Rezension zu Nationalsozialistische Täter
Sozialpsychiatrische informationen 04/2007
Rezension von Erich Wulff
Selten hat mir die Besprechung eines Buches so viel Kopfzerbrechen
bereitet wie Nele Rouleaux Nationalsozialistische Täter. Schwer
fiel es mir bereits, dem roten Faden ihrer Argumentation zu folgen
und deren Hauptthesen aus einem brodelnden Kessel
psychoanalytischer Begriffe vor allem der neueren
Narzissmusforschung herauszudestillieren. Hinzu trat die Unlust,
eine Debatte über die Psychologisierung gesellschaftlich und
politisch motivierten Handelns wieder aufzugreifen, die ich vor
fünfunddreißig Jahren mit Alfred Lorenzer, Horst Eberhard Richter,
Ulrich Sonnemann und anderen schon geführt hatte und die mir damals
viel Ärger eintrug. Verstimmt hat mich aber auch die Ausdrucksweise
der Autorin, die gerne auf Formulierungen wie »es muss akzeptiert
werden« (11), es «muss angenommen werden« (242) »es ist davon
auszugehen«, »es ist in vollem Umfang anzuerkennen« (21)
zurückgreift und denen, die das nicht tun, »Leugnung« (23)
»Unterschlagen« (29), oder im günstigsten Falle, wenn es sich etwa
um Hannah Arendt handelt, »Fehldeutungen« (28) vorwirft. Auf alle
Fälle fühlte ich mich als Leser zunächst durch all das, was ich der
Autorin zufolge denken muss oder nicht denken darf, in ein Korsett
eingezwängt, das ich nicht anziehen wollte, und das verschlug mir
etwas die Sprache. Erst nach längerer Überlegung konnte ich
erkennen, dass es sich weniger um eine wissenschaftliche Abhandlung
als um eine Streitschrift handelte, der es vor allem darum geht, zu
überzeugen, und das ermutigte mich, ihr in ähnlich bestimmter Weise
zu entgegnen.
Nele Rouleaux Hauptthese zielt auf die Zurückweisung des
sogenannten »Normalitätsparadigmas«, das sich in der
NS-Täterforschung mit Hannah Arendts Begriff der »Banalität des
Bösen« und Brownings »Ordinary men» gegenüber der Diabolisierung
der Täter als einige wenige kriminelle Naturen durchgesetzt hatte.
Die Spitze ihrer Polemik richtet sich jedoch nicht gegen diese
beiden Autoren, sondern gegen Harald Welzers »Täter. Wie aus ganz
normalen Menschen Massenmörder werden«. Die Autorin bestreitet
nicht die Vielzahl und die Verschiedenheit der Täter: aber sie
schreibt ihnen allen ein psychopathologisches Störungsbild zu, das
sie aus einer deskriptiven Perspektive als »gesellschaftskonforrne
Persönlichkeitsstörung«, aus einem psychoanalytischen Blickwinkel
als »Syndrom des malignen Narzissmus« identifiziert. Dessen
Ursachen lägen in frühkindlichen Traumatisierungen und
Interaktionsstörungen mit »dem bedeutenden Anderen«, welche die
Ausbildung eines »gesunden« Narzissmus verhinderten. Unter solchen
Umständen komme es – darin folgt sie Kemberg – zu einer Spaltung
zwischen einem grandiosen und einem entwerteten, hungrigen Selbst
(81-87). Obwohl die Autorin einräumen muss, »dass es nur wenig
aufschlussreiche Aufzeichnungen über die frühe Kindheit von
NS-Tätern gibt«, kann ihrer Meinung nach »davon ausgegangen werden,
dass demütigende, traumatische Ereignisse narzisstische Störungen
hervorbringen« (11). Dies führt dann »zu der wesentlichen Frage, ob
sich das Syndrom des malignen Narzissmus« (gemeint ist: bei den
NS-Tätern EW) »frei einfalten konnte, gerade weil es eine
gesellschaftlich integrierte Störung gewesen ist« (11). Die
bejahende Antwort auf diese Frage im weiteren Fortgang des Buches
gibt der Verfasserin einen vermeintlichen Schlüssel dafür in die
Hand, die Persönlichkeit der Täter und so auch ihre Motive in
Zusammenhang mit den politischen Verhältnissen freizulegen. Und sie
erlaubt es ihr gleichzeitig, sie trotz ihrer Unterschiedlichkeiten
sämtlich als psychisch gestörte Individuen zu
psychopathologisieren.
Dem Problem, dass (fast) jeder hätte zum Täter werden können, dass
solche Tatbereitschaften somit bei der damaligen deutschen
Bevölkerungsmehrheit vorausgesetzt werden müssen, entgeht sie durch
einen Definitionstrick: indem sie Normalität nicht als
Durchschnittlichkeit bestimmt wie es die deskriptive
Psychopathologie tat, sondern als Normativität: in diesem
Zusammenhang konkretisiert als »Verwurzelung in einem verbindlichen
humanitären Wertesystem« (41). Somit haben lediglich »nicht
zerstörerische Handlungen« als normal zu gelten – weil, so warnt
die Autorin, ansonsten »die Störungen des pathologischen Narzissmus
unerkannt blieben« (27). Auch jedwede Verletzungen des Tötungstabus
sind aus dieser Sicht als nicht »normal« zu betrachten, weil sie
mit normativen Prinzipien nicht im Einklang stehen. Kants
kategorischer Imperativ wird dazu bemüht (25), diese in einer
humanitären Wertordnung konkretisierte Normativitätsthese des
Normalen zu stützen, wobei in Vergessenheit gerät, dass Kant sich
in seiner Kritik der praktischen Vernunft nie für eine bestimmte
inhaltliche Fixierung des Sittengesetzes ausgesprochen – und im
Übrigen auch die Todesstrafe bejaht hatte.
Indem den NS-Tätern ein maligner Narzissmus zugeschrieben wird,
geraten sie, was die angeblich zugrunde liegenden psychodynamischen
Mechanismen betrifft (natürlich nicht hinsichtlich der
Gesellschaftskonformität der »Störung«), in die Nähe der
Kinderschänder und Vergewaltigungstäter, auch wenn das von der
Autorin nicht beabsichtigt ist. Empirische Belege für eine
derartige Einordnung sind, nach deren eigenem Eingeständnis,
bislang nicht beizubringen gewesen (11). Wissenschaftstheoretisch
haben diese Überlegungen den Status einer unverifizierten
Hypothese, die für mich zudem einer prima vista Plausibilität
ermangelt. Der zweite These, dass es sich um gesellschaftskonforme
Handlungsweisen gehandelt hat, kann ich schon eher zustimmen.
Wahrscheinlich gibt es in bestimmten Zeitperioden weitverbreitete
Handlungsbereitschaften, die auch kollektiven Erfahrungen und
kollektiven Erleidnissen entspringen, und Empfangsstrukturen für
ideologische Anrufungen bilden, wenn diese unter anderem auch eine
Erhöhung des eigenen Selbstwertes durch Unterdrückung von anderen
versprechen. Zu solchen Erfahrungen und Erleidnissen gehören auch
die Materialschlachten des Ersten Weltkrieges, die millionanhaft
die Tötungstabus aller Beteiligten außer Kraft gesetzt haben; die
Gefühle der Erniedrigung, als der Luftballon wilhelminischer
Kaisergrandiosiät platzte; der Verlust von materieller Sicherheit
und von Geborgenheitsräumen in der Inflation und während der
Weltwirtschaftskrise. Davon ist bei der Autorin nur ganz am Rande
die Rede. Und es bleibt auch ungesagt, dass die verbindlichen
humanitären Prinzipien wie das Tötungstabu, auf die sie ihre
Normativität bezieht, nichts dem Menschen Eingeborenes sind,
sondern geschichtliche Errungenschaften, die lange Zeit gebraucht
haben, um sich wenigstens als allgemeinmenschlich gültige
Forderungen hier und da Gehör zu verschaffen. Ein schrittweiser
Humanisierungsprozess, wie brüchig und manchmal rückläufig auch
immer, geht jeder möglichen Dehumanisierung und Verdinglichung
voraus, ja er bildet geradezu deren historische und logische
Voraussetzung. Bis sich die Figur der Mitmenschlichkeit – und in
ihrer Folge das Tötungstabu – über die Kernfamilie, den erweiterten
Familienverband, die ethnische Einheit, die Religionsgemeinschaft
hinweg auf alle Menschen ausdehnen konnte – und auch das immer noch
mit institutionalisierten Ausnahmen wie Todesstrafe und Krieg –
mussten Jahrtausende der Menschheitsgeschichte vergehen.
Auf solche institutionalisierte Ausnahmen haben auch die Nazis
zurückgegriffen. Aus ihrer rassistischen Sicht, aus ihrem
Sündenbockbedürfnis, haben sie einiges davon, was gut und was böse
ist, neu definiert und so einer Vielzahl von Tätern das Gefühl
gegeben, immer noch normengerecht zu handeln. Das ist keine
Entschuldigung, bezeichnet aber ein gravierendes, weil vielleicht
auch in Zukunft wieder auftauchendes Problem.
Nele Rouleaux hätte wahrscheinlich besser getan, wenn sie in ihrem
Buch die Unterscheidung der Täter in verschiedene Gruppen, die sie
zitiert (35), weiter verfolgt hätte. Das Skandalon heute sind ja
nicht so sehr die sadistischen Exzesstäter, deren Pathologie
unbestreitbar ist. Es sind vielmehr die intellektuellen
Planungsstrategen und die gehorsamen Vollstrecker, wie Goldhagen
sie genannt hat, und es ist das System der institutionellen
Abstützung und Arbeitsteilung, das es vielen erlaubt hat, als
kleines oder auch größeres Rädchen der Tötungsmaschinerie zu
funktionieren, ohne dabei auf das schreckliche Ende hinsehen zu
müssen. Solche kanalisierende und zugleich verbergende Strukturen
könnten auch heute wieder zu unmenschlichen Zwecken in Anspruch
genommen werden.
Und statt eine Bevölkerungsmehrheit zu pathologisieren, indem man
ihr ein Syndrom malignen Narzissmus zuschreibt, wäre es vielleicht
nützlicher gewesen, die Fragerichtung umzukehren und nach den
Gründen, den gesellschaftlichen, den interaktionellen und den
intrapsychischen, zu suchen, weshalb eine Minderheit sich dem
Mitmachen an den Tötungsaktionen verweigert hat.
Im zweiten Teil des Buches geht es um die »Traumatransmission« bei
den Opfern und bei den Tätern an die zwei darauffolgenden
Generationen. Beides ist bisher meist nur getrennt abgehandelt
worden. Insofern ist es bereits weiterführend, sie einmal gemeinsam
zu betrachten, wie die Autorin es tut. Aber die Fokussierung auf
die beiden Prominentensöhne bzw. Enkel Niklas Frank und Norris von
Schirach verstellt auch den Blick auf die Kinder und Enkel
»gewöhnlicher« Nazis. Es wäre wahrscheinlich lehrreicher gewesen,
stattdessen etwa die Gruppenerfahrungen, die Dan Bar On mit Täter-
und Opferkindern gesammelt hat, ausführlicher heranzuziehen.
Wenn ich nun abschließend meine Leseerfahrungen mit diesem Buch
zusammenfasse: sie haben mich verstört, aber auch in eine Art
lehrreicher Verwirrung gestürzt: indem ich gezwungen wurde, mir
eine Sicht auf das Thema, die ich akzeptieren kann, aus dem
reichhaltigen Material, das die Autorin ausbreitet, selbst zu
verschaffen. Wer davor nicht zurückschreckt, dem kann man dieses
Buch empfehlen.