Rezension zu Praxis der psychoanalytischen Pädagogik II (PDF-E-Book)
Jahrbuch für Literatur und Psychoanalyse 27/2008
Rezension von Achim Würker
Figdor präsentiert im ersten Band seiner Praxis der
psychoanalytischen Pädagogik zwölf Texte, die sowohl
thematisch-inhaltlich als auch in ihrem Adressatenbezug recht
unterschiedlich sind. Da geht es um Schule und Kindergarten, um
kindliche Sexualität und Aggressivität, um den Umgang mit Krankheit
und um Gewalt und Missbrauch. Da werden – so lassen es die
editorischen Vorbemerkungen erkennen – Lehrer und Sozial- und
Heilpädagogen angesprochen, psychoanalytische Pädagogen und
Familienrichter, Teilnehmer eines künstlerischen Sommersymposions,
Kinder- und Kleinkinderpädagogen usw. Dem entspricht die
rhetorische Anlage der Texte, die z.T. den Vortragsstil aus dem
ursprünglichen Kontext bewahren. So teilt Figdors Buch mit anderen
Aufsatzsammlungen den Mangel, keine differenzierte ausgebreitete
Argumentation zu einem Thema vorzutragen, und den Vorzug, in sowohl
knapper wie abgerundeter Form ganz verschiedene Einzelprobleme zu
beleuchten.
Unter dem Titel »Zu Psychoanalyse und Schule – Einführende
Überlegungen am Beispiel der Krankenhausschule« betont Figdor
einleitend drei Facetten der psychoanalytischen Theorie als
besonders bedeutsam fir die Betrachtung schulischer
Beziehungskonstellationen: Die Konflikttheorie des Verhaltens, die
Theorie der Objektbeziehungen und die der Übertragung. Im Folgenden
wird vor allem der Übertragungsbegriff zentral, wenn er die
Lehrer-Schüler-Beziehung beleuchtet und an Fallbeispielen
illustriert. Dabei geht Figdor einerseits konkret auf die Situation
des Krankenhauslehrers ein, so mit der These, dieser sei »in erster
Linie nicht Lehrer, sondern Teil des therapeutischen Teams« (S.
20). Andererseits argumentiert er allgemein, wenn er sowohl die
Übertragungsneigungen des Schülers in den Blick rückt als auch die
Bedeutung der Gegenübertragung von Seiten des Lehrers. Diese sei
ausschlaggebend bereits für die Feststellung, welches
Schülerverhalten überhaupt als problematisches bzw. als
konfliktträchtiges vom Lehrer wahrgenommen und etikettiert werde,
wobei Figdor überzeugend klar macht, welche Funktion in diesem
Zusammenhang die institutionellen Gratifikations- und
Sanktionssysteme gewinnen können.
In der folgenden Erörterung der »Möglichkeit
psychoanalytisch-pädagogischen Arbeitens mit ›verhaltensgestörten‹
Schülern« entwickelt Figdor Überlegungen zur grundlegenden
Unterscheidung von therapeutischem und pädagogischem Praxisfeld und
lotet die Reichweite psychoanalytisch-pädagogischer
Interventionsmöglichkeiten aus. In diesem Zusammenhang entwickelt
er die interessante These, dass die berechtigte Ablehnung einer mit
der therapeutischen Arbeit vergleichbaren deutenden Intervention
durch den Pädagogen sinnvoll relativiert werden könne: Unterscheide
man nämlich bei der psychoanalytischen Deutungsarbeit die vier
Schritte Konfrontation, Klärung, Deutung im engen Sinne und
Durcharbeitung, so seien die ersten beiden Schritte sowohl
pädagogisch taugliche wie leicht handhabbare Interventionsformen.
Als sinnvolle Qualifizierung von Lehrerinnen und Lehrern zu einem
solchen psychoanalytisch-pädagogischen Handeln propagiert Figdor
Supervisionsgruppen, denen er fünf Funktionen zuweist:
Selbsterfahrung, Reflexion des Lehrerverhaltens, Verstehen im
Hinblick auf die Bedeutung von Schülerverhalten, Definition bzw.
Neu-Definition der Selbst und Objektrepräsentanzen sowie
schließlich die Erarbeitung konkreter Maßnahmen.
Zwei Aufsätze widmet Figdor der Scheidungsthematik. Zunächst fragt
er nach den Konflikten im Kind, und er betont, dass es solche
inneren Konflikte in jedem Fall gibt, auch bzw. gerade dann, wenn
die Kinder – oft in einer Art Schutzhaltung für die Eltern –
äußerlich gelassen bleiben und keine Leidäußerung wahrnehmbar ist.
Die zweite zentrale These Figdors ist, dass sowohl die Heftigkeit
des Konflikts als auch die Chancen der Konfliktbewältigung auf
Seiten des Kindes maßgeblich von der Vorgeschichte und von der
Fähigkeit der Eltern, Trennung und Scheidung ihrerseits sinnvoll zu
verkraften, abhängt. Beide Thesen macht Figdor plausibel, indem er
die unbewussten Abwehrvorgänge, z.B. den der Spaltung,
erläutert.
Der zweite dem Thema Scheidung gewidmete Aufsatz nimmt diese
Argumentation wieder auf, rückt aber das Problem der Beratung in
den Blick. Zunächst warnt Figdor abermals davor, aus der Stärke der
Symptome auf den Leidensdruck des Kindes und auf langfristige
Folgen zu schließen oder das Verschwinden der Symptome als Beweis
der Bewältigung des Scheidungstraumas anzusehen. Stattdessen sei
davon auszugehen, dass es in jedem Fall Irritationen und Leid gebe
und die Alternative lediglich darin bestehe, ob dies wahrnehmbar
werde oder nicht. Unter dem Stichwort »Erste Hilfe« fordert Figdor,
den Kindern müsse vor allem in der ersten Zeit nach der Scheidung
ein Raum eröffnet werden, ihre inneren Konflikte ausdrücken zu
können, und er leitet hiervon als ein erstes Beratungsziel ab, die
Eltern hierzu zu befähigen. In diesem Zusammenhang wendet er sich
gegen Appelle an das Über-Ich der Eltern, weil diese letztlich auf
eine Überforderung angesichts der je eigenen Problematik, die
Scheidungssituation psychisch zu bewältigen, hinauslaufen würden.
Ausgehend von einer Analyse der Psychodynamik auf der Seite der
Eltern entwickelt Figdor weitere Beratungsperspektiven: Beratung
müsse einerseits darauf zielen, Krisenstrategien der Eltern, die
letztlich zu Lasten der Kinder gehen, zu reflektieren und
andererseits alternative Möglichkeiten eröffnen, wie zugleich das
je eigene Gleichgewicht gefordert und verantwortliches Handeln den
Kindern gegenüber möglich werden könne. In diesem Zusammenhang sei
es wichtig, im Gespräch mit den Eltern die Konflikte und
Konfliktstrategien der Kinder zu beleuchten, um dadurch eine
Entlastung zu bewirken und eine positive Übertragung zu erreichen,
die der Wirksamkeit der Beratung förderlich sei. Letztlich laufe
Beratung auf die Einsicht in eine »verantwortete Schuld« (S. 108)
hinaus, die die Schuld am Leid des Kindes nicht leugnet, aber auch
das Bewusstsein der begründeten Notwendigkeit einschließt.
Figdors »Bemerkungen zum pädagogischen Umgang mit alltäglichen
Aggressionsäußerungen der Kinder« beginnt mit einem Plädoyer »für
die Abschaffung des Begriffs ›Aggression‹« (S. 113) und endet mit
der Verwendung dieses Begriffs: »Und dann wird die Antwort der
Kinder auf unsere pädagogische Aggression auch weniger wütend
ausfallen und in geringerem Ausmaß pathogene Verdrängungsprozesse
anstoßen« (S. 123, Hervorhebung durch den Autor). Die Kritik gilt
also nicht dem Begriff, sondern einer Begriffsverwendung, die
letztlich – ähnlich wie die Etikettierung eines Verhaltens als
pathologisch, auf die Figdor ebenfalls hinweist konkretes Verstehen
blockiert. Inhaltlich leitet Figdor den zitierten Schlusssatz
plausibel her, indem er erläutert, wie die Scheu des Erziehenden
z.B. in einem Kindergarten, unbändigem Verhalten Grenzen zu setzen,
zu aufgestautem Unmut über das kindliche Verhalten fuhrt und dass
dieser Unmut dann, wenn die äußeren Bedingungen letztlich doch ein
Verbot erzwingen, dem Verbot in der Wahrnehmung des Kindes den
Charakter eines Liebesentzugs verleiht. Gelänge es dagegen
prinzipiell, ein Verständnis für das nonkonforme kindliche
Verhalten mit einem notwendigen Insistieren auf Regeln zu
verbinden, dann seien auch Verbote für das Kind zu verkraften.
Unter dem Titel »Aus Helfern werden Opfer« analysiert Figdor
»Probleme in der sozialpädagogischen und psychotherapeutischen
Arbeit mit Opfern elterlicher Gewalt oder sexuellen Missbrauchs«.
Zwei Aspekte stellt er dabei in den Mittelpunkt: Erstens die
Komplexität der Erlebnisdimension des Opfers solcher Gewalt, für
die ein Schamkonflikt wesentlich sei. Dieser entsteht durch die
Verstrickung des Opfers in eine enge, oft familiäre Beziehung zum
Täter sowie dadurch, dass »die Übergriffe der Erwachsenen vom Kind
häufig auch als sinnlich lustvoll erlebt« (S. 130) werden. Zweitens
weist er auf die besonderen Komplikationen hin, die sich für Helfer
in solchen Fällen ergeben: Sie werden zum Objekt höchst
ambivalenter Übertragungen, durch die sie unter Umständen die Rolle
des Aggressors zugewiesen bekommen. Reagieren sie hilflos auf diese
Dynamik bzw. auf die Wahrnehmung der dadurch hervorgerufenen
eigenen Aggression, so kehrt sich die Täter-Opfer-Relation um: »Der
Patient wird als mächtig, bedrohlich erlebt und der Helfer fühlt
sich verführt und überwältigt, erregt, hilflos, zugleich wütend und
schuldig« (S. 131).
Zwei Aufsätze sind der Kindergartenpädagogik gewidmet. Im einen,
der die Probleme der pädagogischen Elternarbeit in den Blick rückt,
analysiert Figdor die Widerstände, die in Beratungssituationen von
Seiten der Eltern ins Spiel kommen und entwickelt die These, dass
Problemlösungen im Interesse der Kinder nur über eine
Vertrauensbeziehung zu den Eltern sowie über eine ernsthafte
Beschäftigung mit ihren Problemen im Umgang mit ihren Kindern
möglich werde.
Im zweiten Aufsatz über die Entwicklung der Kindergartenpädagogik
beleuchtet Figdor das Theorie-Praxis-Verhältnis, analysiert die
Problematik handlungsleitender »impliziter Theorien« und kommt zu
dem Schluss, das in der Ausbildung gelehrte theoretische Wissen
bleibe angesichts der komplexen Praxisprobleme ungenügend. Dies
werde aber, bezogen auf Situationen des Scheiterns im beruflichen
Alltag von Erziehern, oft nicht angemessen als Theoriedefizit
reflektiert, sondern als eigene Schuld interpretiert. U.a.
verführten didaktische Konzepte dazu, auftauchende Probleme als
Folge ihrer mangelhaften Umsetzung zu sehen, statt Pädagogik
grundlegend »als Arbeit an Problemen zu definieren« (S. 158). Dies
vorausgesetzt, so argumentiert Figdor weiter, würde Supervision als
Ort pädagogischer Reflexion und Selbstreflexion zum
»selbstverständlichen Brot jedes Pädagogen« (S. 159).
Bezogen auf den »Mythos ›Verhaltensstörung‹« analysiert Figdor
zunächst die Abwehrfunktion, die sich mit diesem Begriff verbindet,
und betont unter Rückgriff auf Fürstenaus Psychoanalyse der Schule
als Institution die Fragwürdigkeit solcher Etikettierung
normabweichenden Verhaltens. Im Zusammenhang mit der »neuen«
Pädagogik diagnostiziert er zwar einen Wandel auf der
Methodenebene, nicht jedoch auf der Ebene der »normativen
Anforderungen an die Schüler« (S. 173). Entsprechend bestehe auch
weiterhin der Konflikt zwischen kindlichen Bedürfnissen und
unausweichlichen Frustrationen bzw. Repressionen. In diesem
Zusammenhang betont Figdor die Relevanz einer psychoanalytischen
Theorieperspektive: Wird das Konfliktgeschehen nämlich als ein
unausweichlich zum pädagogischen Verhältnis gehörendes
interpretierbar, wird Scheitern nicht mehr als persönliches
Versagen empfunden und das Kind nicht länger als bedrohlicher
Aggressor erlebt. An die Stelle solcher Vorstellungen können dann
die Wahrnehmung der eigenen Aggression, die mit einem
einschränkenden erzieherischen Handeln verbunden ist, und die
»Haltung der verantworteten Schuld« (S. 177) treten: Diese erwachse
aus der Einsicht, dass es »gar kein Zusammenleben ohne
Interessenskonflikte gibt und der schwierige Prozeß des
Hineinwachsens eines Kindes in das Leben, die Kultur und die
Gesellschaft ohne Verzicht, ohne Schmerz und Frustration nicht
möglich ist« und dass »das Kind eben aus dem Leid, das ich ihm
zufüge, auch Gewinn und, wenngleich auf Umwegen, Befriedigung zu
ziehen vermag« (S. 177).
Um den inhaltlichen Überblick zu vervollständigen, seien auch kurz
noch die weiteren Beiträge genannt:
- In einem Aufsatz über die Sexualität des Kindes referiert Figdor
in eindrucksvoll einfacher Sprache wesentliche Aspekte der
Freudschen Sexualtheorie, zeigt Komplikationen in der Entwicklung
des Kindes auf und entwirft ein erzieherisches Handeln, das diesen
Komplikationen gegensteuert.
- Bezogen auf »chronisch kranke Kinder, am Beispiel der
Stoffwechselkrankheit Zöliakie« plädiert er für einen bewussten
Umgang mit der Krankheit, der verhindert, dass sich das »Problem
mit Angstphantasien über Verlassenwerden oder soziale Ablehnung
koppelt« (S. 57).
- Unter dem Titel »Lästige Kinder: zehn Thesen« fasst er
wesentliche Argumentationslinien seiner anderen Aufsätze
zusammen.
Der Inhaltsüberblick über den zweiten Band von Figdors Praxis der
psychoanalytischen Pädagogik kann kürzer ausfallen als der über den
ersten Band, weil einige der hier versammelten Beiträge bereits
dort angesprochene Themen bzw. dort entwickelte
Argumentationsfiguren erneut aufgreifen: Da gibt es wiederum
Aufsätze zur kindlichen Entwicklungsdynamik, zum Umgang mit der
Scheidungsproblematik und zur Problematisierung schulischer
Sozialisation. Und abermals bildet der Begriff der »verantworteten
Schuld« häufig Zentrum oder Zielpunkt der Argumentation. Thematisch
neu sind vor allem drei Aufsätze zur Bedeutung künstlerischer bzw.
kreativer Symbolisierung fur Heranwachsende.
So klärt Figdor unter dem Titel »Über die Bedeutung des Märchens
fur die psychische Entwicklung von Kindern« die Funktion von
Märchenrezeption, und zwar nicht etwa, indem er Bettelheim – auf
den er gleichwohl Bezug nimmt – referiert, sondern indem er seine
Leser einer Interpretation von »Der goldene Vogel« folgen lässt.
Dadurch weckt er konkret ein Verständnis für die Bedeutung von
Märchen, die er als »eine Art Alltags-Therapie« auffasst, die
analog zur psychoanalytischen Therapie »darauf abzielt, [...] mit
den dunklen und abgelehnten Seiten der eigenen Person zu versöhnen,
sie als Teil seiner selbst anzuerkennen, um [...] so fähig zum
machen, mit ihnen produktiv umzugehen, statt sie zu verdrängen
[...]« (S. 164).
In »Lotta zieht um, Pippi und Co.« kennzeichnet Figdor die Autorin
Astrid Lindgren als eine jener Kinderbuchautoren, bei denen die
infantile Amnesie »durchlässiger« zu sein scheine bzw. ein Teil der
kindlichen Leidenschaften weniger angstbesetzt sei, so dass
kindliche Wünsche und Sehnsüchte erinnert oder in Identifizierung
mit Kindern nachgefühlt werden könnten. Bezug nehmend auf die
Auffälligkeit, dass Kinder bestimmte Geschichten immer wieder lesen
oder hören möchten, formuliert Figdor eine Schlussfolgerung
bezüglich der Funktion solcher Geschichten für Kinder: »Geschichten
ermöglichen Kindern also, mit den Schwierigkeiten des Lebens in
einer spielerisch-denkenden Weise umzugehen, und erfüllen damit
eine psychohygienische Funktion, die nicht zuletzt auch in der
Psychotherapie eine große Rolle spielt« (S. 175). Diese These
veranschaulicht Figdor, indem er Lindgrens »Lotta zieht um«
sukzessive inhaltlich vorstellt und interpretiert. Konkret lässt er
anschaulich werden, welche kindlichen Konflikte in dieser
Geschichte durchgespielt und erfahrbar werden und vor allem welche
Lösungen der Text zur Geltung bringt. An weiteren Geschichten zeigt
er, wie zentral nicht nur im interpretierten Text der Konflikt
zwischen Autonomie und Abhängigkeit bei Lindgren ist, und kommt
schließlich zu einer interessanten Schlussfolgerung, die über die
Bedeutsamkeit der Geschichten für Kinder hinausgeht: »Wenn es
Kindergeschichten gelingt, die Kinder in entängstigender Weise mit
ihren seelischen Regungen und Konflikten zu konfrontieren, so kann
eben das auch bei erwachsenen Lesern passieren. Die Geschichten
können fur die Erwachsenen eine Art Übergangsraum (im Sinne
Winnicotts) eröffnen, in welchem sie sich mit den kindlichen
Gefühlen, Ängsten und Triebstrebungen konfrontieren können, ohne
unmittelbar real betroffen zu sein, weshalb diese Strebungen auch
nicht sofort abgewehrt werden müssen« (S. 193). So ermöglichten es
diese Geschichten den Erwachsenen, Kinder besser zu verstehen.
Winnicotts Theorie des Übergangsobjekts bzw. des Übergangsraums
bildet eine wichtige Basis auch für Figdors Erläuterung des
»Unbewussten in der Musik«: Als »Bewegung zwischen den Polen
Spannung und Entspannung« sei Musik »das einzige Symbolsystem, das
dieses Grundelement biophysischen Lebens und Erlebens nicht nur«
abbilde, sondern es »sowohl im Akt der Symbolisierung (Komponieren,
Spielen, Singen) als auch in der Rezeption der symbolischen Gestalt
(Hören) fühlbar werden lässt, das zugrunde liegende Körperliche
zwar formt, aber nicht aufhebt« (S. 238). Dadurch könne Musik in
einer besonderen Weise dazu dienen, Versagungen im Bereich der
relevanten Entwicklungsbedürfnisse – gemeint sind libidinöse,
narzisstisch-exhibitionistische, aggressive sowie
Objektbeziehungsbedürfiuisse – zu kompensieren und trage so –
zumindest potentiell – zur psychischen Gesundheit des Kindes
bei.
Die thematische Vielfalt der Aufsatzsammlung in den beiden Bänden
bringt es mit sich, dass niemals alle Beiträge das je eigene
professionelle Praxisfeld betreffen und insofern einem
unmittelbaren funktionalen Interesse entsprechen. Und es kommt zu
vielen Wiederholungen in grundlegenden Argumentationen. Beides
fordert eine gewisse Gelassenheit und Großzügigkeit bei der
Lektüre, die sich aber lohnt, denn es ist eindrucksvoll, wie das,
was durch die Lektüre der ersten Texte bereits bekannt ist, in
weiteren Aufsätzen doch noch einmal in einem etwas anderen
Zusammenhang formuliert ist und dadurch klarer wird, wie immer
wieder Querverbindungen zwischen einzelnen Praxisfeldern sichtbar
werden und wie sich allmählich die Grundprinzipien einer
psychoanalytisch-pädagogischen Perspektive immer deutlicher
herauskristallisieren. Was alle Aufsätze prägt, ist die
überzeugende Voraussetzung, es gehe – wie in der therapeutischen
Psychoanalyse – auch in der psychoanalytischen Pädagogik immer um
ein Beziehungsgeschehen und um das Verstehen innerer Vorstellungen,
also um Repräsentierungen und Imagines: »Wir müssen – psychologisch
– zwischen der realen, sozialen Beziehung und der ›inneren‹
Beziehung, die wir in der Psychoanalyse als ›Objektbeziehung‹
bezeichnen, als der psychischen Repräsentation von Beziehungen,
unterscheiden« (S. 129). Figdor plädiert überzeugend für ein
konkretes Verstehen der inneren Seite von Konflikten, die,
äußerlich betrachtet, kaum zu Tage treten mögen, und er führt
diesen Blick auf die inneren Vorstellungen immer wieder vor: An
konkreten Beispielen lässt er seine Leser am Verstehen
bewusstseinsferner Erlebensdimensionen teilhaben und macht so die
Spezifik und Relevanz einer psychoanalytisch inspirierten Reflexion
und Beratung eindrücklich. Dabei wendet er sich gegen
funktionalistische Didaktikkonzepte und gegen institutionelle und
gesellschaftliche Kontextfaktoren, die ein einfühlsames Umgehen mit
dem einzelnen Kind verhindern. Besonders eindrucksvoll ist in
diesem Zusammenhang z.B. seine Argumentation zur Frage
»Schulprobleme oder Problemschule« im zweiten Band, mit der er
sowohl den geheimen Behaviorismus schulpädagogischer Konzepte als
auch die ihnen zugrunde liegenden gängigen Erklärungsmuster, die er
als ›Mythen‹ bezeichnet, problematisiert.
So sind Figdors Beiträge zur Praxis der psychoanalytischen
Pädagogik nicht nur lehrreich und durch die Anschaulichkeit der
konkreten Fallbeispiele sowie durch die gleichermaßen präzise wie
einfache Sprache gut lesbar, sondern sie liefern darüber hinaus
überzeugende und ernst zu nehmende Gründe für eine
psychoanalytisch-pädagogische Abgrenzung gegenüber
funktionalistischen Strategievorschlägen zur Qualitätsoptimierung
im Bildungsbereich, wie sie aktuell Konjunktur haben: Statt unter
dem irreführenden Motto von Eigenständigkeit und den Prinzipien
neuartiger Outputkontrolle folgend eine sowohl unauffällige als
auch funktionale Selbstdisziplinierung zu propagieren, nimmt Figdor
auf eine sympathische Weise Partei für die Kinder und Jungendlichen
und zeigt Wege auf, ihre innere Welt zu verstehen und auf ihre
Entwicklungsbedürfnisse sinnvoll einzugehen.