Rezension zu Bindungsstörungen und Entwicklungschancen
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Rezension von Kai Brüggemann
Urte Finger-Trescher und Heinz Krebs haben Beiträge einer
wissenschaftlichen Fachtagung des Frankfurter Arbeitskreises für
Psychoanalytische Pädagogik im Herbst 2001 zu dem Sammelband
»Bindungsstörungen und Entwicklungschancen« zusammengestellt. Im
ersten Teil werden grundlegende Aspekte menschlicher Bindungen
dargestellt, im zweiten Teil geht es um die Bedeutung der
Bindungsforschung für die praktische beraterische Arbeit, der
dritte Teil enthält neben möglichen praktischen Bezügen auch
Überlegungen zu präventiven Maßnahmen.
Heiner Keupp zeichnet in seinem Beitrag »Identitätsbildung in der
Netzwerkgesellschaft: Welche Ressourcen werden benötigt und wie
können sie gefördert werden?« ein Bild der Gesellschaft, wie es
sich sowohl aus der Presse als auch aus sozialwissenschaftlichen
Erkenntnissen ergibt.
Aus der Shell-Studie 2000 wird deutlich, dass Identitätsfindung für
die heutige Jugend komplexer geworden ist, weil Vorstellungen von
Wohnen, Partnerschaft und Lebenszielen flexibler als früher
gehandhabt werden und traditionelle Identitäts- und Rollenentwürfe
immer seltener übernommen werden können. Wichtige Schlagworte sind
Patchworkbiographien und biografische Mitfahrgelegenheiten mit
temporären Zielen anstelle des früheren »Langstrecken-Zuges auf
fremd vorgegebenen Lebenslauf-Gleisen« (S.18). Die Jugend heute sei
von ihren Eltern und Lehrern auch deshalb schwerer zu begleiten,
weil sie selbst zu einer Projektionsfläche geworden sei für
Hoffnungen und Ängste der Erwachsenen.
Keupps Diagnose hieraus lautet: Mit einem Verfall von Werten und
der Bedeutung von sozialen Bindungen wird Identitätsfindung für
Heranwachsende immer schwerer. Unterstützend führt Keupp Zahlen der
Shell-Studie an, wonach zwischen 35 Prozent und 43 Prozent der
west- bzw. ostdeutschen Jugendlichen düster in ihre Zukunft sehen.
Daher sei es wichtig, eine alltägliche Identitätsarbeit zu leisten,
um Lebenssinn zu schöpfen und um sich selbst im Spannungsfeld
zwischen neuen Chancen und Verlorengehen zu organisieren. Für die
alltägliche Identitätsarbeit sei nach außen die Anerkennung durch
das soziale Netz, nach innen ein Gefühl von Authentizität wichtig.
Dabei hänge es vom Zugang zu materiellen und sozialen Ressourcen
ab, ob dem Einzelnen das gelinge.
Hier findet Keupp Verknüpfungen zum Salutogenesemodell von
Antonovsky. Das Modell erklärt – im Gegensatz zur pathogenetischen
Sichtweise der Entstehung von Krankheiten – wie Menschen es
schaffen, trotz täglichen Umgangs mit Stressoren gesund zu bleiben.
Hierbei spielt das sog. Kohärenzgefühl eine zentrale Rolle. Der
Gegenpol zum Kohärenzgefühl ist Demoralisierung. Das Kohärenzgefühl
bezeichnet die Art und Weise, wie ein Mensch das Leben als sinnvoll
erlebt, statt sich einem unkontrollierbaren Schicksal ausgesetzt zu
sehen. Menschen mit dieser Kompetenz glauben, schwierige
Situationen bewältigen und Ziele erreichen zu können. Dieses
Kohärenzgefühl ist in Antonovskys Modell ein zentraler Faktor, der
über Zugang zu den materiellen, kognitiven und sozialen Ressourcen
entscheidet.
Da gerade im Jugendalter die Identität die Entwicklungsaufgabe
schlechthin ist, hat der Autor Interviews Jugendlicher im Alter
zwischen 17 und 18 Jahren qualitativ mit Hilfe der Kategorien von
Antonovsky ausgewertet, was er an drei Fallbeispielen demonstriert.
Dies geschieht auf drei Ebenen: der Sinnebene, die Projekte, Ziele,
Wünsche umfasst, der Verstehensebene, die das Einordnen von
Erlebtem in ein eigenes, mehr oder weniger stimmiges Selbstbild
meint, und der Bewältigungsebene, der Überzeugungen, dass man
schafft, was man sich vornimmt, zuzuordnen sind.
Der Autor macht deutlich, dass diese Identitätsarbeit auch in einem
ökonomischen Rahmen geschieht: Wer von Armut bedroht ist, ist in
seinen Chancen bereits stark eingeschränkt, für sich Lebenskohärenz
zu finden. Alarmierend ist in diesem Zusammenhang der Anstieg der
Kinder und Jugendlichen, die von Armut betroffen sind, wie Zahlen
aus dem Jahr 2000 belegen. Studien zeigten, dass der Zugang zu
sozialen Ressourcen, damit sind selbst initiierte soziale Netzwerke
gemeint wie Freundeskreise, Vereine, Nachbarschaft,
Selbsthilfegruppen etc., wiederum von materiellen Ressourcen
abhängt. Die Solidargemeinschaft der klassischen Arbeiterfamilie
sei Vergangenheit, Vereinzelung gerade in diesem Bereich die
Wirklichkeit.
Aus der Gegenüberstellung von modernisierter Gesellschaft
einerseits und dem Salutogenesekonzept andererseits kommt Keupp zu
Bedingungen, die es v.a. Heranwachsenden ermöglichen sollen, die
»riskanten Chancen« für eine gelingende Identität zu nutzen. Hierzu
gehören Nutzung der geschilderten Ressourcen, aber auch
Partizipationsmöglichkeiten wie z.B. Teilnahme von Kindern und
Jugendlichen an Jugendhilfeplänen sowie die Idee des Empowerments,
d.h. der Wiedergewinnung von Kontrolle über eigene
Lebensbedingungen.
Keupp tritt klar für eine stärkere (sozial-)staatliche Rolle ein,
indem z.B. soziale Netzwerkbildung in unteren Schichten vom Staat
gefördert werden soll. Er sieht die Identitätsarbeit von Menschen
durch eine Sichtweise gefährdet, in der die Regulationskraft des
Marktes alleinbestimmend für eine (sozial-)politische Agenda wird.
Dies bezieht er sowohl auf eine abstrakte politische Ebene, dann
auf die Ebene von sozial-, entwicklungs- und
gesundheitspsychologischen Theorien (Identitätsentwicklung) als
auch auf konkrete Einzelfallgeschichten. Ich halte dies für einen
anschaulichen Rahmen, um klarzumachen, vor welchem Hintergrund eher
mikroanalytische Beobachtungen von Bindungsprozessen auch zu sehen
sind.
Karl-Heinz Brisch gibt einen Überblick über wesentliche Konzepte
der Bindungsforschung wie Feinfühligkeit, Bindungsqualität des
Kindes in der Versuchsanordnung der »Fremden Situation«,
Bindungsrepräsentation der Bindungspersonen im Zusammenhang mit
deren Erfassung über das Erwachsenen-Bindungs-Interview und
Transmission dieser Bindungserfahrungen von den Eltern zum Säugling
bzw. Kleinkind. Die Bedeutung der Sprache bzw. Vokalisation und
Lautimitation in der dialogischen Abstimmung zwischen Mutter und
Kind wird gerade dann sichtbar, wenn diese Mechanismen wie bei
postpartaler Depression fehlschlagen. Bei neurologisch kranken
Kindern sind selbst Eltern mit sicherer Bindungsrepräsentation und
feinfühligem Verhalten sehr stark gefordert und leicht überfordert.
Dann erläutert Brisch die Klassifikation von Bindungsstörungen, die
er in seiner Monographie (Brisch, 1999) ausführlicher erläutert
hat. Im Unterschied zu desorganisiertem Bindungsverhalten, welches
durch pathogene Faktoren wie Misshandlung, Deprivation und
Störungen der Eltern-Kind-Interaktion vorübergehend auftreten
könne, resultieren diese Bindungsstörungen, wenn entsprechend
ungünstige frühe Beziehungserfahrungen über mehrere Jahre
angedauert haben. Brisch unterscheidet insgesamt acht Arten von
Bindungsstörungen; das Fatale an diesen besteht zum einen darin,
dass sich hier beim Kind derart bizarre Verhaltensweisen zeigen wie
z.B. soziale Promiskuität, Unfallrisikoverhalten, fehlendes
Bindungsverhalten, dass die Bindungswünsche des Kindes kaum noch
als solche erkannt werden und somit auch nicht kontingent darauf
reagiert werden kann. Zum anderen erzwingen die Verhaltensweisen
bei Bindungsstörungen, dass die Bindungspersonen sehr stark
kontrollierend darauf reagieren müssen, was eine liebevolle
Beziehung zwischen Eltern und Kind fast unmöglich macht. Eine
Behandlung, die auf eine Änderung dieses kindlichen Verhaltens
abzielt, könne nur kurzfristig wirken, da Bindungsstörungen in
einer bestimmten Interaktion entstehen, an der auch die Eltern und
deren Repräsentationen beteiligt sind. Die verhaltensbezogene
Intervention könne die zugrundeliegende Bindungsstörung letztlich
nicht therapieren. Daher müssen Anteile der Eltern am
Zustandekommen solcher Störungen mitbedacht werden.
Der praktische Bezug dieses Beitrags ist von daher sehr hoch, als
man mit der Kenntnis dieser Bindungsstörungen nun bei vielen
kindlichen Verhaltensstörungen auch Bindungsstörungen
differentialdiagnostisch abklären sollte. Ist eine solche
festgestellt, kann man vor dem Hintergrund der Bindungsgeschichte
des Eltern-Kind-Systems im Elterngespräch ggf. eher an
Bindungsrepräsentationen der Eltern gelangen.
Kritisch ist dazu einerseits anzumerken, dass eine Meta-Analyse von
Bakermans-Kranenburg, van Uzendoorn und Juffer (2003) zeigt, dass
bindungsbezogene Interventionen, die auf das Verhalten abzielen
(Feinfühligkeitstraining), einen größeren Effekt erzielten als
repräsentationsbezogene Interventionen. Zum anderen mag in der
klinischen Fallarbeit dem Beobachter noch so deutlich sein, dass
Anteile der Eltern eine Rolle spielen beim Zustandekommen einer
Bindungsstörung. Letztlich ausschlaggebend dafür, ob eine eher
repräsentationsbezogene oder verhaltensbezogene Intervention
erfolgt, sollte der Zugang zum Klientensystem sein, mit dem es am
ehesten gelingt, ein sicheres (!) Arbeitsbündnis aufzubauen. Ist
Entlastung über ein verhaltensbezogenes Training möglich, kann in
einem elternbezogenen Gespräch nach Ressourcen gesucht werden und
können dann auf einer so gewonnenen therapeutisch sicheren Basis
Suchbewegungen in elterliche Repräsentationen ggf. leichter
gestartet werden.
Wilfried Datler untersucht die Frage, ob die Bindungstheorie für
die psychoanalytische Theorienbildung von Bedeutung ist. Obwohl
diese wissenschaftstheoretische Fragestellung an sich eher
praxisfern wirkt, gelingt es ihm, die Relevanz dieser Fragestellung
für die Praxis klarzumachen.
Er unterscheidet zwischen unmittelbarer und mittelbarer Wirkung der
Bindungsforschung auf die Psychoanalyse. Eine Forschungsrichtung
übt einen unmittelbaren Einfluss auf ein bestehendes Theoriensystem
aus, wenn deren Ergebnisse ohne Brüche und Modifikationen darin
eingefügt werden können. Zwar habe die Bindungsforschung
Variationen von innerpsychischen Konflikten (nämlich »Sicherheit
vs. Autonomie«) und Abwehrprozessen (wie das Unterdrücken von
Gefühlen bei unsicher-meidenden Kinden) detailliert untersucht und
sei von daher eine Bereicherung für psychoanalytische
Modellbildung. Die Art und Weise aber, wie die Bindungsforschung
die genannten Abwehrprozesse untersucht, sieht Datler kritisch, da
das Hauptinteresse der Bindungsforschung auf einige Kernkonzepte
wie Feinfühligkeit und Bindungsmuster begrenzt ist. Demgegenüber
geht es der Psychoanalyse ja um latente oder manifeste mentale
Inhalte des Erlebens, es werde ein viel breiteres Feld menschlichen
Erlebens abgedeckt. Diesen Unterschied zeigt er an einem
Fallbeispiel, in welchem ein sechs Monate alter Säugling von seiner
Mutter zwar liebevoll gestillt, gefüttert, gewickelt und gebadet
wird, ein affektiver Austausch aber unabhängig von solchen
Pflegesituationen kaum zu beobachten ist. Aus Sicht der
Bindungstheorie könne man sich hier darüber verständigen, ob die
Mutter feinfühlig handelt (was offensichtlich der Fall ist) und
Prognosen zum Bindungsstatus ein Jahr später abgeben. Für die
psychoanalytische Pädagogik jedoch stellen sich im Anschluss an
solche Beobachtungen eine Reihe von weiterführenden Fragen: Wie
erlebt der Säugling Phasen, in denen er nach Abschluss einer
feinfühligen Pflegesituation allein gelassen wird? Was bedeutet es,
wenn er nach sonst oft tränenlosem Aufschreien erstmals in einer
Interaktion mit der Mutter Tränen zeigt? Welche Motive leiten die
Mutter?
Dann bespricht Datler mittelbare Folgen der Bindungstheorie für die
Psychoanalyse und stellt fest, dass Ergebnisse
bindungstheoretischer Untersuchungen zu einer Abänderung einiger
analytische Konzepte geführt haben. So habe man erkannt, dass die
dualistische Triebtheorie Freuds nicht erklären kann, wie das
Bedürfnis nach Bindung zustandekommt, so dass Lichtenberg eine
Modifikation der Vorstellung von motivationalen Systemen vornahm,
in der das Bedürfnis nach Bindung eine zentrale Rolle spielt. Dies
sei keine bloße Ergänzung, sondern eine Neukonzeption gewesen. Auch
dass bei einem unsicher-meidend gebundenen Kind bereits ab dem 12.
Lebensmonat Abwehrprozesse anzunehmen sind, ist eine Neuerung durch
die Bindungstheorie, da dies bedeutet, dass eine Strukturbildung in
der Persönlichkeit stattfindet, noch ehe das Kind über
Symbolisierungsfähigkeiten verfügt.
An einem Fallbeispiel aus dem Text »Ghosts in the Nursery« von
Selma Fraiberg demonstriert er noch weitere Konsequenzen, die die
Bindungsforschung für die psychoanalytische Praxis hat. Darin
spielt das psychoanalytische Konzept des containment von Bion eine
wichtige Rolle: Eine Mutter, die in der therapeutischen Arbeit über
ihre eigenen negativen Erfahrungen in der Kindheit sprechen kann,
wird von diesen »Gespenstern« loslassen können und dann ihr eigenes
Kind weniger als Projektionsfläche nutzen und weniger verzerrt
wahrnehmen müssen. Für diese therapeutische Arbeit muss der
Therapeut die schlimmen Erlebnisse der Mutter quasi wie ein
Container aufnehmen, eine Zeitlang aufbewahren, dann aber in
verträglicherer Form wieder an die Mutter zurückgeben können.
Dieses Containment-Konzept erfuhr nun durch die Bindungstheorie
eine Weiterentwicklung; Fonagy und Mitarbeiter fanden nämlich, dass
die Art der Bindung weniger von der Feinfühligkeit der Eltern
abhängt, sondern mehr von deren Fähigkeit, eigenes und kindliches
Verhalten als Ausdruck von Gefühlen, Wünschen etc., kurz: von
mentaler Befindlichkeit zu sehen. Dies wird als
Mentalisierungsfähigkeit bezeichnet. Haben Kinder Eltern mit
solchen Fähigkeiten, die also kindliche Verhaltensweisen nicht
verzerrt wahrnehmen, sondern als Ausdruck eines affektiven
Zustandes, dann finden hier auch erfolgreiche Containment-Prozesse
statt. Somit ergibt sich die Verknüpfung von sicherer Bindung und
erfolgreichem Containment. Schließlich zeigt Datler, dass sich die
dadurch ergebenden theoretischen Modifikationen am
containment-Konzept bereits in der Fallschilderung von Selma
Fraiberg finden, dass diese somit auch Relevanz für die Praxis
haben, jedoch zum damaligen Zeitpunkt nicht weiter beachtet und
ausgearbeitet worden waren.
Eva Hédervári-Heller erläutert die psychobiologische Sichtweise auf
die Mutter-Kind-Interaktion in den ersten Lebensmonaten. Diese von
Hanus und Mechthild Papousek geprägte Richtung geht davon aus, dass
auf Seiten von Mutter und Kind angeborene Verhaltensprogramme in
der Mutter-Kind-Interaktion eine Rolle spielen, und zwar schon
früher als von Psychoanalyse und auch Bindungstheorie angenommen.
Dabei wird zunehmend der aktiven Rolle des Säuglings in der
Entwicklung der Mutter-Kind-Interaktion Beachtung geschenkt. Diese
Programme gewährleisten, dass die Mutter aus den Signalen des
Säuglings erkennt, was ihm fehlt. Störungen in dieser Abstimmung
können entstehen, wenn Mütter Signale des Säuglings falsch
interpretieren, so z.B. das Kopfwegdrehen als Ablehnung ihrer
Person statt als Selbstregulation des Erregungsniveaus, oder
unangemessen bzw. nicht rechtzeitig darauf reagieren.
Die Autorin berichtet dann von einer eigenen Untersuchung zum
Zusammenhang von Bindungssicherheit des Kindes im Alter von 12
Monaten mit unterstützender Responsivität der Mutter auf den
affektiven Zustand des Kindes im Alter von 2 bis 3 Jahren.
Unterstützende Responsivität bedeutet z.B., dass die Mutter einen
negativen Affekt des Kindes in einen positiven oder neutralen
umwandelt. Erwartungsgemäß zeigte sich, dass diese Responsivität
der Mutter mit der Bindungssicherheit des Kindes zusammenhängt:
Mütter bindungssicherer Kinder verhielten sich unterstützender als
die der unsicher gebundenen Kinder. Allerdings fand man diesen
Unterschied nur im 2. Lebensjahr, im 3. Lebensjahr waren die
Unterschiede zwischen den Bindungssicheren und –unsicheren
aufgehoben. Dies lag v.a. daran, dass die Mütter mit Älterwerden
des Kindes unabhängig von der Bindungssicherheit des Kindes
responsiver wurden, zum einen, weil alle Kinder nun mehr
kommunikative Kompetenzen besaßen, zum anderen, weil die Kinder nun
auch Wünsche und Ziele des Gegenübers berücksichtigen
(zielkorrigierte Partnerschaft). Das Kind wird so mehr und mehr als
ein Sozialpartner wahrgenommen, demgegenüber man sich entsprechend
unterstützender verhält.
Die unterstützende Responsivität durch die Mutter wird an zwei
Beispielen aus Beobachtungssituationen, in denen Mutter und Kind
miteinander spielen, verdeutlicht: Während des gemeinsamen Spiels
bewegt sich plötzlich ein kleiner Spielzeugroboter geräuschvoll im
Untersuchungsraum. Dieses mit der Mutter vorher vereinbarte
Ereignis wirkt dabei für die Kinder stressauslösend. Es wird
zunächst eine Mutter-Kind-Dyade mit unsicherem Bindungsmuster
beschrieben, in der es dem Kind wesentlich schwerer fällt, seine
negativen Affekte zu regulieren, als dies in der sicheren
Mutter-Kind-Dyade zu sehen ist. Der Mutter fällt es im ersten
Fallbeispiel auch wesentlich schwerer, das Kind zu beruhigen, es
also in der Affektregulation zu unterstützen.
Der Beitrag gibt einen überschaubaren theoretischen Rahmen vor und
greift hieraus mit der Responsivität ein Phänomen der
Affektabstimmung heraus, welches auch von praktischer Relevanz ist.
Dies wird dann von einer empirischen Untersuchung untermauert und
schließlich an zwei Einzelfällen verdeutlicht, so dass dies als ein
Beispiel für sowohl überzeugende quantitative als auch qualitative
Forschung gesehen werden kann, die einen hohen Praxisbezug hat,
z.B. in der Mutter-Säuglings bzw.-Kleinkind-Beratung von
Regulationsstörungen. Die Autorin räumt dabei ein, dass bei aller
Klarheit der Fallbeispiele hier isoliert das Phänomen der
Responsivität im Mittelpunkt stand, während der Praktiker auch
kindliche Faktoren wir leichte Irritabilität oder
Temperamentsfaktoren berücksichtigen muss.
Die folgenden drei Beiträge benutzen einen anderen als den
herkömmlichen Bindungs- bzw. Beziehungsbegriff, indem sie bereits
die vorgeburtliche Phase in die Bindungsentwicklung
einbeziehen.
Hans von Lüpke schreibt in seinem Beitrag, dass die
Bindungsentwicklung nicht mit der Geburt beginne, sondern von
vorgeburtlichen Bindungs- bzw. Beziehungserfahrungen auszugehen
sei. Hieraus leitet er Konsequenzen für die Interpretation und
Begleitung von Kindern mit Verhaltensauffälligkeiten ab.
Pränatale Beziehungserfahrungen würden im Uterus über hormonale,
akustische, vestibuläre, olfaktorische und taktile Signale
vermittelt. Einen Beleg hierfür sieht er darin, dass bereits
Neugeborene über eine amodale Wahrnehmung verfügen, wonach
Reizinformation aus einem Sinneskanal nicht nur in dem zugehörigen
Hirnzentrum verarbeitet wird, sondern auch in Zentren anderer
Sinneskanäle. So ist gezeigt worden, dass Säuglinge die
verschiedenen Formen von Schnullern visuell unterscheiden können,
auch wenn sie diese vorher nicht gesehen, sondern nur im Mund
gespürt haben. Analog deute auch der Befund, dass das Neugeborene
unmittelbar nach der Geburt das Gesicht der Mutter fixiert, auf
eine amodale Wahrnehmungsverarbeitung pränataler Erfahrungen hin,
da nun dem visuellen System die bekannten olfaktorischen,
akustischen etc. Reize aus der Zeit im Uterus zur Verfügung
stehen.
Die Säuglingsforschung, die pränatale Beziehungserfahrungen nicht
berücksichtige, hält er für widersprüchlich, wenn z.B.
interindividuell unterschiedliche Reaktionsweisen von Neugeborenen
wie Wut oder Trauer auf etwas Unerwartetes mit angeborenen
Temperamentsunterschieden statt mit pränatalen Erfahrungen erklärt
werden. Den Begriff des Auftauchens eines Kernselbst von Daniel
Stern in der frühkindlichen postnatalen Entwicklungsphase hält er
für widersprüchlich, da das impliziere, dass etwas pränatal
Vorhandenes nun zum Vorschein kommt. Dieses »Auftauchende« müsse
allein vom Begriff her schon pränatal erworben worden sein, was
jedoch von Stern nicht thematisiert werde.
Für die Beratungsarbeit könne die pränatale Sichtweise insofern
entlastend wirken, als den Eltern klargemacht werden kann, dass ihr
Kind bereits dann ein eigenständiges Wesen mit bestimmten
Eigenschaften ist, wenn es auf die Welt kommt und sie somit vieles
von dem, was später ggf. zu Abweichungen führt, nicht beeinflussen
können. Diese Eigenschaften habe das Kind durch pränatale
Beziehungserfahrungen gemacht. Die etablierte Vorstellung hingegen,
das Kind sei von Geburt an »amorph«, quasi eine tabula rasa und
könne nun »geformt« und erzogen werden, führe viel eher zu
Schuldvorwürfen, wenn das Kind später Auffälligkeiten zeigt.
Diese Argumentation finde ich nicht ganz schlüssig: Entlastend für
Eltern ist es zu wissen, das Kind ist ein eigenständiger Mensch,
den man nur begrenzt beeinflussen kann, soweit stimme ich zu. Von
Lüpke sagt aber gerade, diese Eigenschaften wären durch pränatale
Beziehungserfahrungen entstanden. Wendet man dies auf die Beziehung
von der Mutter zum Ungeborenen an, dann ist fraglich, inwiefern es
für Eltern entlastend wirken soll, die ja in dieser Beziehung nur
eine sehr begrenzte Einflussnahme haben. Das Beziehungskonstrukt
ist m.E. eher dann hilfreich, wenn Eltern sich darin als effektiv
erleben, eine positive und konsequente Beziehung zum Kind
aufzubauen und somit Einfluss auf das Kind zu nehmen.
Zustimmen möchte ich dem Autor insofern, als die Mutter Phantasien
über das Ungeborene hat, die auch mit den Bewegungen des Fetus –
deren besonderer Lebhaftigkeit oder gar deren Fehlen – im
Mutterleib zutun haben, und dass solche Phantasien und Bewertungen
für die künftige Beziehung zu diesem Kind eine Bedeutung haben.
Spannend wäre nun, wie sich der Autor diese vorgeburtliche
Interaktion vorstellt, er schreibt hierzu: »so interpretiert die
Mutter eine Bewegung ihres Kindes als Mitteilung seiner emotionalen
Verfassung jeweils ihren eigenen Voraussetzungen entsprechend. Aus
dieser Interpretation entsteht die Antwort auf das Kind – auf
welchem Weg auch immer.« (S. 138) Eine ausführlichere Darstellung
der empirischen Evidenz für die postulierte Kontinuität zwischen
vor- und nachgeburtlichem Verhalten und Beziehungserfahrungen wäre
hier wünschenswert.
Der Beitrag von Joachim Heilmann – ebenso wie der von Susanne
Küpper-Heilmann – bezieht sich in der Argumentation sehr eng auf
den Beitrag von von Lüpke.
Heilmann erörtert den Befund, dass der Beziehungsaufbau bei Kindern
mit neurologischen Erkrankungen und Behinderungen sowie
autistischen Kindern für Eltern sehr viel schwieriger ist als bei
Gesunden. Autistische und andere behinderte Kinder lassen sich oft
nicht in die klassischen Bindungskategorien einteilen und zeigen
z.T. auch kein Bindungsverhalten, da sie von Geburt an die
entsprechenden affektiv-kognitiven Voraussetzungen nicht
mitbringen. Insofern sind diese Kinder insgesamt gesehen wesentlich
stärker an der Entstehung von Bindungsmustern und
Beziehungsstrukturen beteiligt als gesunde Kindern.
Ein Fallbeispiel hierzu handelt von einem autistischen Jungen,
dessen Mutter während der Schwangerschaft von dem Vater des Kindes
verlassen wurde. Das Kind wurde nach der Geburt nicht von der
Mutter, sondern von den Krankenschwestern gepflegt, die Mutter
durfte ihn nur einige Stunden am Tag sehen (institutionalierter
Hospitalismus). Nach zwei Wochen kam er in eine Pflegefamilie. Die
leibliche Mutter besuchte ihn zeitweise bei der Pflegefamilie. Zum
Zeitpunkt der Spieltherapie, über deren Sitzungsinhalte dann
berichtet wird, war der Junge vier Jahre alt. Die Spieltherapie
führt dazu, dass der Junge nach und nach mehr Kontakt mit dem
Therapeuten aufnehmen konnte und dass bei beiden so etwas wie
Gemeinsamkeit entstand. Der Autor führt beispielhaft sich
wiederholende Spiele und Rituale an, in denen es darum geht, dass
der Junge sich gern einwickeln lässt oder in einem Schrank
versteckt. Im Laufe der Therapie wollte der Pflegevater zunächst
den Kontakt zwischen dem Jungen und der leiblichen Mutter
verhindern, dann wurde der Junge aufgrund einer Herzerkrankung des
Pflegevaters wieder abgegeben in eine andere Pflegefamilie;
übergangsweise musste er einige Monate in einer Kinder- und
Jugendpsychiatrie aufgenommen werden.
Für die leibliche Mutter bedeutete die Geburt des Kindes zugleich
auch quasi dessen Verlust, da sie das Kind sofort in fremde Hände
geben musste. Daher wirft der Autor die Frage auf, inwiefern dieser
Umstand, der von der Mutter während der Schwangerschaft ggf.
unbewusst antizipiert wurde, sich während der Schwangerschaft auf
die Beziehung von Mutter und Kind ausgewirkt habe. Er zieht unter
anderem eine Verbindung zwischen dieser pränatalen Erfahrung und
dem späteren autistischen Erscheinungsbild. Dabei ist dies gerade
keine Argumentation für den Beitrag des Kindes, sondern primär für
einen eltern- bzw. institutionenbezogenen Beitrag zur
Beziehungsentwicklung. Deutlicher wäre dies ggf. mit einem
Fallbeispiel eines organisch beeinträchtigten Kind geworden, zu dem
es auch sicher gebundenen Eltern schwer fällt, eine Beziehung
aufzubauen. Damit lässt sich meines Erachtens auch an diesen
Beitrag die Frage stellen, inwiefern es für die therapeutische
Arbeit mit den Eltern entlastend und hilfreich ist, einen
Zusammenhang zu pränatalen Beziehungserfahrungen herzustellen.
Auch Susanne Kupper-Heilmann geht es in ihrem Beitrag um
Auswirkungen frühen Mutterverlustes auf die psycho-emotionale
Entwicklung des Kindes, was sie anhand von Fallbeispielen aus dem
heilpädagogischen Reiten zeigt. Die Autorin vertritt die
Auffassung, dass der Fetus bestimmte Erwartungen an das Versorgt-
und Gehaltenwerden seitens der Mutter nach der Geburt mitbringe,
weil er auf dieses spezielle Muster schon vorgeburtlich geprägt
sei. Findet diese Erwartung durch die Bindungspersonen keine
entsprechende Antwort, weil wie bei einer Adoption kein Kontakt
mehr zur leiblichen Mutter besteht, entstehe ein Bruch. Dieser
Bruch werde bei Adoptionseltern häufig verschwiegen. Wesentlicher
erscheint der Autorin aber, ob, wann und in welcher Weise dieser
»Bruch« später von den Adoptiveltern mit dem Kind thematisiert
wird. Hierzu erläutert sie nach einer Übersicht über Arten und
Theorie des therapeutischen Reitens Untersuchungen zur Adoption.
Dabei handelt es sich um Auswertungen, die der von Kupper-Heilmann
zitierte Psychoanalytiker H. Wieder an eigenen Fällen vorgenommen
hat. Er kommt zu dem Ergebnis, dass man nicht genau sagen könne,
wann der geeignetste Zeitpunkt dafür ist, ein adoptiertes Kind über
seine Herkunft aufzuklären. Er fasst die Befundlage mehrerer
(leider nicht angeführter) Studien dahingehend zusammen, »dass es
psychologischen und psychohygienischen Erwägungen in Bezug auf
Adoptierte eher entspricht, wenn die Aufklärung kleinerer Kinder
hinausgeschoben und älteren Adoptierten der Zugang zu ihrer
Geschichte eröffnet wird« (S. 176f). Konkret hieße dies nach
Wieder, dass Kinder im Vorschulalter nicht in der Lage seien, eine
Aufklärung über ihre Herkunft angemessen zu verarbeiten.
Es folgen zwei Fallvignetten aus der Arbeit des heilpädagogischen
Reitens der Autorin mit einem 6jährigen und einer 18jährigen, die
im Alter von wenigen Tagen zu ihren Adoptiveltern gekommen waren.
Der Beitrag liefert einen interessanten Einblick in das
heilpädagogische Reiten und Hinweise für den Umgang mit
Adoptivkindern, insbes. mit der Aufklärung der Kinder darüber. Ich
halte die Beobachtung des »Bruchs« für sehr relevant, wie auch die
Fallbeispiele zeigen. Ob jedoch ein solcher Bruch in der
Entwicklung für das Kind tatsächlich zustandekommt und, wenn ja, in
welcher Weise, dafür werden ebenfalls keine empirischen Belege
angeführt.
Rolf Göppel beleuchtet den Zusammenhang von frühen
Bindungserfahrungen und sozialer Kompetenz von Kindern. In der
entwicklungspsychologischen Forschung standen zunächst insbesondere
Kinder mit Deprivationserfahrungen in der frühen Kindheit, etwa
Kinder aus Säuglingsheimen, im Fokus von Untersuchungen. Während in
der psychoanalytischen Tradition oftmals die sehr frühe Trennung
von der Mutter für späteres aggressives und delinquentes Verhalten
von Kindern und Jugendlichen verantwortlich gemacht wird, zeigt
sich bei genauerem Hinsehen, dass diese Kinder überwiegend nicht an
Verhaltensstörungen, sondern an emotionalen Problemen wie
Schlafstörungen, Antriebsstörungen, Rückzug, Ängstlichkeit und
Depressivität leiden. Dies ergab eine Hospitalismusstudie von Marie
Meierhofer und Wilhelm Keller, die Ende der 50er Jahre begann und
1971-1973 eine Nachuntersuchung beinhaltete. Bemerkenswert dabei
ist, dass diese Symptome nicht etwa auf belastende frühkindliche
Phasen, sondern auf die Zeit nach dem Heimaufenthalt zurückzuführen
waren. Die Daten aus den früheren Phasen dieser Kinder hatten
nämlich wenig prognostische Aussagekraft für das Wohlbefinden im
frühen Jugendlichenalter. Ausschlaggebend war die soziale Umwelt
nach dem Heimaufenthalt: »Frühe Erfahrungen hinterlassen nur dann
bleibende Spuren, wenn sie durch spätere, gleichartige Erfahrungen
immer wieder verstärkt werden. ... Eine gestörte psychische
Entwicklung ist nicht Resultat von früher, sondern von
kontinuierlicher Erfahrung; frühes soziales Lernen ist nicht
wirksamer als späteres soziales Lernen« zitiert Göppel Ernst und v.
Luckner, (1985, Stellt die Frühe Kindheit Weichen, S. 152).
Göppel führt dann Risikofaktoren für das Entstehen von
antisozialem, aggressivem Verhalten auf, die aus einem Bündel von
Aufwachsen in einem familiären Klima von fehlender Wärme,
Demütigung und Gewalt bestehen. Er untersucht, ob sich neben diesen
relativ globalen Kategorien auch subtilere Formen einer gestörten
Eltern-Kind-Interaktion ausfindig machen lassen, die eine
prognostische Aussagekraft bzgl. der sozialen Entwicklung des
Kindes haben, und kommt von diesem Ansatzpunkt auf die
Bindungsforschung. So wurde zum Beispiel im Rahmen der Regensburger
Längsschnittstudie der Zusammenhang vom Bindungsmuster der Kinder
im Alter von einem Jahr mit der Sozialkompetenz von Kindern im
Alter von fünf Jahren nachgewiesen: Als sicher gebunden
klassifizierte Kinder waren in Spielsituationen im Kindergarten
seltener in Konflikte verwickelt als unsicher klassifizierte; wenn
sie in Konflikte verwickelt waren, bewältigten sie diese
kompetenter, indem sie diese beilegten und ohne Hilfe der
Erzieherinnen eine Lösung fanden. In Bildgeschichten konnten sie
realistischer wahrnehmen, ob einer Konfliktszene eine Absicht eines
Kindes oder ein Versehen zugrundelag.
Göppel macht somit deutlich, dass mit Hilfe eines methodischen und
objektiven Vorgehens wie in der Regensburger Längsschnittstudie
(durch Integration verschiedener Datenebenen, unabhängigen und
nicht in Untersuchungshypothesen eingeweihten Beobachtern) vor dem
Hintergrund der Bindungstheorie eine Erklärungslücke in der
Entstehung von sozialen Defiziten bei Kindern geschlossen werden
kann. Konnten bisherige Ansätze keine Kontinuität zeigen von frühen
Störungen im Säuglingsalter zu sozialen Defiziten im Kindesalter,
gelingt dies der bindungsbasierten Längsschnittforschung
überzeugend. Dies hängt damit zusammen, dass die psychoanalytisch
orientierte Forschung eher retrospektiv vorgehe und
(Fehl-)Entwicklungen an – sehr ausführlich dokumentierten –
Einzelfallberichten festmache. Dabei werde meist versucht,
identische Verhaltensmuster aufzuspüren, die sich wie ein roter
Faden durch eine Fallgeschichte ziehen. Aufgrund der Komplexität
der Entwicklung finde man jedoch solche identischen
Verhaltensweisen kaum: »Es wäre sicherlich unangemessen, bei jenen
problematischen Verhaltensweisen nun einfach von einer Fixierung an
bestimmte frühkindliche Verhaltensmuster auszugehen. Natürlich
verhält sich ein Kind, das im Kindergarten- oder Grundschulalter
wegen Defiziten im Sozialverhalten auffällig wird, nicht wie ein
Säugling« (S. 208).
Der Bindungstheorie hingegen geht es um Ähnlichkeiten von
Verhaltensmustern im Entwicklungsverlauf: Ein Kind, das eine
sichere Bindungsbeziehung erlebt hat, wird diese Art des sozialen
Umgangs miteinander verinnerlichen und auf andere soziale
Beziehungen übertragen. Und somit bekommt es auch ein positiveres
Feedback von seiner Umwelt, z.B. den Gleichaltrigen und
Erzieherinnen im Kindergarten, was wiederum die Sozialkompetenz des
Kindes stärkt. Unsicher gebundene Kinder bekommen demnach
kontinuierlich ein eher negativeres Feedback und damit Selbstbild,
was der Sozialkompetenz immer abträglicher werden kann. Damit
ergibt sich im Sinne von Rückkopplungsschleifen zwischen Kind und
Umwelt eine Stabilität von sozialen Erfahrungen und
Verhaltensmustern, und diese Muster sind im Laufe der Jahre
einander ähnlich, aber eben nicht identisch. Gleichzeitig liegt dem
kein linear-kausales Denken zugrunde, denn die einzelnen sozialen
Kompetenzen, Verhaltensstile und Rollen, die Kinder in Gruppen
haben, lassen sich nicht allein aus dem Bindungsstil der frühen
Kindheit erklären. Dieser ist aber ein bedeutsamer Schutz- resp.
Risikofaktor für die Entwicklung der kindlichen
Sozialkompetenz.
Georg Romer stellt in seinem Beitrag Anwendungen der
Bindungstheorie in der Prävention von Verhaltensstörungen bei
Kindern und Jugendlichen dar. Wichtig für die Praxis ist dabei,
dass die Wirkung der schon öfter erwähnten Risiko- und
Schutzfaktoren auf die Entwicklung eines Kindes nur vor dem
Hintergrund seiner individuellen Beziehungserfahrungen und deren
Verinnerlichung (Repräsentationen) im Laufe der Jahre verständlich
sei. Auf diesem Gebiet habe die Bindungstheorie die wichtigsten
Erkenntnisse geliefert, und uneingeschränkter als Wilfried Dattler
gesteht Romer dieser zu, »von den benachbarten
Wissenschaftsdisziplinen der Psychoanalyse, der Verhaltensbiologie,
der kognitiven Entwicklungspsychologie und der empirischen
Säuglingsforschung rezipiert und integriert« (S.212) worden zu
sein.
Romer geht es auch darum, Fehlschlüsse und Missverständnisse der
immer mehr »in Mode« gekommenen Bindungstheorie aufzuklären bzw. zu
beheben. Hierzu gehört als erstes, dass eine unsichere Bindung
nicht pathologisch ist, sondern je nach sozialer Umwelt des Kindes
eine funktionale Anpassung darstellt. Die These
»Beziehungskontinuität führt zu Bindungssicherheit« lasse sich
insofern entkräften, als mehrere empirische Untersuchungen zeigten,
dass man keinen Unterschied in der Bindungsqualität zeigen kann
zwischen Kindern, die zu Hause betreut werden und solchen, die
wegen Berufstätigkeit der Mutter fremdbetreut sind. Hierbei spielt
natürlich die kindgerechte und feinfühlige Betreuung bei der
Fremdpflege eine Rolle.
Romer erläutert, dass im Rahmen der Bindungsentwicklung interne
Arbeitsmodelle gebildet werden, in denen wir unser
In-Beziehung-Sein mit wichtigen Bezugspersonen abspeichern. Diese
internen Repräsentationen von Beziehungen entwickeln sich jedoch
auch dann noch weiter, wenn die Bindungsentwicklung abgeschlossen
ist: So kann ein Kind mit sicherer Bindung durch später erlebte
Traumatisierung in seinen Bindungsrepräsentanzen erschüttert
werden, und ein Erwachsener mit ursprünglich unsicherer Bindung
kann durch spätere, korrigierende Erfahrungen zu sicheren
Bindungsrepräsentanzen gelangen. Hieraus leitet Romer ab, dass
Präventivmaßnamen immer dann erfolgen sollten, »wenn in einer
Belastungssituation das Risiko besteht, dass ein Kind nachhaltig
emotional überfordert ist und, von Ohnmachtsgefühlen überschwemmt,
das Gefühl basaler Zuversicht zu verlieren droht, die Situation
bewältigen zu können« (S. 219).
Typische Risikokonstellationen wie psychische oder körperliche
Erkrankung oder Verlust eines Elternteils, Kriminalität, Armut,
Misshandlung bzw. Missbrauch sind aus der Forschung bekannt; die
Verbindung zur Einzelfallarbeit besteht nach Romer in der
indizierten Sekundärprävention, was bedeutet, in einem
institutionellen Rahmen (z.B. in einer Klinik für Unfallopfer)
konsiliarisch präventiv einzugreifen, »ohne dass es durch
bestehende Krankheitssymptome und dadurch ausgelöste aktive
Hilfesuche im therapeutischen System einen definierten
Behandlungsauftrag gibt« (S. 220). In einem Fallbeispiel schildert
Göppel sehr eindrucksvoll, wie ein Vater vom Therapeuten darin
unterstützt wurde, eine wichtige Entscheidung (ob seine achtjährige
Tochter zur Mutter, bei der der Hirntod festgestellt wurde, ans
Krankenbett gelassen werden kann oder nicht) dadurch selbst zu
treffen, dass ihm wieder ein Zugang zu seinen intuitiven
Vatergefühlen ermöglicht wurde. Dies kann in zweierlei Hinsicht als
eine bindungsbezogene Intervention verstanden werden: Zum einen, da
der Vater dem Kind wieder als sichere Basis zur Verfügung stand und
entscheiden konnte, was in dieser schwierigen Lage zu tun ist. Zum
anderen, da die Intervention darauf abzielte, dass der Vater wieder
Zugang zu seinen intuitiven Vatergefühlen bekam.
Insgesamt ermöglicht die Zusammenschau der Beiträge aus diesem
Buch, das Thema Bindung und Beziehung in seinen vielfältigen
sozialen, wissenschaftstheroretischen und therapeutisch-praktischen
Bezügen zu sehen. Es wird deutlich, dass »belastende Bindungsmuster
… angemessene Antworten durch professionelle Erziehung, soziale
Arbeit und Therapie sowie institutionelle Rahmenbedingungen, die
haltende Funktionen ermöglichen«, erfordern (S.8). Zwar geht dies
teilweise auf Kosten eines inhaltlich unscharfen Bindungsbegriffs,
der in vielen Beiträgen eher synonym zu Beziehung verwendet wird.
Dies erwartet man vom Titelbegriff »Bindungsstörungen« nicht, da
dieser ja, wie Karl-Heinz Brisch zeigt, in der klinischen Praxis
sehr spezifisch verwendet werden sollte. Angesichts eines solch
elementaren und existentiellen Themas wie der Bindung bzw.
menschlicher Beziehungen ist die Breite der dargestellten Bezüge
jedoch sicher angemessen. Hervorzuheben ist dabei insbesondere,
dass bei unterschiedlicher theoretischer Ausrichtung und
verschiedener Schwerpunktsetzung der AutorInnen alle Beiträge von
der Anschaulichkeit der jeweiligen Fallbeispiele sehr profitieren.
Ich wünsche dem Buch eine große Leserschaft.
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