Rezension zu Geboren im Krieg (PDF-E-Book)
Wege zum Menschen. Zeitschrift für Seelsorge und Beratung, heilendes und soziales Handeln 03/2008
Rezension von Prof. Dr. Anne Steinmeier
Im Forschungsfeld traumatisierender Langzeitfolgen des 2.
Weltkrieges richtet dieses Buch den Blick vor allem auf die Zeit
vor und nach der Geburt. Die Wege der Wahrnehmung, die die
Vergangenheit nicht »bewältigen«, aber in einer »Neugestaltung des
Lebens« »überwachsen« können (206), überschreiten vielfach den
traditionellen Rahmen von Wissenschaft. Um dem nahe zu kommen, was
nicht nur »wie ein Stein auf dem Boden eines Sees (liegt), sondern
in intensiver Vernetzung mit anderen Erfahrungsschemata« andere
psychische Funktionen stranguliert, braucht es die Sprache der
Träume und die Prozesse der Kunst. (227)
Das wird in den einleitenden literarischen Beiträgen besonders
eindrücklich. So beschreibt der Psychoanalytiker Dietmar Schmeiser:
»Nach vielen Diskussionen und trotz der zahlreichen
Veröffentlichungen über die vierziger Jahre wurde mir deutlich,
diesen Aspekt literarisch bearbeiten zu müssen. Ich musste aus dem
Blickwinkel des Kindes schreiben, mich in das Kind
zurückversetzen«. (23) Nur aus der Perspektive des kleinen Jungen
kann – im Prozess des Schreibens wie der Lektüre – ein Empfinden
dafür wach werden und ein vorbehaltloses Urteil gebildet werden,
wie der Versuch, sich durch Nichtwahrnehmen unverletzbar zu machen,
in eine alles Lebendige erstickende Passivität führt.
In den Impressionen aus dem Roman »Aus einem dunklen Garten« von
Sophie Brandes kommen in wechselnden Erzählperspektiven das Leben
der Romanheldin und die Geschichte der Familie ins Verstehen und
Empfinden. Die Autorin beschreibt, wie sich »in Form von
bedrängenden und beunruhigenden körpernahen Gefühlen wie Atemnot,
Schwäche und Todesängsten ein innerer Auseinandersetzungsprozess
entwickelt, der es ihr ermöglicht, die verdrängte Vergangenheit als
Erinnerung zugänglich zu machen und nachträglich zu verarbeiten.«
(32) Ein Prozess, der bei vielen Kriegskindern nur bruchstückhaft
abläuft und unverstanden bleibt, nicht zuletzt deswegen, weil die
Erinnerung in die frühe und früheste Zeit des Menschenlebens führt
und dem Verdacht der Phantasiebildung ausgesetzt ist.
In diesen Prozess führt auch die Geschichte eines Bildes der
Heidelberger Psychoanalytikerin und Malerin Hildegard Parekh, die
sie im Zusammenhang mit neueren Studien in der Kinderpsychiatrie,
der experimentellen Psychologie und der psychoanalytischen
Säuglings- und Kleinkinderbeobachtung zu bedenken vorschlägt. In
Konsequenz der Annahme, »dass ein frühes Erinnerungssystem
existiert und dass deshalb eine spätere psychoanalytische
Rekonstruktion frühkindlicher Ereignisse und deren erlebnismäßiger
Auswirkung möglich« (46) ist, werden Erfahrungen und deren
gefühlsmäßige Bedeutung von Beginn des Lebens an im Unbewussten
gespeichert, später symbolisiert und auf diesem Weg bei der
Traumbildung benutzt. Dabei können sich traumatische Ereignisse in
»visuellen Erinnerungen« schon in der Kindheit einprägen, auch wenn
das Trauma selbst keinen visuellen Charakter hatte. In diesem
Zusammenhang ist auch der Bericht der Ärztin Rose Drescher Schwarz
zu lesen, die nach einer »ersten, klassischen« Analyse mit ihren
unverstandenen Träumen allein blieb, erst durch gestalterische
Therapien in einer zweiten Analyse anfängt zu begreifen, »dass
vielleicht Erlebnisse aus den allerersten Anfängen dieses kleinen
Mädchens, das sich mit seinem kleinen Köfferchen allein den Bombern
ausgesetzt fühlt, dazu beigetragen haben könnten, dass es sich in
seiner Haut, mit anderen Menschen, auf der Erde, nicht zu Hause
fühlte.« (153) Was sich an Körperempfindungen einstellt, aus
Therapiesequenzen an Traumtexten und -bildern entsteht, mündet
weiter ins Suchen.
Neben diesen Beiträgen ist die empirische Forschung zu
Folgewirkungen von Kriegserfahrung bei Kindern unverzichtbar. Hier
sind die Aufsätze der Psychoanalytikerlnnen und
Psychosomatikerlnnen Michael Ermann, Christa Müller, Matthias Franz
u. a. zu empfehlen. Die biographische Langzeitwirkung
kriegsbedingter Vaterlosigkeit in Bezug auf die sozioemotionale
Entwicklung von Töchtern und Söhnen, das Phänomen »später
Scheidungen« sind besonders zu nennen. Die Auswirkungen einer
Geburt auf der Flucht kommen aus der Perspektive eines Betroffenen
zur Sprache.
Von großer Bedeutung ist die Wahrnehmung der transgenerationellen
Weitergabe von Kriegstraumatisierungen. Peter Heinl gibt in seinem
Beitrag Einblick in seine psychiatrische Arbeit mit Kindern und
Kindeskindern der vom Kriegsleid Betroffenen. Sein Weg einer
intuitiven Diagnostik mit so genannten Objektskulpturen finden Wege
zu unverheilten seelischen Wunden und zur Verbesserung der
Lebensqualität. Als Leitkategorie tritt immer wieder die
bindungstheoretische Perspektive von John Bowlby auf.
In den Beiträgen zur psychohistorischen Forschung werden
psychologische und psychoanalytische Erkenntnisse auf das
Verständnis von historischen Prozessen angewandt. Hans-Jürgen Wirth
beschreibt die Folgen traumatischer Erfahrungen in der Politik.
Dass Entfremdung und Vernachlässigung, Grausamkeit und Gewalt durch
historische Erziehungspraktiken in Familie und Schule »auf der
gesellschaftlichen Ebene zu Konfliktunfähigkeit und Konfliktstau
(führen), die sich in den Kriegsinszenierungen in einem
traumatischen und traumatisierenden kollektiven Ausagieren« (10)
entladen, macht Ludwig Janus in seinem Beitrag zu frühen Wurzeln
der Gewalt deutlich.
Dieses lesenswerte Buch zeigt, wie wichtig die Erforschung der
Kriegskindheit und ihrer Folgen ist, einschließlich der Lektüre der
Träume, des Fremden und nicht Dekodierbaren, um Verantwortung zu
übernehmen für die eigene Lebensgeschichte, aber ebenso für das
gemeinschaftliche und politische Zusammenleben.