Rezension zu Der Holocaust im Leben von drei Generationen
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Rezension von Renate Franke
Wie gehen wir mit Vergangenheit um? Gehört sie noch zur Gegenwart
und zur Zukunft? Erzählen Eltern und Großeltern ihren Kindern und
Enkeln noch vom Früher, vom Wie-es-einmal-War? Walter Benjamin
beobachtete bereits die Akkulturation des Erzählens. Er sah den
Grund in der Ausgrenzung des Todes aus dem Leben. Da »echtes«
Erzählen »angesichts des Todes«, im Bewusstsein von Werden und
Vergehen sich gestaltet, zerstört ein Weglassen, ein Ausblenden,
Verschweigen oder gar Verleugnen ein Erzählen, das Geschichte, auch
Familien- und Lebensgeschichte, tradiert.
Vor allen Dingen nach dem letzten Krieg ist Schweigen an die Stelle
des Erzählens getreten. Es ist ein Ver-Schweigen von
unterschiedlichsten Verstrickungen in Vorkriegs- und Kriegszeit
unter der Ägide des Nationalsozialismus. Dabei schweigen die Opfer
und ihre Nachkommen ebenso wie die Täter und ihre
Familienangehörigen. Doch »wenn die Großeltern oder Eltern als
Überlebende der Shoah nicht von ihren Erlebnissen sprechen, so ist
ihr Schweigen mit ganz anderen Problemen und Motiven verbunden als
das Schweigen der Großeltern und Eltern, die aktiv an den
Nazi-Verbrechen teilgenommen haben«, schreibt Gabriele Rosenthal,
die Herausgeberin und wissenschaftliche Leiterin der im Titel
genannten Studie.
Das Schweigen der Großelterngeneration hat Auswirkungen, ebenso die
Abwehr der Enkelgeneration. Die Familiendynamik, der unvollständig
geführte Dialog, zeigen oberflächlich ähnliche Mechanismen: Abwehr
von Informationen über die Familien-Vergangenheit, Ängste vor
Vernichtung und Trennung, symbiotische Tendenzen und verzögerte
Individuation und Autonomieentwicklung aufgrund unauflösbarer
Loyalitäten, Schuldgefühle, psychosomatische Beschwerden,
Depressionen – auch in der Enkelgeneration – und Ausagieren der
verschwiegenen oder verleugneten Familiengeschichte in Phantasien
und Alpträumen kennzeichnen den problematischen Umgang mit der
Vergangenheit.
Familiengeheimnisse wirken im Untergrund. Doch auch hier
unterscheiden sich die Inhalte und Funktionen entsprechend der
jeweiligen Familiengeschichte. Die Gemeinsamkeiten, Unterschiede
und die jeweiligen Auswirkungen erforschte ein Team in
exemplarischen Fallstudien mit der Methode des
biographisch-narrativen Interviews. In diesen Interviews wurden die
Lebensgeschichten von einzelnen Familienangehörigen jeder der drei
Generationen aus Opfer-, Täter- oder Mitläuferfamilien in West-,
Ostdeutschland (ehem. DDR) und Israel erfragt und erzählt. Auch
Familiengespräche, z. T. mit Vertretern aller dreier Generationen,
fanden statt. Insgesamt wurden mit zwanzig Familien aus Israel und
achtzehn aus Deutschland Gespräche geführt. Israelische und
deutsche Autorinnen, ein interdisziplinäres Forscherteam, aus
Soziologinnen, Psychologinnen und Politologinnen zusammengesetzt,
führte diese Studie durch. Nicht nur die Inhalte des Erzählten,
sondern auch die Art und Weise, Auslassungen, Wortwahl und der
Erzählfluss führten zu den schon teilweise benannten Ergebnissen.
Dass einfühlsames Zuhören, wozu auch die innere Bereitschaft
gehört, dieser schwierigen Thematik Raum zu geben, die Methode erst
wirksam macht und ein fruchtbares Wechselspiel zwischen Erzählen
und Zuhören stattfinden kann, wird bei der Lektüre deutlich. Dass
überhaupt erzählt, das Schweigen durchbrochen werden konnte, ist
das große Verdienst dieser Wissenschaftlerinnen, die sich auch
selbst damit ihrer familiengeschichtlichen Vergangenheit
stellten.
Diese am Konkreten orientierte Forschung ergab weiterhin, dass das
Nicht-Erzählte auch in Mythen- und Phantasiebildungen, die sich
strukturell wiederum unterscheiden, Ausdruck findet. Die
Überlebenden verfolgter Familien bilden Mythen, die sich auf Stärke
und Widerstand konzentrieren (z. B. soll der Großvater einen
SS-Mann im Internierungslager geohrfeigt haben), während in
Täter-Familien die »Opferrolle der Familienangehörigen strapaziert
wird.« Auf der einen Seite werden Ohnmachtsgefühle kompensiert, auf
der anderen Seite soll das Bild des »sauberen Soldaten«, der
»sauberen Wehrmacht«, die Verstrickung in Unrecht und Verbrechen
abwehren. Der Vergleich erzählter Lebensgeschichten zeigt auch in
anderer Hinsicht strukturelle Differenzen: »Während die Mitläufer
und auch die Täter des Nationalsozialismus stundenlang über ihre
Erlebnisse während der Kriegsjahre erzählen, haben die Verfolgten
Erinnerungs- und Erzählschwierigkeiten.« Die ersten versuchen zu
verhüllen, die Überlebenden versuchen zu enthüllen, wozu sie die
aktive Unterstützung des Zuhörers brauchen. G. Rosenthal
beobachtete, »dass mit der Erzählung der Lebensgeschichte geradezu
heilende Prozesse eingeleitet werden können.«
Die Wiedergabe der Interviews ist den Autorinnen sehr gut gelungen.
Zusammenfassungen, Kommentare, Interpretationen, Deutungen,
teilweise mit Hilfe familiendynamischer und therapeutischer
Methoden, wörtlich transskribierte Passagen bringen atmosphärisch
das Erzählte wie das Verschwiegene, die Nöte und Probleme sowie die
Bewältigungsversuche von Menschen nahe, die in eines der düstersten
Kapitel der Menschheitsgeschichte verstrickt waren und auch noch
sind. Denn das ist eines der besonderen Verdienste dieses Buchs,
ein neues Licht auf unlösbar erscheinende Phänomene zu werfen und
sie damit – mit einem neuen Ansatz – lösbar zu machen: sowohl für
die Leidenden wie für ihre Therapeuten.
Vor allem Psychotherapeuten sollten die intergenerationellen
Auswirkungen der Vergangenheit noch viel mehr beachten. Die Genese
von Essstörungen ist beispielsweise auch unter diesem Aspekt zu
beleuchten: Extremstes Hungern in der einen Generation kann zu
Esszwang in der nächsten (vgl. die beschrieben Familie Goldstern)
und möglicherweise Verweigerung in der dritten führen.
Überfürsorglichkeit, weil die Kinder vor dem Grauen bewahrt werden
sollen, verknüpft mit der Botschaft des Stark-sein-Müssens, dem
Das-soll-uns-nie-wieder-Passieren, verursachen große
Ambivalenzkonflikte. Das grauenhafte Trauma der Mutter, mitansehen
zu müssen, wie Kinder des Getto Lodz aus dem Fenster geworfen
wurden, lässt den Sohn Fallschirmspringer werden, der Enkel drückt
das Trauma durch extreme Höhenangst aus. Auch das Phänomen der
Parentifikation (die zweite Generation übernimmt oft die
Elternfunktion für die Eltern wie für die eigenen Kinder) erhellt
sich im historischen Kontext. Angst vor Feuer und Angst vor dem
Ersticken, Symptome der Furcht vor der Rache der Opfer,
korrespondieren in der Enkelgeneration beispielsweise mit der
Familienvergangenheit von Tätern.
Dies sind nur wenige Beispiele. Man muss das Buch einfach lesen! Es
gibt jeder der verschiedenen Generationen Anstöße zum Arbeiten mit
der Familiengeschichte. Und sofern eine Öffnung für Verarbeitung
und Transformation da ist, kann es nur gewinnbringend sein. Sowohl
in den Einzel- und Familienschicksalen als auch in den umfassenden
und fundierten historischen und psychologischen Zusammenhängen, die
wiederum mit den konkreten Falldarstellungen korrespondieren,
werden mit der dargestellten adäquaten narrativen Methode nicht nur
Informationen, sondern eine realisierte und realisierbare
Bewältigungsstrategie aufgezeigt. Wissenschaftlich wird wieder
einmal eine uralte Weisheit bewiesen: »Das Vergessen wollen
verlängert das Exil, und das Geheimnis der Erlösung heißt
Erinnerung.«
(Erstveröffentlichung in Kontext 1999)
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