Rezension zu Der stumme Schrei der Kinder
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Rezension von Charlotte Gießmann
Ilany Kogan liefert mit ihrem Werk »Der stumme Schrei der Kinder«
eine eindrucksvolle Schilderung von insgesamt acht Personen in der
Psychoanalyse. Jede einzelne Geschichte hat ihre ganz eigene
Verbindung zum Holocaust, äußerlich einen sie nur die Tatsache,
dass alle Patienten Nachkommen der Holocaust Generation sind und
sich alle in psychotherapeutische Behandlung bei Ilany Kogan
begaben. Im Laufe der Schilderung der einzelnen Fälle zeigen sich
aber deutlich die zugrunde liegenden Gemeinsamkeiten im Verhalten
und zentrale Themen im Leben der Patienten, die auf erstaunliche
Weise auf den Holocaust zurückzuführen sind. Trotz der Tatsache,
dass keiner dieser Patienten den Holocaust zu Lebzeiten mitbekam,
scheinen doch unbewusste Traumata der Eltern sich auf die Kinder
übertragen und so die furchtbare Geschichte des Völkermords am
Leben erhalten zu haben.
Die Autorin gibt zu Beginn eine kurzen Einführung in die Thematik
des Übertragungsprozesses in Familien, die den Holocaust miterlebt
haben, und eine Begründung ihres Interesses an der analytischen
Untersuchung der Kinder von Holocaust-Überlebenden. Kapitel 1 bis 7
beschreiben die einzelnen Lebensgeschichten, die analytischen
Patient-Therapeut-Beziehungen und die Entwicklung im Laufe des
therapeutischen Prozesses mit einer anschließenden Diskussion und
Nachbetrachtung der speziellen Thematik. Ilany Kogan gibt selbst
eine gute Zusammenfassung der einzelnen Kapitel, die ich hier gerne
wiedergeben möchte:
»Kapitel 1 untersucht die Übertragung des Traumas von den Eltern
auf das Kind bis zur dritten Generation. In jeder Generation sehen
wir, wie die Mutter Gefühle der Depression und der Schuld auf ihre
Tochter projiziert, die aufgrund der Identifizierung mit ihnen
unfähig wird, eine Selbstdifferenzierung zu erlangen.« (S.17)
»Kapitel 2 illustriert in einer Beschreibung der Analyse mit der
Tochter eines Überlebenden den Sieg des Lebens über den Tod.
Während der Analyse hat die Patentin eine dramatische Begegnung mit
dem Tod, als ihr Liebhaber beim Liebesakt in ihren Armen stirbt.
Dieses Ereignis löst eine Wiederkehr von Trauer- und Schuldgefühlen
aus, die ihr Leben bedrohen.« (S. 18)
»Kapitel 3 präsentiert die Analyse einer jungen Frau als einen
Entwicklungsprozess, in dem das Selbst immer besser integriert
wird. Das Wachsen des Selbst lässt sich in der Analyse an der
Entwicklung der Kommunikationsmodi der Patientin von der
nichtverbalen Kommunikation eines Säuglings über die weiter
entwickelte Kommunikationsweise eines Kindes und schließlich zu
einer Form der Verbalisierung des Erwachsenen verfolgen.«
(S.18)
»Kapitel 4 untersucht die Wiederherstellung der Fähigkeit, Schmerz
und Schuld zu empfinden, illustriert durch Material aus der Analyse
einer Frau, deren vier Monate alter Säugling bei einem Autounfall
starb, den sie durch ihre rücksichtslose Fahrweise selbst
verursacht hat.« (S. 18)
»Kapitel 5 dokumentiert das Verhaltensproblem der Konkretisierung
durch Material aus den Anfängen der Analyse eines jungen Mannes,
der seinen Vater – einen Überlebenden – anschoß und verletzte, als
dieser ihn vom Selbstmord abhalten wollte.« (S.18)
»Kapitel 6 erkundet am Fall einer Patientin der zweiten Generation,
deren Mutter als Kind den Holocaust miterlebte, die Schwierigkeiten
bei der Entwicklung der Fähigkeit, sich zu verlieben und dauerhaft
zu lieben.« (S.18)
»Kapitel 7 präsentiert den Versuch, einen angemesseneren Zugang zu
Kindern von Überlebenden des Holocaust anlässlich einer Situation
existentieller Bedrohung zu finden, bei der die Therapeutin sich im
selben Boot wie die Patientin befindet.« (S.18) In diesem Kapitel
wird ein kurzer Einblick in die Analyse-Prozesse von zwei
Patientinnen gegeben, deren Behandlung zu Zeiten des Golfkrieges
stattfand.
Der Leser lernt die Patienten und die Therapeutin auf einer sehr
menschlichen Ebene kennen. Emotional sind die einzelnen
Lebensgeschichten sehr mitreißend sowie auch der Prozess der
analytischen Behandlung. Zusätzlich wird dem Leser immer mehr
bewusst, welche wiederkehrenden Themen, Muster und Konflikte sich
im Leben der Kinder von Holocaust-Überlebenden sich im Laufe der
Behandlung zeigen.
In einem letzten Teil des Buches beschäftigt sich die Autorin mit
zwei Hauptthemen dieser speziellen Thematik: die Wechselwirkungen
zwischen Phantasie und Realität im Leben von Patienten der zweien
Generation und die Bemühungen um den Aufbau eines neuen,
selbstständigen und kohärenteren Selbst mit Hilfe der
therapeutischen Beziehung.
Insgesamt gibt dieses Buch dem Leser einen sehr interessanten und
lehrreichen Einblick in den Prozess analytischer Therapie, mit sehr
emotionalen, persönlichen Schicksalen und einer Idee, mit welchen
Problemen die Analytikerin im Laufe der Behandlung umgehen muss.
Wie sich schon an der oben aufgeführten Beschreibung der einzelnen
Kapitel bzw. Fälle der Autorin zeigt, ist dieses Buch nicht
geeignet für Laien. Ein gewisses Hintergrundwissen zu den
theoretischen Grundlagen der analytischen Therapie sowie der
Interpretationsmethodik ist erforderlich, um die einzelnen
Fallgeschichten nachvollziehen zu können. Ist dies gegeben, wird
der Leser hier eine spannende, emotional mitreißende und kognitiv
anspruchsvolle Lektüre finden, die zum weiteren Nachdenken
anregt.