Rezension zu Psychotherapie, Emanzipation und Radikaler Konstruktivismus
Das Argument 275-2008
Rezension von Michael Zander
Friele, ausgebildeter Familientherapeut, zeichnet die Entstehung
des »systemischen« Ansatzes nach, beginnend mit den mittlerweile
klassischen Forschungen des »Mental Research Institute« in Palo
Alto gegen Ende der 1950er Jahre. Der Versuch, den Ursprung
psychischer Konflikte nicht mehr im Individuum, sondern in der
Struktur der Familienbeziehungen zu lokalisieren, richtete sich
seinerzeit v.a. gegen die »monadischen« Erklärungen der
Psychoanalyse. An der Entwicklung der neuen Richtung waren mit Paul
Watzlawick, Nathan Ackerman und Mara Selvini Palazzoli
Psychoanalytiker entscheidend beteiligt. Im Kontrast zur
klassischen Psychoanalyse verdeutlicht Friele das innovative
Potenzial des systemischen Ansatzes. In einem Gedankenexperiment
spielt er durch, was geschehen wäre, hätte die erste
psychoanalytische Patientin »Anna O.« seinerzeit nicht »Freud in
Wien, sondern Mara Selvini Palazzoli und ihr Team in Mailand
konsultiert« (29): Die psychogenen Sprachstörungen und Lähmungen
der Patientin wären nicht als Ergebnis unaufgearbeiteter
biografischer Konflikte gedeutet worden, sondern als Zeichen für
Störungen in den Familienbeziehungen durch gesellschaftliche Tabus.
Die Symptome wären dabei als Ausdruck unaussprechlicher Zumutungen
gedeutet worden: ein systemisches Therapeutenteam hätte etwa darauf
hinwirken können, dass die junge »Anna O.« von ihrer Pflicht, den
Vater zu pflegen, entbunden würde und so die Möglichkeit erhielte,
altersgemäßen Vergnügungen nachzugehen; an ihrer Stelle müssten die
Mutter und ggf. auch ihr Bruder verstärkt Verantwortung, d.h.
entsprechende Aufgaben übernehmen. Nichtsdestotrotz wäre auch die
systemische Familientherapie gegenüber weiter reichenden
gesellschaftlichen Entwicklungsbeschränkungen von Frauen
indifferent geblieben. Der Gegensatz von Familientherapie und
Psychoanalyse wurde im Laufe der weiteren Entwicklung dadurch
abgemildert, dass Analytiker systemische Überlegungen in ihre
Theorien einbezogen. Zugleich zeigt Friele, dass bei einem den
Interessen der Kostenträger entgegenkommenden Verzicht auf die
Untersuchung biografischer Dimensionen die Probleme der Klienten
unzugänglich blieben.
Frieles Kritik am systemischen Denken behandelt v.a. dessen
philosophische Grundlage, den Radikalen Konstruktivismus. Er
hinterfragt dessen Postulate in
philosophisch-erkenntnistheoretischer, klinisch-therapeutischer und
politisch-ideologischer Hinsicht. Als inneren Widerspruch des
Radikalen Konstruktivismus kennzeichnet er, dass dieser einerseits
»objektivistische« Erklärungen psychopathologischer Symptome
zurückweist, andererseits mit der Preisgabe von Geltungsansprüchen
über kein Kriterium für die Zurückweisung von Erklärungen mehr
verfügt. Aus der notwendigen Relativität subjektiver Erfahrungen
schlossen konstruktivistische Autoren wie Ernst v. Glasersfeld oder
Heinz v. Foerster irrtümlich auf die Relativität jeglicher
wissenschaftlicher Aussagen. Das von diesen Autoren vertretene
»Unentscheidbarkeitspostulat« bezieht sich auf die unmögliche
Berechnung von Handlungsfolgen. Eine konsequente Anwendung dieses
Postulats würde dem systemischen Ansatz jede Orientierungsfunktion
nehmen und behandlungsethische Grundsätze bedeutungslos machen.
Darüber hinaus erweist sich der Konstruktivismus hier als
kompatibel mit neoliberaler Ideologie, derzufolge das gezielte
Eingreifen in gesellschaftliche Strukturen rational nicht
begründbar sei.
Friele untersucht die sozialhistorischen Bedingungen für den
Aufstieg des systemischen Ansatzes. U.a. kommt er zu dem Ergebnis,
dass die Annahme pluraler Wirklichkeiten gut zur wachsenden
Bedeutung von Scheidungen und nichtehelichen Lebensgemeinschaften
passt: Sie fungiert als eine Art Basis zur Neuverhandlung
familiärer Arrangements. Darüber hinaus ordnet sich der systemische
Ansatz mit seiner Tendenz zur kurzfristigen Optimierung von
Handlungsregulationen der zunehmenden Prekarisierung der Kinder-
und Jugendhilfe unter. Zur Erläuterung der ideologischen
Funktionalität des systemischen Ansatzes zeichnet er die Geschichte
der modernen Familie bis zu den gegenwärtigen
Flexibilisierungsprozessen unter neoliberalen Vorzeichen nach.
Anhand von Fallbeispielen zeigt Friele, dass die angenommene
Gleichwertigkeit aller in einen Therapieprozess eingebrachten
Sichtweisen illusionär ist: statt bewusster Prioritäten machen sich
unter der Hand herrschaftsförmige Anforderungen und Normen in der
Therapie geltend.
Insgesamt plädiert die Studie gegen konstruktivistische
Beliebigkeit und für bewusst normative Zielsetzung in der
psychosozialen Arbeit. Den Begriff der »Individuation«, wie ihn die
Familientherapeuten Ivan Boszormenyi-Nagy und Geraldine Spark
vertreten, betrachtet Friele als »wegweisend« im Sinne einer
»Möglichkeitsbedingung für Selbstbestimmung«, denn »hier wird ein
Entwicklungsziel für die Betroffenen formuliert, das [...]
argumentativ verhandelt werden kann« (339). Allerdings sei eine
gesellschaftskritische Reinterpretation der »Individuation«
notwendig; denn diese »neigt zurück in die Individuumszentriertheit
der psychoanalytischen Tradition, wenn sie darauf hinausläuft,
grenzenlos emotionale Autonomie, kognitive Differenziertheit und
Verhandlungsfähigkeit zu fordern. Mit einer
persönlichkeitspsychologischen Kategorie muss erkennbar werden
können, wie sich eine Person (immer wieder) in Konflikte,
Widersprüche verstrickt, wenn sie die Rahmenbedingungen ihres
Handelns nicht ändert oder nicht ändern kann« (345). Eine
emanzipatorische Persönlichhnitstheorie müsse der Einsicht der
Kritischen Psychologie Rechnung tragen, dass »individuelle
Handlungsfähigkeit« von der »Teilhabe an der Verfügung über
gesellschaftliche Lebensbedingungen« abhängt (ebd.; vgl. Holzkamp,
Grundlegung der Psychologie, Frankfurt a.M. 1983, 243).