Rezension zu Autistische Phänomene in psychoanalytischen Behandlungen (PDF-E-Book)
PSYCHE, Nr. 8, 61. Jg., August 2007
Rezension von Caroline Neubaur
Bei manchen wissenschaftlichen Büchern ist der Titel das Beste.
Diese Veröffentlichung über Autismus ist hervorragend, obwohl sie
gewissermaßen gar keinen Titel hat, aber dieser Nicht-Titel ist das
Treffendste, was man dazu sagen kann: Autistische Phänomene in
psychoanalytischen Behandlungen. Ein Buch für die Fachwelt?
Natürlich. Und auch wieder nicht, denn dafür ist es dann insgesamt
zu gut geschrieben. Darin liegt schon ein Appell an ein
psychoanalytisch vorgebildetes größeres Publikum, denn mit
wirklichen Fachleuten kann man ja im Telegrammstil verkehren.
Ist Autismus – klinisch wäre es etwa die »zystische Einkapselung
eines Teils der Persönlichkeit«, allgemein gesagt ist es das Wort
für eine Abkapselung, die gesellschaftliche Übereinkünfte nach
allen Seiten hin verhindert und als das ganz Andere, uneinfühlbar
Fremde von der Gesellschaft nicht verstanden wird – eine
Zeitkrankheit? Symptome des Autismus hat es zu allen Zeiten
gegeben, aber wann wurden sie als solche erkannt und benannt?
Sloterdijk hat der Kapsel einen neuen Heiligenschein verliehen.
Autismus wird heute als eine spiegelbildliche Bedrohung
perhorresziert. In einem Zeitalter, das alle Probleme unter dem
hilflosen Wort Kommunikation versteckt, ist die
Kommunikationslosigkeit des Autisten der pure Schrecken – zum
Schrecken gehört der Spiegel, der Abwehr produziert. Das Gerede von
Kommunikation und die Isolationsfolter der Kommunikation sind nur
die zwei Seiten der selben Medaille. Dadurch, daß wir etwas von der
Kommunikationsverweigerung zu verstehen beginnen, merken wir, auf
welch brüchigem Boden die Kommunikationsgesellschaft sich
bewegt.
Während der Renaissance, in der man in Europa den
Individualitätsbegriff für ein breiteres, sich gerade erst
etablierendes Humanistenpublikum entwickelt, ist das Individuum
immer zugleich die Repräsentanz des Kosmos, niemals ist es eine
Kapsel. Studiert man nach so vielen Zusammenbrüchen humanistischer
und aufklärerischer Systembauten die philosophische Literatur des
19. Jh.s, dann ist das Individuum so selbstverständlich eine
Kapsel, daß die Hauptfrage der Erkenntnistheoretiker lautet: Wie
überwinde ich den Solipsismus? Zu diesem erkenntnistheoretischen
Problem zieht Herausgeber Bernd Nissen in erhellender Weise
Luhmanns Untersuchungen zu komplexen selbstreferentiellen Systemen
heran und vergleicht diese mit den funktionierenden bzw.
scheiternden basalen Austauschprozessen zwischen Mutter und
Kind.
Nissen möchte mit einer Bestandsaufnahme zur psychoanalytischen
Autismusforschung eine in Deutschland unterbelichtete Diskussion
voranbringen. Sein Vorgehen, die klinischen und theoretischen
Karten mit verschiedenen Ansätzen auf den Tisch zu legen, ohne
polemisch zu argumentieren, liefert eine vorzügliche Grundlage für
eine solche Diskussion. Zudem zeichnet das Buch auf vorbildliche
Weise einen Traditionsprozeß als vitalen Prozeß der
psychoanalytischen Theoriebildung nach, der frei von jeder
Freud-Idolatrie ist. Die Beiträge kommen ohne Theoriebombast aus.
Eine generalisierbare Diagnostik wird nicht entwickelt, denn wie
Reinhart Lempp und Franziska Demoulin-Lempp in ihrem Beitrag »Vom
normalen Autismus bis zur schweren Entwicklungsstörung« schreiben:
Jedes autistische Kind ist ein Unikat. Noch gibt es keine
psychoanalytische Ätiologie, aber die Weltanschauungsfrage:
konstitutionell oder psychogen? wird nicht dogmatisch entschieden,
ohnehin ist die Therapie immer weiter als die Diagnose.
Im theoretisch exponiertesten Beitrag gelingt es am ehesten Thomas
Ogden, die in sich widersprüchliche Phänomenologie des Autismus auf
einen verstehbaren Nenner zu bringen. Er deklariert neben den
beiden seelischen Positionen, die die Klein-Schule entwickelt hat,
der paranoid-schizoiden und der depressiven, eine dritte, die
autistisch-berührende, die die früheste ist und sich gleichzeitig
auch durch das ganze Leben hindurchzieht, ohne unbedingt in die
Sackgasse der pathologischen Ausweglosigkeit steuern zu müssen.
Diese dritte Position ist in der Fachwelt allerdings
umstritten.
Das markant Autistische kann sich im gewaltsamen Kontakt mit harten
Objekten, dem Schlagen des Kopfs gegen die Wand äußern, im Syndrom
des pathologischen Ruminierens, dem »Wiederkäuen«, das
konkretistisch beginnt und zu objektfreier »Selbstgenügsamkeit«
führt. John Paul Barrows erweitert den Begriff der »autistischen
Objekte«, der von der großen Autismusforscherin Frances Tustin
stammt, auf kulturelle Artefakte, und David Rosenfeld untersucht
autistische Einkapselungen infolge von Organtransplantationen oder
Drogenmißbrauch.
Gerhard Schneider und Bernd Nissen präsentieren extreme Fälle und
wagen sich als Therapeuten auf je verschiedene Weise damit weit vor
in unbekanntes Land. Da kann nicht jede Handlung theoriegestützt
sein. Beide präsentieren unterschiedliche Formen der
Gegenübertragung (die Kultur der Gegenübertragung muß notgedrungen
bei allen Autoren sehr hoch entwickelt sein, denn Autisten stellen
insofern starke Anforderungen an sie, als ein Verfehlen der
»Wellenlänge« gleich zu Katastrophen führt), aber vergleichbaren
Mut. Den braucht es, sein Scheitern einzugestehen, wie Nissen es
tut. Er beschreibt dieses als technischen Lernprozeß, an dem andere
einsetzen können. Wenn es irgendein Buch mit Gebrauchswert für die
Autismusforschung gibt, dann dieses.
Den großen Reiz eines solchen Buches auch für den Nichtfachmann
macht aus, daß man die eigenen sinnlichen Erfahrungen
wiederentdeckt und einem plötzlich nichts Autistisches unvertraut
ist. Autistische Alltagsrituale durchziehen in unterschiedlicher
Stärke das Leben von jedermann, vom »Wiederkäuen« angefangen über
das permanente Zuppeln an den Haaren. Auch das Nägelkauen wird
immer »moderner«! Die Frage, die hier implizit und explizit mit
verhandelt wird, lautet: Wieweit kann unser normales Bewußtsein
alle Momente der sinnlichen Erfahrung integrieren? (Natürlich wird
unendlich viel nicht integriert. Die »Normalität« ist ein nach
allgemeiner Übereinstimmung trennscharfer Bereich von Integration
und Nichtintegration. Den Umgang damit nennen wir Bewußtsein. Daß
sich dieses »Bewußtsein« schon im Traum auf unerhörte Weise
auflöst, war eine der großen Entdeckungen Freuds.)
Daß der Autismus, der so sehr als die Isolationskrankheit
schlechthin wahrgenommen wird, durch ein solches Buch aus der
Isolation herausgeführt wird, ist der große Verdienst dieser
Veröffentlichung. Er wird dadurch nicht zu einem rundum
aufgeklärten Phänomen, doch viele seiner Momente werden
verständlicher. Man kann mit dem Autismus nur kommunizieren, wenn
man selbst autistische Erfahrungen teilt, und bis an diesen Punkt
führen alle Beiträge heran. Im übrigen ist es ein fabelhafter
klinischer Versuch im Kollektiv, dem in der theoretischen
Aufarbeitung noch nichts wirklich entspricht. Die klinischen
Trouvaillen sehr instruktiv auch die Beiträge zur Kindertherapie –
können hier leider nicht einmal angedeutet werden. In dem
Augenblick, in dem man sich auf ein klinisches Detail bei so
begrenztem Raum einließe, müßte man es selbst zu einer abstrakten
Formel machen.
Was dem Band als einziges fehlt sind Koreferate. Einen so
spektakulären Fall wie den von Schneider hätte man gern diskutiert
gelesen. Aber diese Diskussion wird Nissens Pionier-Band, und das
ist nicht das geringste Kompliment, das man ihm machen kann,
zweifellos anstoßen.