Rezension zu Praxis der psychoanalytischen Pädagogik II (PDF-E-Book)
Fokus Beratung. Information der Evangelischen Konferenz für Familien- und Lebensberatung e.V., Fachverband für Psychologische Beratung und Supervision, November 2007, 11. Ausgabe, S. 79
Rezension von Ingo Stein
In der Reihe »Praxis der psychoanalytischen Pädagogik« hat Helmuth
Figdor, Dozent an der Universität Wien, Analytiker und
Kinderpsychotherapeut in eigener Praxis, nun den zweiten Band mit
Vorträgen und Aufsätzen aus den Jahren 1994-2005 vorgelegt. In dem
im letzten Jahr erschienenen ersten Band finden sich Beiträge zu
den Themen Trennung und Scheidung aus der Sicht von Kindern und
Eltern, Krankheit und Verhaltensstörungen, Familie, Kindergarten
und Schule, Missbrauch und Aggression; der jetzt veröffentlichte
zweite Band enthält u.a. Beiträge zu Erziehungsfragen,
Schulproblemen, zur Musikerziehung, zur Bedeutung von Märchen für
die psychische Entwicklung von Kindern sowie erweiternde Aspekte
zum Themenkomplex Trennung und Scheidung.
Unter Erziehung versteht Figdor zum einen Interventionen von Hilfe,
Unterstützung und Förderung für das Kind, um sich seinen
Bedürfnissen gemäß gut zu entwickeln, zum anderen die Aufstellung
und Realisierung von Grenzen, die dem spontanen Verhalten des
Kindes entgegengesetzt und durchgesetzt werden müssen. An
zahlreichen konkreten Konfliktbeispielen aus unterschiedlichen
Erziehungsfeldern verdeutlicht der Autor immer wieder, dass es in
der pädagogischen Praxis nicht um kurzfristige und isolierte Ziele,
sondern um die langfristige Entwicklung der Heranwachsenden gehe
(Wieviel Erziehung braucht der Mensch, Bd. II, 20ff.). Die
besondere Unterstützungsform psychoanalytisch-pädagogischer
Erziehungsberatung will Eltern, Fachleuten und anderen Praktikern
helfen, Alltagsprobleme und Phänomene aus anderer Perspektive zu
betrachten und die oft schwer verständlichen, vielschichtigen und
widersprüchlichen inneren Welten von Kindern und Jugendlichen zu
erschließen. Zwischen Fördern und Fordern, zwischen äußerer und
innerer Welt gilt es, eine Balance und Vermittlung herzustellen
möglichst auf eine Weise, die der spontanen Entwicklung nicht
schadet. Nicht Gegenaggression, sondern Verständnis kennzeichnen
eine andere Erziehungshaltung. Es geht darum, auch in
Konfliktsituationen die Identifizierung mit dem Kind nicht zu
verlieren und dadurch die Zuneigung zu ihm aufrecht zu erhalten –
trotz Zumutung von unlustvollen Frustrationen. Konsequent
analysiert und bearbeitet Figdor unterschiedliche Pädagogik- und
Beratungsthemen von diesem Ansatz her, wobei er stets von sehr
konkreten Praxisbeispielen ausgeht.
Eines der wichtigsten Schwerpunkte in beiden Bänden ist die
Bearbeitung des Themas Trennungs- und Scheidungsberatung in
mehreren Vorträgen, das besonders MitarbeiterInnen in
Psychologischen Beratungsstellen interessieren dürfte. Figdor
entwickelt hier die Ergebnisse eines Forschungsprojektes unter
seiner Leitung über langfristige Auswirkungen der Scheidung auf die
Persönlichkeitsentwicklung betroffener Kinder weiter, über die er
bereits 1989 dem Deutschen Familiengerichtstag berichtet hatte
(inzwischen in 8. Auflage erschienen unter dem Titel »Kinder aus
geschiedenen Ehen«, Gießen 2004) und die nachfolgend kurz skizziert
werden sollen.
Fachleute sollten vor allem auf Kinder, deren psychische Irritation
und Leid nicht wahrnehmbar werden, achten. Scheidung gehört zu
denjenigen Anlässen im Leben eines Kindes, die am häufigsten zu
Symptomen führen, und zwar um so mehr, je massiver die Konflikte
vor der Scheidung waren. Kinder machen sich oft zum »Therapeuten«
der Mutter, zeigen ihren Schmerz nicht und können ihn daher auch
nicht bearbeiten. Häufig geben sich Kinder selbst die Schuld an
der Scheidung der Eltern. Zusätzlich belastend ist es für sie, dass
viele Auseinandersetzungen der Partner über die Kinder stattfinden
und am Thema »Erziehung« aufgehängt werden. Eigentlich kritischer
Zeitpunkt sind die Nachscheidungswochen und -monate, wo es nicht
selten zu einem Zusammenbruch des psychischen Gleichgewichts (der
»Abwehr«) kommt und alte Konflikte in ihrer ursprünglichen Stärke
wieder aufbrechen, verbunden mit einer Regression in frühere
Entwicklungsstadien. Wenn an dieser Stelle keine Hilfe eintritt,
entstehen neurotische und post-traumatische Abwehrprozesse, die
häufig jedoch erst in der Pubertät und im Erwachsenenalter
ausbrechen (Trennung und Scheidung: Chance oder Katastrophe für die
Kinder, I, 73ff.). Nicht der Ausdruck von Verzweiflung, Angst, Wut
und Schuldgefühlen, sondern die Verdrängung solcher beunruhigender
Gefühle sind also problematisch. Die meisten Eltern können dies
nicht annehmen, weil sie sich selbst in einem Zustand allerhöchster
Verletzbarkeit befinden. Die Entwicklung einer inneren Einstellung
der »Verantworteten Schuld« hieße für sie, den Umstand
anzuerkennen, an diesem Unglück schuld, also »böse« zu sein. Die
Schuld müsste dann nicht mehr abgewehrt werden, die Illusion, es
würde den Kindern schon nichts ausmachen, müsste nicht mehr
aufrechterhalten oder die Gesamtschuld nicht mehr auf den
Ex-Partner projiziert werden (Zwischen Trennungslinien und
verantworteter Schuld, I, 108f.). Der Vortrag »Worauf muss man bei
Trennung und Scheidung besonders achten?« im 2. Band (II, 111ff.)
enthält 18 sehr konkrete und praktische »Empfehlungen und
Hinweise«, unterteilt in die Phasen »vor der Scheidung oder
Trennung«, »1. Hilfe nach der Scheidung« und »Empfehlungen für die
weitere Zukunft«. Er erklärt gut strukturiert und ausführlich
emotionale Widerstände und Probleme von Eltern und Kindern, greift
noch einmal das Konzept der »verantworteten Schuld« auf und benennt
konkrete Hilfsmöglichkeiten bei Loyalitätskonflikten, Problemen bei
der Gestaltung von Besuchsregelungen oder Umgang mit neuen Partnern
der geschiedenen Eltern. Schon allein dieses Beitrags wegen lohnt
sich die Anschaffung des Buches.
Figdor versteht es, anhand von einfachen Beispielen des Erziehungs-
oder Beratungsalltags wichtige Grundbegriffe der analytischen
Theorie verständlich zu machen. Gut gelungen und für Beraterinnen
in Erziehungs- und Ehe-, Familien- und Lebensberatungsstellen
hilfreich dürfte auch der Aufsatz »Die ersten drei Jahre:
Pädagogisch bedeutsame Aspekte der Entwicklung von Babys und
Kleinkindern« (II, 57ff.) sein. Schon mit dem Einleitungssatz
»Stellen Sie sich bitte vor, Sie wären vor ein paar Tagen auf die
Welt gekommen...« er die Leser mit auf eine spannende
Entdeckungsreise über die Stationen »Angst, Panik«,
»Mutter-Kind-Symbiose«, »Mutter als Spiegel«, »Beginn der
Loslösung«, »Urvertrauen«, »Übungs- und Wiederannäherungsphase«,
»emotionale Objektkonstanz« und »Hin- und Herlaufen zwischen Mama
und Papa«.
Das hier beschriebene Konzept der »frühen Triangulierung« ist auch
Grundlage für den Beitrag »Wozu brauchen Kinder Väter?« (II,
87ff.). Das Aushalten und Bewältigen der Spannung zwischen
Anlehnungsbedürfnis und Autonomiebestrebung, zwischen Mutter als
Ruhe- und Schutzpol und Vater als Pol von Bewegung und
Unabhängigkeit ohne Angst trägt entscheidend zur
Entwicklungsförderung bei. Figdor zeigt auf, dass die Forschung
seit den 1940er Jahren einseitig in allererster Linie eine gute
Mutter-Kind-Beziehung für eine gesunde psychische Entwicklung in
den Vordergrund gestellt hat, was in der Folge zu beträchtlichen
gesellschaftspolitischen Auswirkungen geführt hat. So wurde die
Übertragung der alleinigen Sorge eines Elternteils nach der
Scheidung an die Mutter bis heute zum Standardmodell
pflegschaftsgerichtlicher Entscheidungen. Auch wenn in den letzten
zwanzig Jahren Männern neben der Hauptverantwortung für den
Unterhalt wieder eine größere Anteilnahme am Leben und an der
Erziehung der Kinder zugebilligt wurde, so bleibt das Besuchs- und
Umgangsrecht weiterhin definiert als Recht der Väter, nicht aber
als Recht der Kinder. Demgegenüber hält Figdor fest: »Ohne eine
gute Beziehung zu Mutter und Vater ist eine gesunde psychische
Entwicklung nicht denkbar« (II, 94). Wichtig erscheint mir hier
besonders seine Beschreibung der Bedeutung, die diese Prozesse für
das innere Leben des Kindes haben. Im gegenwärtigen Diskurs über
eine Neubewertung des Stellenwertes der Väter in Familienrecht und
Kinder- und Jugendhilfe kann dieser Beitrag nützlich sein, weil er
geeignet ist, die Bedeutung eines psychoanalytischen Verständnisses
von Beratung zu veranschaulichen.
Auf zwei Beiträge, ebenfalls im 2. Band, will ich zum Schluss noch
hinweisen. Wer die Diskussion über Bruno Bettelheims Buch »Kinder
brauchen Märchen« vor fünfzig Jahren verfolgt hat, wird die
Vorträge »Der Goldene Vogel« (Erleben aus der Sicht eines Kindes)
und »Lotta zieht um, Pippi und Co« (Erleben aus
entwicklungspsychologischer Sicht) mit großem Vergnügen lesen. Ein
interessanter Erziehungskonflikt wird im Aufsatz »Das Unbewusste im
Musizieren. Über die Bedeutung des Musizierens für die psychische
Entwicklung des Kindes« beschrieben: Die Eltern wünschen, dass ihr
Kind ein Instrument lernt, das Kind aber hat keine Lust zu üben.
Wer mehr wissen möchte über die unterschiedlichen Lernvorstellungen
von Eltern und Kindern und den Prozess einer behutsamen und
motivierenden »Heranführung«, wird hier interessante Anregungen
finden.