Rezension zu Noch ein Leben
psychosozial 49/50 1992
Rezension von Roland Kaufhold
Der Schweizer Psychoanalytiker Paul Parin gehört zweifelsohne zu
den scharfsinnigsten und streitbarsten Analytikern der Gegenwart.
Bekannt wurde er vor allem durch seine ethnopsychoanalytischen
Studien – z.B. »Die Weißen denken zu viel« -, jedoch auch durch
seine zahlreichen Aufsätzen zu aktuellen psychoanalytischen,
soziokulturellen und politischen Themen. Weiterhin trat Parin auch
noch als Schriftsteller hervor, so in seiner autobiographischen
Erzählung »Untrügliche Zeichen von Veränderung«.
Psychoanalytisch fundierte Erhellung des individuellen Leidens und
gesellschaftskritische Erhellung kollektiver Prozesse und
Denkeinschränkungen bilden für ihn immer ein unauflösbares
Wechselgeflecht, eine Identität. Die Freudsche Kulturkritik stellt
für Parin einen unverzichtbaren Kern des Freudschen Erbes dar. Das
Individuelle ist für ihn immer auch politisch.
Wohl von dem größten Teil seiner analytischen Berufskollegen dürfte
er als störender, lästiger Stachel im Fleisch empfunden werden.
Dies um so mehr, als er die analytische Methode bevorzugt auch auf
seinen eigenen Berufsstand anwendet und eine selbstverschuldete
Selbstbeschädigung des Freudschen Erbes durch erstarrte analytische
Standesorganisation postuliert und anklagt.
74jährig hat Paul Parin ein neues Buch verfaßt: »Noch ein Leben.
Eine Erzählung. Zwei Versuche« ist der Titel dieser Schrift, in der
sich seine skizzierten vielfältigen Interessen und Forschungen
gebündelt wiederfinden. Das Buch beinhaltet eine Erzählung sowie
zwei theoretische Abhandlungen, die sich auf wesentliche Aspekte
dieser Erzählung beziehen. Literatur und analytische Reflexion
werden von Parin also als sich ergänzende Teile eines
wissenschaftlichen Erkenntnis- und Aufklärungsprozesses
verwendet.
Die Erzählung »Noch ein Leben« handelt vom Partisanenkrieg in
Mailand 1944: Der Protagonist, ein junger Arbeiter, erschießt im
Auftrag seiner Genossen einen vermeindlichen faschistischen
Agenten. Daraufhin muss er mit Unterstützung der Partei
untertauchen – um sein Leben zu retten, muss er den »sozialen Tod«
erleiden. Immer wieder begegnet ihm eine Frau, La Gioconda, an die
sich seine Phantasie bindet und die ihn Weiterleben lässt. Sie wird
ein Teil von ihm, sein bester lebendiger Teil, für den er
kämpft.
Unklar bleibt, ob die Tat ein Akt des Widerstandskampfes war oder
aber ein gewöhnlicher Mord. Das Aufschreiben des Textes stellt für
den Protagonisten eine Verarbeitungsform dar, um seine
psychosomatischen Beschwernisse loszuwerden. Dieses Leben hätte
auch das Leben des antifaschistischen Widerstandskämpfers Paul
Parin sein können, wenn es es letztendlich auch nicht geworden
ist.
Der Titel der Erzählung »Noch ein Leben« ist vieldeutig: War dies
überhaupt noch ein Leben unter so extremen Verhältnissen? Oder
wurde der Protagonist durch die Ereignisse genötigt, sich mit
Energie und Phantasie ein zweites Leben aufzubauen – so dass er
also doppelt so viel Leben wie Andere lebte?
Ein Motiv für die Erschießung des vermuteten faschistischen Agenten
bildete das Bedürfnis nach »Vergeltung«. Dieses Bedürfnis sei
»unserer Kultur inhärent« (S. 8), durchdringe unsere Institutionen
sowie unser Fühlen, Denken und Handeln. Diesem Thema geht Paul
Parin in seinem die Erzählung begleitenden ersten Essay »Alles was
Recht ist« nach:
Ausgangspunkt für seinen kulturkritisch angelegten Essay bilden
seine ethnopsychoanalytischen Erfahrungen: Während wir »Westler«
jederzeit zu wissen glauben, »was recht ist«, während unser
gesammtes Rechtssystem wie auch das internationale
Abschreckungssystem – implizit oder explizit – von dem Thema der
Vergeltung wesentlich mitbestimmt, durchdrungen ist, sei dieses
Gefühl anderen Kulturen unverständlich und fremd. Parin führt
eigene Erfahrungen an: So habe er wenige Monate nach der
politischen Unabhängigkeit Malis mit einem angesehenen Pflanzer in
einem malischen Dorf zusammengesessen und in einiger Entfernung
einen bewaffneten Gendarmen auf sich zukommen sehen. Die koloniale
Gendarmerie war damals vom neuen Staat vollständig übernommen
worden und hatte auch danach noch im Land hemmungslos gewütet.
Parins Freund wollte den Gendarmen einladen, während Parin selbst
immer noch jedem Gendarmen gegenüber Rachegefühle empfand. Sein
Freund brauchte einige Zeit, um sich in ihn einzufühlen. Ihre
unterschiedlichen Gefühle erklärte dieser schließlich mit den
Worten:
»Vielleicht ist es gut, daß Sie so empfinden. Ich kann das nicht.
Wenn man mir Übles antut, schlage ich zurück. Wer mir nichts Böses
antut, den kann ich nicht hassen!« (S.87).
Die Dogon könnten Rachegefühle in sich nicht aufbewahren, weil
ihnen die uns scheinbar angeborene Fähigkeit, Aggressionen so lange
zurückzubehalten, bis Vergeltung möglich ist, fehle.
Diese ethnopsychoanalytische Erkenntnis wendet Parin im Folgenden
in kultur- und ideologiekritischer Intention an: Wir Europäer
würden Vergeltung kalt, rational, objektiv-sachlich üben, ohne
unsere eigenen Rachegefühle dabei überhaupt wahrzunehmen –
Vergeltung selbst auszuüben, sei uns dank der weit über uns
stehenden Institutionen Kirche und Rechtspflege schon längst
verboten. Diese Institutionen wissen, was Recht ist:
Das Menschenkind darf nicht selber Vergeltung üben, soll seinem
Nächsten verzeihen, wenn nicht gar lieben. Verzeihung dürfe man
auch nicht vom einzelnen schwachen Menschlein erwarten: »Nur die
christliche Kirche allein weiß, wie statt der Vergeltung Vergebung
zu finden ist« (S.89). Das Jenseits hingegen ist nicht frei von
Vergeltung: Die Höllenfeuer warten.
Aus analytischer Sicht ist die Chance für ein wirkliches
»Verzeihen« nur gering: Im Unbewussten gibt es kein Verzeihen, wie
Parin unter Verweis auf Theodor Reiks 1929 veröffentlichte Studie
»Verzeihung und Rache« verdeutlicht. Wir sind erst bereit zu
verzeihen, nachdem wir uns gerächt haben.
Diese Erkenntnis wendet Parin auch auf die Institution Kirche und
Justiz an: Die Justiz erscheine gemeinhin als »unabhängig, sauber
abgetrennt von Rachegefühlen und der Anmaßung der Macht« (S. 91).
Parin hingegen ist der Überzeugung, dass die Justiz – allem
oberflächlichen Schein zum Trotz – dazu dient, Vergeltung zu
rechtfertigen. Hierin stehe unsere Rechtsordnung – so Parins
provokative These – der Sharia, dem islamischen Recht der
Fundamentalisten näher »als der alten menschlichen und sozialen
Ordnung der Westafrikaner« (S.98). Jenen nämlich seien Begriffe wie
Strafe und Sühne fremd.
Diesen Gedanken führt Parin konsequent weiter. Nachdrücklich
verdeutlicht er immer wieder, dass sich ein Überhang an
Ressentiments gleichermaßen auf Rechtspfleger und Rechtsbrecher
senke. Als Verschiebungsersatz für diese mächtigen Gefühle dienten
einerseits fremde unbekannte, sowie auch bekannte, jedoch
schwächere Gegner. Ob nun AIDS, Drogenmißbrauch, Kommunismus,
militärische Bedrohung oder Terrorismus – alle diese Bedrohungen
hätten zwar einen realen Bedrohungskern, der jedoch in keinem
Verhältnis zur realen Gefahr stünde. Unter dem Druck einer
kollektiven projektiven Phantasie werde die Wirklichkeit zwar
wahrgenommen, jedoch gleichzeitig illusionär umgedeutet. Solche
projektiven Identifikationen entstünden – so Parins
gesellschaftskritische Erkenntnis – nicht spontan, sondern würden
gezielt gesteuert. Sie bewirkten ideologische Verblendung und seien
somit Instrumente der Herrschaftssicherung.
Der zweite Essay »Der nationalen Schande zu begegnen« beinhaltet
einen Vergleich zwischen der deutschen und der italienischen
Kultur, unter dem besonderen Aspekt, wie die faschistische
Vergangenheit von diesen beiden Völkern auf sehr unterschiedliche
Weise »bewältigt« wurde. Parin versucht zu eruieren, »warum Italien
zu seiner faschistischen Vergangenheit so anders steht als die
deutsche Bundesrepublik zum Nationalsozialismus« (S. 8). Er
erinnert an Margarete und Alexander Mitscherlichs Studie »Die
Unfähigkeit zu Trauern«, benennt als zusätzliches
Erkenntnisinstrument jedoch noch seine ethnopsychoanalytische
Methode; die Verbindung zwischen kultureller und psychoanalytischer
Kritik sei bei dieser Thematik legitim. Sein vorrangiges
Erkenntnisinteresse sei hierbei, zu diskutieren, »was der
Verleugnung entgegenwirkt und durch welche kulturellen Prozesse das
»Vergessen« der Vergangenheit rückgängig gemacht werden kann« (S.
123).
Parin führt zahlreiche Beispiele für diese divergierenden Umgangs-
und Verarbeitungsformen zwischen Italien und Deutschland an:
Während in Italien am 8. Mai 1945 »kein gottähnliches Ideal
zerschlagen« (S. 128) werden mußte, sei in Deutschland »eine
Neigung zur Abwendung von der Vergangenheit, zur Vermeidung der
Erinnerung« (S. 124) überdeutlich. Diese habe sich »zur affektiven
Seelenblindheit für die gemachten Erfahrungen und zum totalen
Vergessen, zur Amnesie« (ebd.) verstärkt.
Bloßer Protest oder rationale Aufklärung allein reicht nicht aus,
um dieser »unbewußte(n) Fixierung am externalisierten
faschistischen Ideal« (S. 125) entgegenzuwirken. Als eine
Möglichkeit zur Aktivierung aufarbeitender Prozesse bezieht sich
Parin auf Winnicotts Begriff vom »cultural experience«: Kulturelle
Erfahrungen, das Erleben von Kultur könne eine Milderung der Scham,
eine Verarbeitung der gemachten Erfahrungen ermöglichen – durch
diese könne die »Fähigkeit zum Trauern« wiederhergestellt werden.
Dies erscheint Parin als die adäquateste Möglichkeit, der
nationalen Schande zu begegnen, die verinnerlichte Ideologie der
Nazijahre zum Tanzen zu bringen und damit aufzulösen.
Parins Erzählung erscheint mir als eine konkrete Umsetzung seiner
Erfahrungen und Einsichten. So wie Parin in seiner Erzählung
»Untrügliche Zeichen von Veränderung« seine Erfahrungen als
Widerstandskämpfer des jugoslawischen Untergrundes berichtet, so
werden in seiner Erzählung »Noch ein Leben« seinem Protagonisten
u.a. über die Lektüre des Romans »Uomini e no« des italienischen
Schriftstellers Elio Vittorini sowie der von ihm 1945 gegründeten
Zeitschrift »Il politecnico« die Augen geöffnet; er wird in eine
neue Existenz, in sein »zweites Leben« gestoßen.
Diesen Aspekt greift Parin in dem Essay »Der nationalen Schande zu
begegnen« erneut auf: Er entfaltet exemplarisch für die
unterschiedlichen kulturellen Verarbeitungsformen in Italien und in
Deutschland die Bedeutung von Elio Vittorini: Dieser Dichter gibt
den Männern und Frauen ihre eigene Sprache wieder, »eine Sprache,
die neu scheint, obwohl jedermann sie spricht. Mit dem Instrument
dieser Sprache hat der Dichter der Rede einen neuen Sinn gegeben,
sie enthält Widerspruch, sie treibt den Konflikt mit den Oberen
weiter. Literatur ist nicht mehr ein Privileg für die Gebildeten«
(S.142). Parin sieht hierin die Basis für »jene breite Teilnahme an
der literarischen Kritik der Kultur« (S. 143), die nach 1945 in
Italien einsetzte – und die er in Deutschland in dieser
Eindeutigkeit nicht zu finden vermag.
Bezeichnend ist für Parin in diesem Kontext auch, dass in der
deutschen Übersetzung der Titel »Uomini e no« mit »Dennoch
Menschen« statt mit der naheliegenden Übersetzung »Menschen und
Unmenschen« wiedergegeben wird. Deshalb betont Parin: Niemand ist
Unmensch, weil er ein deutscher Soldat ist oder weil er zur
Besatzungsmacht gehört. Jedoch: »Wer sich (...) der unmenschlichen
Unterdrückungsmaschine verschrieben hat, ist Unmensch« (S. 145).
Die Botschaft des Romans lautet: »Das Persönliche ist immer
politisch, das Politische persönlich.«
Parin gehört – neben Autoren wie Cremerius, Dahmer, Richter,
Ekstein oder Mannoni – zu den wenigen Analytikern, die immer wieder
auf die kultur- und gesellschaftskritische Dimension des Freudschen
Werkes insistieren und die von schnöder Geschäftstüchtigkeit
beschädigte Analyse kritisieren. Eindeutig ist sein Resümee in
diesem anregenden Buch. Er konstatiert:
»Die Vergangenheit versinkt, und Geschichtslosigkeit droht sich
einzustellen, wo immer es Herrschaft und Beherrschte gibt. Ohne
eine Kultur, die ihre Kritik gegen die Machtverhältnisse richtet,
ist kein Fortschritt möglich« (S. 153).