994 in Wien.
Hamburg: EVA.
2001: Der Traum von Segou. Neue Erzählungen. Hamburg: EVA.
2003: Die Leidenschaft des Jägers. Hamburg: EVA.
2005: Das Katzenkonzil. Hamburg: EVA.
2006: Lesereise 1955 – 2005. Lesereise 1955 – 2005: Berlin:
Freitag
Kaufhold, R.: Ein moralischer Anarchist. Der Psychoanalytiker und
Schriftsteller wird heute 90 Jahre alt. In: Basler Zeitung,
20.09.2006, S. 6f., s. www.psychosozial-verlag.de
Pletscher, Marianne (1996): »Mit Fuchs und Katz auf Reisen, zum
achtzigsten Geburtstag von Paul Parin«, Filmportrait, 22.9.1996,
3-Sat: 17.10.1996, 45 Min.
Roland Kaufhold