Rezension zu Die Kunst des Lassens

Freie Assoziation 3/2008

Rezension von Sabine Wollnik

Reinhard Plassmann, Nervenarzt, Arzt für Psychotherapeutische Medizin, Psychoanalytiker und EMDR-Therapeut beschreibt in seinem Buch »Die Kunst des Lassens« ein neues psychotherapeutisches Konzept.

Grundlage seines neuen Ansatzes ist das Prinzip der Selbstorganisation, und da mutet er den Therapeuten schon einiges zu: »Es ist nicht der Therapeut, der heilt, sondern das endogene Heilungssystem des Patienten«. Ganz überflüssig werden die Therapeuten allerdings nicht, denn es bleibt deren Aufgabe, diese inneren Heilungsprozesse wieder in Gang zu setzen. Diese andere Haltung erfordert vom Therapeuten, dass er sich grundsätzlich infrage stellt und bereit ist, sich umzuorientieren. Es gilt, die Heilungsprozesse anzustoßen und dann auf das Selbstorganisationspotenzial des Patienten zu vertrauen und mit der eigenen Kränkung umzugehen, dass man an Bedeutsamkeit verliert.

Wie er es in seinem Buch beschreibt, machte Reinhard Plassmann die ihn überraschende Erfahrung, dass auch seelisch schwer kranke Patienten zu einer überraschenden Selbstorganisation in der Lage sind. Als er eine Klinik für stationäre Psychotherapie übernahm, waren dort Phänomene von Selbstverletzung endemisch. Nachdem er mit den Patienten einen Vertrag geschlossen hatte, in dem diese sich verpflichteten, ihr selbstverletzendes Verhalten aufzugeben, allerdings im Sinne einer selbstverantwortlichen Entscheidung, konnten sich fast alle Patienten an die selbst getroffene Vereinbarung halten. Sie waren also nicht nur zu autonomen Entscheidungen in der Lage, sondern auch fähig, ihre Symptome zu kontrollieren.

Aber lassen sie mich der Reihe nach vorgehen. Wie kam der Autor dazu, diesen neuen Ansatz weiter zu verfolgen. Zweifelsohne beschäftigen sich in den letzten Jahren zunehmend Forscher mit diesem Heilungsprinzip. Für den Autor selber war es seine Erfahrung mit der Methode des EMDR, die ihn dazu veranlasste, seine therapeutischen Konzepte zu überdenken.

EMDR (Eye Movement Desensitization and Reprocessing) ist mittlerweile das am besten untersuchte traumatherapeutische Verfahren. Verschiedene Studien in den letzten Jahren haben die Wirksamkeit bestätigt. EMDR wurde von Francine Shapiro 1987 spontan bei einem Spaziergang als Heilmethode entdeckt. Sie bemerkte, dass sich belastende Gedanken, die sich gewöhnlich wie in einer Endlosschleife ständig wiederholen, durch schnelle Augenbewegungen in ihrer Belastung veränderten oder sogar völlig verschwanden. Francine Shapiro begriff schnell die Bedeutung ihrer Entdeckung und entwickelte in den nächsten Monaten und Jahren die Methode. Anfänglich für Kriegstraumatisierte im Besonderen konzipiert, wird das Verfahren heute zunehmend verfeinert und ausgeweitet. Das Grundprinzip aber bleibt: Das Selbstheilungssystem arbeitet selbstorganisatorisch, es gilt lediglich die günstigsten Bedingungen herzustellen, damit es in Gang kommt.

Und damit kommt ein weiterer Begriff ins Spiel, es geht um die Ressourcen, die universellen und die persönlichen. Die Ressourcen organisieren das endogene Heilungssystem des Patienten. Findet der Patient in der Stunde Kontakt zu seinen Ressourcen, so organisiert sich das emotionale Belastungsmaterial neu. In der Folge geht der inkohärente, chaotische affektive Zustand, mit dem der Patient in die Stunde gekommen ist, in Kohärenz über. Patient und Therapeut fühlen sich wohl. Deshalb ist dieses Verfahren auch für den Therapeuten viel weniger belastend, denn es geht nicht mehr darum, das emotional belastende Material nur auszuhalten. Es wird neu organisiert und fließt somit, wie es R. Plassmann beschreibt, gleichsam ab und verliert seine destruktive Wucht.

Am Beispiel von Magersüchtigen, die in der Klinik Kitzberg behandelt werden, macht der Autor seinen therapeutischen Ansatz deutlich. Auch wenn das Konzept für Magersüchtige entwickelt wurde, lassen sich die wesentlichen Prinzipien auf grundsätzliche therapeutische Überlegungen übertragen. Anorektische Patienten wenden ihre ganze Energie auf, um trotz Therapie magersüchtig zu bleiben. Die Statistiken spiegelten dies wider: 2004 fand man bei 11 Prozent der magersüchtigen Patienten einen Therapieerfolg und bei ca. 47 Prozent der bulimischen Patienten in einer multizentrischen Studie zu Essstörungen.

Bei magersüchtigen Patienten findet Entwicklung nicht statt, Rhythmen sind eingefroren, wie der Autor ausführt: die Rhythmen des Weiblichen, Rhythmen von Hunger und Sattheit, die Rhythmen von Arbeit und Spiel, von Freude und Anstrengung. In der Vergangenheit wurde häufig Druck auf die Patienten ausgeübt, woraufhin diese ihre ganze Energie einsetzten, um an ihrem Symptom festzuhalten. Dafür haben sie sich häufig untereinander sogar
organisiert und ausgetauscht, auch innerhalb von Kliniken, um die therapeutischen Anstrengungen zu unterlaufen.

Die Lektüre von Selbsthilfeliteratur von Magersüchtigen und die Beschäftigung mit der Selbstorganisationsforschung haben dem Autor nun andere Möglichkeiten eröffnet. Man kann davon ausgehen, dass das Potenzial zur Lösung im Patienten schon vorhanden ist, allerdings im blockierten Zustand. Es geht nun darum, die Blockaden zu verflüssigen. An dieser Stelle führt der Autor das bipolare Prinzip ein: Neben einem starken Belastungspol gibt es einen desorganisierten schwachen Heilungspol, den es gilt zu stärken. »Ressourcen wachsen, ähnlich wie Pflanzen.« Hier ist kontinuierliche Gärtnerarbeit erforderlich.

R. Plassmann stellt einige Grundhypothesen auf: Selbstorganisatorische Prozesse laufen nur ab bei ausreichendem Ressourcenkontakt. Belastungsmaterial und Ressourcen bestehen im Kern aus Emotionen. Belastendes Material und Ressourcen sind wesentlich körperlich repräsentiert, weshalb eine Einbeziehung der Körperrepräsentanzen notwendig ist. Heilung findet stets im Hier und Jetzt statt. Nur was fokussierbar ist, ist heilbar.

Kapitel zur stationären Psychotherapie bindungsgestörter und traumatisierter Kinder und Jugendlicher und ihrer Mütter und Väter, sowie zum Verhältnis von Verhaltenstherapie und EMDR sowie von Körpertherapie und EMDR, geschrieben von Mitautoren aus dem Klinikteam runden das Buch ab. In den Kapiteln 12 und 13 stellt Reinhard Plassmann die Behandlungsergebnisse der Klinik dar und gibt einen Überblick über das zurzeit aktuelle Verständnis zur Neurobiologie von Heilungsprozessen.

Auch wenn das Konzept für die stationäre Behandlung entwickelt wurde – der Autor ist ärztlicher Direktor des Psychotherapeutischen Zentrums Kitzberg-Klinik, einer Klinik für Essgestörte, Borderline- und Traumapatienten -, so lassen sich die grundsätzlichen Überlegungen auf seelische Heilungsprozesse überhaupt übertragen.

Es ist nun nicht so, dass es nicht auch in der Psychoanalyse eine Tradition gäbe, die ähnliche Konzepte verfolgt. John D. Sutherland, langjähriger Herausgeber des International Journal of Psychoanalysis und medizinischer Direktor der Tavistock Klinik z.B. entwickelte in seinen letzten Lebensjahren Konzepte vom Selbst. Nicht ohne Grund lautet der Titel des von Jill Savege Scharff herausgegebenen Sammelbandes seiner Schriften »Das autonome Selbst«. Wie formuliert es Sutherland? Je mehr wir über das Selbst erfahren, desto mehr Menschen können im Leben mit relativ wenig therapeutischer Hilfe zu Recht kommen. Varela und Maturana sprechen vom Prinzip der Autopoiese, der Selbstorganisation lebender Systeme. Kritisch wäre hier zu bemerken, dass man mit diesem neuen Ansatz nicht alles Überkommene vergessen sollte. Der Autor hat dies so auch nicht gemeint, denn er ist weiterhin gerne Psychoanalytiker und die langfristigen Beziehungen, in denen Konflikte durchgearbeitet werden, bleiben für viele Patienten hilfreich. Es wäre allerdings wünschenswert, würde ein Nachdenken darüber angestoßen, inwieweit dieses Konzept auch in psychoanalytisches Wissen integriert werden kann. Eine Konsequenz, die man aus diesem Ansatz ziehen muss, scheint darin zu bestehen, dass ein zu langes Bearbeiten pathologischer Selbst- und Objekt-Konstellationen in der Übertragung die Selbstorganisation verhindert. Das Argument, dass die pathologischen Strukturen bei fehlend langer Bearbeitung der Verdrängung oder gar Abspaltung zum Opfer fallen, greift nicht, da sie in den dargestellten Behandlungen beachtet werden, aber mit dem therapeutischen Konzept der Selbstorganisation an emotionaler Wucht verlieren und blass werden.

Literatur
Scharff, J. S. (Ed.) (1994): The Autonomous Self. The Work of John D. Sutherland, Northvale, New Jersey: Jason Aronson Inc.

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