Rezension zu Robert Walsers Mikrogramm »Beiden klopfte das Herz« (PDF-E-Book)
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Rezension von Harald Weilnböck
Der Mensch – ein Homo Narrator (Auszug)
Von der Notwendigkeit und Schwierigkeit, die psychologische
Narratologie als Grundlagenwissenschaft in eine
handlungstheoretische Sozial- und Kulturforschung einzubeziehen
Zwei Dinge müssen vorab gesagt werden. Erstens: Wer in einer
Zeitschrift für Literatur und Kulturwissenschaft zum Thema
Narratologie einen Beitrag über die Narrationsforschung aus den
Bereichen der (Entwicklungs-)Psychologie,
Psychotherapie-Wissenschaft und Psychoanalyse beisteuert, berührt
damit nicht nur einen unter anderen Gesichtspunkten. Er
thematisiert denjenigen Aspekt, der für eine wirklich
interdisziplinäre Narratologie in grundlagentheoretischer Hinsicht
unfraglich einer der wichtigsten ist – eines ihrer unentbehrlichen
Fundamente. Zwar kann man Literatur- und Geisteswissenschaften
heutzutage noch, zur Not, auch ohne Rücksicht auf die Tatsache
betreiben, dass literarische Erzählungen nicht nur auf dem Papier
stehen, sondern von Menschen, und das heißt: von menschlichen
Psychen mit teils bewussten, teils unbewussten Absichten und
Bedürfnissen hervorgebracht bzw. aufgenommen werden. Man kann zur
Not, auch wenn dies im Grunde eine bedauerliche Verengung der
epistemologischen Perspektive bedeutet, davon absehen, dass diese
Texte erst im Moment der mentalen, psychischen Aktualisierung
existent sind und erst dort zum Gegenstand von Erkenntnisbemühungen
nicht nur in immanent-textdeskriptiver, sondern auch in
handlungslogischer Hinsicht werden können. Jedenfalls wird seitens
der Geistes- und Literaturwissenschaften gemeinhin von dieser
psychologischen Grundvoraussetzung von Geist, Kunst und Erzählung
weitgehend abgesehen.
Was man jedoch beim heutigen Stand der interdisziplinären Forschung
eigentlich nicht mehr tun kann, ist: sich auf eine Narratologie,
eine Wissenschaft vom Erzählen, zu berufen, gleichzeitig jedoch
vorwiegend textimmanent und formal beschreibend oder
hermeneutisch-bedeutungszuweisend in einem älteren Sinn zu bleiben
und sich nicht auch systematisch in psycho- und handlungslogische
Fragestellungen investieren zu wollen. Denn wer das menschliche
Erzählen als komplexes Phänomen in seiner Gänze – und nicht nur in
Form von ästhetischen und medialen Erzählungen im engeren Sinn, wie
sie in Literatur und/oder Film erscheinen – erforschen will, kann
an der psychischen Verfasstheit des Menschen bzw. an der zentralen
psycho- und handlungslogischen Dimension von Erzählen und seinen
psycho-affektiven Funktionen nicht vorbeisehen.
Zweitens aber, und dies macht die Sache brisant: Genau das ist es
nämlich, was der überwiegende Teil auch der jüngeren Philologien zu
tun versucht. Und dies heißt für uns: Systematisch auf Ressourcen
der Psychologie – oder einer anderen Handlungswissenschaft – zu
verweisen, bedeutet immer auch, einen neuralgischen Punkt des
geisteswissenschaftlichen Mainstreams zu berühren. Dieser nämlich
erkennt die hohe grundlagentheoretische Bedeutung nicht, die der
Psychologie, genauer: der tiefenpsychologisch versierten
Interaktionsforschung in der Tradition der so genannten
Zwei-Personen-Psychologie, aus gegenstandslogischer Evidenz heraus
beigemessen werden muss, wenn man den Weg zu einer wirklich
interdisziplinären Erzähl- und Kulturforschung bahnen möchte, –
mehr noch: die Geisteswissenschaften wollen davon auch nicht so
recht etwas wissen! Sie scheinen sich, so mutmaßte die Linguistin
Uta Quasthoff bereits 1980, fest darin eingerichtet zu haben, »den
großen und wichtigen Bereich menschlicher Handlungen als
wissenschaftlicher Erklärung nicht zugänglich zu deklarieren«. Und
da diese Haltung heute offensichtlich eher noch zu- als abnimmt,
wird vereinzelt von einer Rephilologisierung der
Geisteswissenschaften gesprochen.
Lediglich jene Spezialbereiche der Literaturwissenschaft, die, wie
z.B. die Lesesozialisationsforschung oder auch die verschiedenen
Didaktiken, aus innerer Notwendigkeit immer schon mit
handlungstheoretischen Fragen über Literatur und Medien zu tun
haben, nehmen jene schier unüberwindlich anmutende Spannung
zwischen den theoretisch-methodologischen »Extrempolen der
Literaturwissenschaft und der Psychologie«, von denen z.B. Norbert
Groeben oder Hartmut Eggert sprechen, mit angemessener Trennschärfe
und dem entsprechenden Problembewusstsein wahr. Sie optieren für
eine interdisziplinäre »Narrationsforschung« unter Einbezug der
Psychologie und Linguistik, für eine
»integrativ-kulturwissenschaftliche Methodologie«, die, wie Eggert
hervorkehrt, vor allem das »Verhältnissen zur Psychoanalyse« zu
klären und die Theoriebildungen zum narrativen Zusammenhang »von
Emotion, Kognition und Handlung« voranzutreiben habe.
Im Großteil der Geisteswissenschaften jenseits dieser Randbereiche
ist es jedoch ein gemeinsames, verschiedene philologische
Denkschulen übergreifendes und beinahe impulsiv zu nennendes
Anliegen, im Zweifelsfall auf die Psychologie-Freiheit des
autonomen ästhetischen Gegenstands zu insistieren. Es ist so fest
verwurzelt, dass sporadische Appelle, wie der des Gießener
Philosophieprofessors Martin Seel, ungehört verhallen, wenn sie die
Philologien dazu zu drängen versuchen, »als Textwissenschaften
[auch] Handlungswissenschaften zu sein«. Oder wenn sie, wie der
Marburger Germanist Thomas Anz, fordern, sich handlungstheoretisch
»mit Texten und mit Menschen« zu befassen. Dem werden zumeist
Glaubenssätze dergestalt entgegnet, dass der »Kunstcharakter« bzw.
»der ästhetische Eigenwert der Literatur«, deren »ästhetische
Autonomie« eben, nicht verletzt werden dürfe, was – so die
Implikation – durch psychologische Erkenntnisansprüche unfehlbar
geschehe.
[...]
Marius Neukom untersucht die Konstruktionsprinzipien des Erzählens
über seelisch verletzende Ereignisse und nimmt die Eingangspassagen
von Binjamin Wilkomirskis autobiografisch intendiertem Buch
»Bruchstücke«, das eine halluzinierte KZ-Kindheit als real
entwirft, zum exemplarischen Studienobjekt. Die Frage ist, welche
Mittel der narrativen Rezeptionssteuerung Verständnis und eine
gemeinsame narrative Bearbeitung der mentalen Verletzung erzielen
und welche andererseits moralischen Druck ausüben, um eine »soziale
Immunisierung des Opferstatus« zu erwirken. Ferner: wie sich dabei
wahrhaftiges und fantasmatisches Erzählen zueinander verhalten.
Dies deckt sich mit dem Begriff der »narrativen Wahrheit«, den
Hannes Fricke in seinem Buch über »Trauma, Literatur und Empathie«
für Wilkomirski geprägt hat.
In psychoanalytischer Hinsicht arbeitet Neukom im textnahen,
induktiven Verfahren die Hinweise auf eine Spaltungsabwehr des
Autors heraus, die freilich eine entsprechende Spaltungsübertragung
auf den Leser erzeugt. Dadurch verengen sich die
Distanzierungsmöglichkeiten, und der Leser wird dazu verleitet, die
Opferposition zu idealisieren und gegenläufige affektive Reaktionen
auf den Text dissoziativ abzuspalten. Insofern wird man den zuerst
begeisterten und dann beleidigten öffentlichen Umgang mit dem Text
tatsächlich als »eine gesellschaftliche Fehlleistung« betrachten
können. Dies gilt freilich analog auch für Bruno Dössekker, alias
Wilkomirski, der noch heute an seinem illusionistischen
Biografie-Fantasma festhält. Denn sein Roman – und seine
gleichzeitige Psychotherapie – sind Dössekker nicht deshalb nicht
gut bekommen, weil er sich eines Verstoßes gegen die
vergangenheitspolitische Etikette schuldig gemacht hätte, sondern
weil er einer weit reichenden dissoziativen Verdeckung seiner
eigenen, tatsächlichen Traumageschichte aufgesessen ist.
In seiner Monografie stellt Neukom einen innovativen Modus
empirisch-narratologischer und psychologischer Literaturforschung
vor. Er legte einen kurzen Erzähltext Robert Walsers vierzehn
LeserInnen vor und befragte sie anschließend im narrativen
Interview. Die systematische Typisierung der Lesereaktionen dient
als heuristischer Ausgangspunkt, um Hypothesen über die
interaktionalen Mechanismen der Rezeptionssteuerung des Erzählers
zu bilden. Diese werden dann jedoch mit dem in der Züricher
Narratologie entwickelten Verfahren der strukturellen Erzählanalyse
(JAKOB) genau am Text geprüft, wodurch Neukom das notorische
methodologische Transparenz-Defizit der Tiefenhermeneutik
überwindet. Der psychoanalytische Befund hebt auf eine
Doppelbindungsstruktur nach dem Modus der narzisstischen
Selbstobjektbeziehung ab, was bedeutet, dass der Erzähler die
Leser/innen in einem Hin-und-Her von thematischen Verführungen und
Erzählverweigerungen für sich einzunehmen versucht und dabei mit
abgespaltenen Fragmentierungsängste befrachtet.
[...]
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