Rezension zu Immigration und Identität
PSYCHE. 08.2008
Rezension von Andrea Lilge
In den ambulanten und stationären Einrichtungen der
psychotherapeutischen Versorgung in Deutschland tauchen immer mehr
Patienten mit Migrationshintergrund auf. Auch auf der Seite der
Professionellen, die im Bereich Psychotherapie arbeiten, nimmt der
Anteil der Immigranten bzw. Kinder von Immigranten zu.
Interkulturalität ist zur psychotherapeutischen Alltagssituation
geworden. Entsprechend wächst der Bedarf an Wissen über
interkulturelle Psychotherapieprozesse und an praxisnahen Konzepten
für den Umgang mit dem »Fremden« im Therapiealltag.
Das Buch des amerikanischen Psychoanalytikers Akhtar, das im
Original 1999 erschienen ist und nun als deutsche Übersetzung
vorliegt, sticht aus der Vielzahl der zuletzt erschienenen
Publikationen zum Themenkomplex »Migration und Psychotherapie«
heraus. Seine praxisnahen Überlegungen zeugen davon, daß sich auch
in einer globalisierten Welt, die Patienten und Therapeuten mit
hybriden Identitäten hervorbringt, effektiv und zum Teil auch
unkonventionell mit psychoanalytischer Haltung und Theorie arbeiten
läßt. Die zahlreichen Fallvignetten des Autors sind in ihrer
Lebendigkeit eindrucksvolle Beispiele für gelungene interkulturelle
Psychotherapiearbeit, die kulturelles »Nicht-Verstehen« als Zugang
zum Unbewußten nutzt.
Für Akhtar bedeutet Immigration stets eine tiefgreifende
Verlusterfahrung und Krise, für deren Bewältigung ein Trauerprozeß
stattfinden muß. Nur wenn für diesen Trauerprozeß ausreichend
innerpsychische Ressourcen, psychosoziale Unterstützung und Raum
zur Verfügung stehen, kann der Immigrant die Herausforderung des
Exils als etwas die Identität Bereicherndes nutzen und die fremde
Umgebung verliert ihre Bedrohlichkeit. Entgegen einem Trend vieler
Abhandlungen zum Thema »Migration und Identität«, in denen vor
allem die Potentiale und Chancen hervorgehoben werden, die das
Ereignis Migration für die psychosoziale Entwicklung bringen kann,
rückt hier also das Trauma wieder in den Vordergrund der
Betrachtung.
Akhtars Buch ist durchdrungen von der »tiefen Überzeugung von der
Universalität der fundamentalen psychischen Konfigurationen und der
Allgegenwärtigkeit menschlicher Konflikte«. Sein Leitmotiv einer
»perspektivischen Flexibilität« bewahrt ihn davor, sich von
einseitig kulturalisierenden oder psychologisierenden Wahrnehmungen
täuschen zu lassen. Die psychoanalytische Position erlaubt ihm zu
erkennen, wie sich interpersonelle und intrapsychische
Konfliktschichten überlagern. Akhtar gelingt es anhand seiner
Fallbeispiele, die Dynamik zwischen inneren Konflikten und dem
Erleben äußerer Kulturdifferenz lebendig zu veranschaulichen. Es
entfalten sich dem Leser unzählige Varianten von »sich
verschiebenden Übertragungen und ihren ethnischen Metaphern«.
Deutlich wird: Kulturelles Differenzerleben kann sich als Abwehr
über untergründige interpersonelle und intrapsychische Konflikte
schieben, es kann jedoch auch das eigentliche Abgewehrte sein. Die
Differenz, die in das subjektive Konflikterleben oder die
Abwehrstruktur eingesponnen werden kann, verliert so ihren
absoluten und unüberbrückbaren Charakter. Es bleiben dadurch die
sonst im Kontext der transkulturellen Psychotherapieforschung
leider nicht unüblichen Essentialisierungen aus.
Das Fehlen von generalisierenden bzw. kulturalisierenden
Zuschreibungen fällt sehr positiv in diesem Buch auf. Die stets
differenzierende Perspektive des Autors ordnet die Klientel nicht
nach Nationalitäten oder ethnisch-religiösen Gruppen, sondern
entlang der Ebenen von psychosozialer Konstitution und
individueller Biographie, also z.B. nach der Art der
Migrationserfahrung. Auf dieser Basis gelingt es Akhtar, eine
Haltung für die anspruchsvolle interkulturelle Therapiepraxis zu
konturieren, ohne der Gefahr zu erliegen, die Phänomene der
Kulturdifferenz in einem Handbuch der Patentrezepte
festzuschreiben.
Zwar markiert auch Akhtar das Vorhandensein von Differenz
überwiegend mit dem nationalen Herkunftskontext und suggeriert
damit, es handele sich bei Nationen um homogene kulturelle
Einheiten. Doch gerade weil es ihm um die übertragene Bedeutung und
die emotionale Beziehung geht und nicht um die faktische Existenz,
erscheinen ihm die kulturellen Bezüge und Orte stets als etwas
Imaginiertes. Die »Heimat« (engl. »motherland«) ist in seiner
Analyse interessant als ein geliebtes oder gehaßtes
Beziehungsobjekt, das wie andere Beziehungsobjekte idealisiert,
entwertet oder in seiner Bedeutung verleugnet werden kann, wenn
sein Verlust nicht betrauert wurde.
Nicht nur die poetischen Einschübe, die um Akhtars eigene
Migrationserfahrung kreisen, auch die zahlreichen Fallbeispiele aus
seiner langjährigen analytischen Praxis machen das Buch zu etwas
sehr Persönlichem. Akhtars Haltung bleibt immer forschend und
fragend, nie argumentiert er aus einer Position von Gewißheit
heraus. Bei aller Bestimmtheit und Klarheit seiner Überzeugungen
spricht er stets im Bewußtsein seiner eigenen Angreifbarkeit und
Kritisierbarkeit. In seinem offensiven Umgang mit dem oft
subjektiven Charakter seiner Erkenntnisse bleibt er sachlich und
seriös. Er erlaubt dem Leser, sich ein Bild zu machen und
weiterzudenken. Das Buch ist damit auch unter
forschungsmethodischen Gesichtspunkten interessant. Es ist ein
Plädoyer für die Relevanz und die Tiefgründigkeit von
Erkenntnissen, die durch eine ernsthafte Auseinandersetzung mit den
subjektiven Erfahrungen am Einzelfall gewonnen werden können.
Buchhinweise:
Sigusch, Volkmar (Hg.): Sexuelle Störungen und ihre Behandlung. 4.,
überarb. und erweit. Aufl. Stuttgart, New York (Thieme) 2006, 400
Seiten. EUR 79,95, sFr 133,00.
Lempa, Günter, und Elisabeth Troje (Hg.): Psychoanalytische
Psychosentherapie im romanischen Sprachraum. Forum der
psychoanalytischen Psychosentherapie, Bd. 15. Göttingen
(Vandenhoeck & Ruprecht) 2006. 107 Seiten, EUR 18,80.
Widmer, Peter, und Michael Schmid (Hg.): Psychosen: Eine
Herausforderung für die Psychoanalyse. Strukturen, Klinik,
Produktionen. Bielefeld (transcript) 2007. 254 Seiten, EUR
26,80.
Galimberti, Umberto: Die Seele. Eine Kulturgeschichte der
Innerlichkeit. Aus dem Italienischen von Ille Atem. Wien (Tuna +
Kant) 2005. 208 Seiten, EUR 26,00.
Strauß, Bernhard, und Michael Geyer (Hg.): Grenzen
psychotherapeutischen Handelns. Göttingen (Vandenhoeck & Ruprecht)
2006. 251 Seiten, EUR 26,90.
Freytag, Julia: Verhüllte Schaulust. Die Maske in Schnitzlers
»Traumnovelle« und in Kubricks »Eyes Wide Shut«. Bielefeld
(transcript) 2007. 142 Seiten, EUR 16,80.
Paneth, Josef: Vita Nuova. Ein Gelehrtenleben zwischen Nietzsche
und Freud. Autobiographie, Essays, Briefe. Hg. und kommentiert von
Wilhelm W. Hemecker. Graz (Leykam) 2007. 288 Seiten, EUR 18,00.