Rezension zu Adolf Hitler, die deutsche Mutter und ihr erstes Kind
Publik-Forum
Rezension von Barbara Tambour
Aus der Kinderstube des Herrenmenschen. Säuglingspflege im
Nationalsozialismus. Ein Gespräch mit Sigrid Chamberlain
Sigrid Chamberlain, geboren 1941, beschäftigte sich einen Großteil
ihres Lebens mit dem Thema Erziehung: Sie hat als Sozialarbeiterin,
Sozialpädagogin in Kinderheimen, Obdachlosensiedlungen und in einer
Krabbelstube gearbeitet sowie zwei eigene Kinder und ein Pflegekind
erzogen. Im Psychosozial-Verlag ist von ihr das Buch »Adolf Hitler,
die deutsche Mutter und ihr erstes Kind. Über zwei
NS-Erziehungsbücher« erschienen. Sigrid Chamberlain ist verheiratet
und lebt in Frankfurt am Main.
Publik-Forum: Frau Chamberlain, Sie haben über Säuglingspflege im
Nationalsozialismus geforscht, Warum ist Ihnen dieses Thema
wichtig?
Sigrid Chamberlain: Einmal aus persönlichen Gründen. Im Laufe
meines Lebens und meines Umgangs mit kleinen Kindern merkte ich,
dass ich bestimmte Dinge einfach nicht konnte: Es ist mir zum
Beispiel nicht gelungen, meine Kinder, wenn sie sehr traurig waren,
zu trösten. Das hat mich sehr beschäftigt, und irgendwann dachte
ich mir: Die Ursache muss in meiner eigenen Kindheit liegen. Ein
anderer Grund ist mein Name, Sigrid. Ich sollte mich eigentlich
Siegrid schreiben, mit »ie«, nach dem nordischen Wort für Sieg.
Mein Name war als Beschwörung des faschistischen Endsieges gedacht.
Als ich 1941 geboren wurde, war mein Vater als Soldat vermisst, in
Wirklichkeit war er schon gefallen, doch das war zu diesem
Zeitpunkt noch nicht bekannt.
Publik-Forum: Waren Ihre Eltern überzeugte Nationalsozialisten?
Sigrid Chamberlain: Ja.
Publik-Forum: Fällt es Ihnen schwer, das zu sagen?
Sigrid Chamberlain: Nein, damit befasse ich mich schon seit so
langer Zeit, dass es für mich selbstverständlich geworden ist. Und
es waren ja nicht nur meine Eltern. Die nationalsozialistischen
Ideen waren viel weiter verbreitet und auch viel akzeptierter, als
von den meisten Menschen zugegeben wird.
Publik-Forum: Was sehen Sie als Ursache dafür an, dass Sie Ihre
Kinder nicht gut trösten konnten?
Sigrid Chamberlain: Um darauf eine Antwort zu finden, brauchte ich
die Unterstützung einer Psychotherapeutin. Meine Mutter war sehr,
sehr streng. Weinen und jeglicher Ausdruck von Gefühlen waren bei
ihr verboten. Ich erinnere mich an eine Szene, als ich zwei Jahre
alt war: Eine Wespe summte um mich herum, ich hatte Angst, wollte
weinen. Meine Mutter stand mit erhobener Hand vor mir, drohte
zuzuschlagen, wenn ich anfinge zu weinen. Traurigkeit, Angst,
Erschrecken waren bei ihr absolut verboten. Auch wenn ich mir
wehgetan hatte, konnte ich von ihr kein Mitgefühl erwarten. Hilfe
und Unterstützung gab es nicht. Eher schlug sie zu. Manchmal so
fest, dass die Leute dachten, sie schlägt mich tot.
Publik-Forum: Was hat die Psychotherapie für Sie verändert?
Sigrid Chamberlain: Sie hat mir zu mehr Distanz verholfen. Ohne sie
hätte ich das Buch über die Säuglingspflege im Nationalsozialismus
nicht schreiben können. Und durch das Buch habe ich viele Menschen
kennengelernt, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben. Leute, die
sagen:
Das kenne ich. Lange Zeit dachte ich: Das ist mein Versagen. Oder:
Ich erinnere mich falsch. Heute kann ich mit diesen
Kindheitserinnerungen besser umgehen. Frieden habe ich mit ihnen
nicht geschlossen, manches tut nach wie vor weh. Allerdings fällt
es mir heute leicht, gut und spontan mit meinen Enkelkindern
umzugehen: körperliche Nähe zuzulassen, sie nicht weinen zu
lassen.
Publik-Forum: Gab es das denn, eine ausgesprochen
nationalsozialistische Säuglingspflege und
Kleinkinder-Erziehung?
Sigrid Chamberlain: Ja, genau das behaupte ich. Ein wirklicher
Nationalsozialist ist nicht vorstellbar ohne das Bedürfnis, andere
auszugrenzen und auch grausam mit anderen Menschen umzugehen. Ein
solches Verhalten ist aber nicht vorstellbar ohne eine
grundsätzliche Bindungslosigkeit und ein hohes Maß an
Gefühllosigkeit. Und genau darauf, auf Gefühllosigkeit und
Bindungslosigkeit, laufen die Ratschläge in dem 1934 von der Ärztin
Johanna Haarer verfassten Ratgeber »Die deutsche Mutter und ihr
erstes Kind« hinaus. Er ist gewissermaßen eine Anleitung zu
Kaltherzigkeit und Beziehungsarmut.
Dieses Buch habe ich untersucht. Es war der verbreitetste Ratgeber
zur Säuglingspflege im »Dritten Reich«: Bis Kriegsende wurden 690
000 Exemplare verkauft.
Publik-Forum: Was rät die Autorin Haarer der jungen Mutter?
Sigrid Chamberlain: Das Kind soll tags wie nachts in einem stillen
Raum für sich sein. Die Trennung von Familie und Kind beginnt
gleich nach der Geburt: Sobald der Säugling gewaschen, gewickelt
und angezogen ist, soll er für 24 Stunden allein bleiben. Erst
danach soll er der Mutter zum Stillen gebracht werden. Von der
ersten Minute des Lebens an wurde also alles getan, um die
Beziehungsunfähigkeit zu fördern. Alles war verboten, was Beziehung
förderte. Denn das Hauptziel bestand darin, die Beziehung zwischen
der Mutter oder den Eltern und dem Kind gar nicht erst entstehen zu
lassen. Diesem Zweck dienen auch Haarers Forderungen, keine Zeit
gemeinsam zu verbringen außer beim Füttern, Windelwechseln,
Anziehen, Baden. Dafür aber waren genaue Zeitspannen vorgegeben.
Das Füttern mit der Flasche sollte keinesfalls länger dauern als
zehn Minuten, das Stillen nicht länger als zwanzig Minuten. Wenn
das Kind »bummelt« oder »trödelt«, soll das Füttern oder Stillen
abgebrochen werden. Essen gibt es erst wieder bei der nächsten
planmäßigen Mahlzeit. Hat das Kind bis dahin Hunger, geschieht es
ihm erstens recht und zweitens lernt es dann, dass es sich beim
nächsten Mal mehr beeilen muss.
Publik-Forum: Und wenn das Baby schreit?
Sigrid Chamberlain: Wenn es schreit, soll man es schreien lassen.
Weil es sonst verwöhnt wird. Haarer schreibt, wenn man auf das
weinende Kind eingehe, ziehe man sich in kürzester Zeit einen
unerbittlichen Haustyrannen heran. Sie warnt ausdrücklich davor,
das Kind aus dem Bett zu nehmen oder herumzutragen.
Publik-Forum: Was hat das für Folgen für das Kind? Wie erlebt es
das, wenn es schreit und niemand kommt, niemand es hochnimmt?
Sigrid Chamberlain: Das Baby hat Todesangst wegen des Hungers, denn
es weiß ja nicht, ob es überhaupt noch etwas bekommt. Und es
erleidet die sogenannte Körperkontakt-Verlustangst, die ebenfalls
eine Todesangst ist. Jedes kleine Kind, jedes Lebewesen braucht die
Berührung, den Körperkontakt, sonst stirbt es. Kinder, denen dieser
Kontakt verweigert oder bei denen er zeitlich so knapp bemessen
wird, wie von Haarer empfohlen, überleben schwerer. Auch das passte
zum System.
Publik-Forum: Das war wie eine erste Auslese. Wer das nicht
schafft...
Sigrid Chamberlain: ... den brauchen wir auch nicht.
Publik-Forum: Aber waren solche Ansichten wie etwa, dass Kinder
nicht verwöhnt werden sollen oder dass lautes Schreien die Lungen
kräftige, zu dieser Zeit nicht Allgemeingut?
Sigrid Chamberlain: Es gab durchaus andere Vorstellungen, und die
wurden auch praktiziert. So gab es zum Beispiel Ärzte und Hebammen,
die gegen die Trennung unmittelbar nach der Geburt waren, weil sie
wussten, dass dadurch der natürliche Stillprozess schwerer in Gang
kommt. Und es gab völlig andere, gewaltfreie Vorstellungen zur
Kindererziehung. Mein Urgroßelternhaus mütterlicherseits war
beispielsweise sehr liberal. Dort wurde nicht geschlagen, die
Kinder wurden nicht verhöhnt. Nach dem Krieg war ich mehrfach zu
Besuch in dem Dorf in der Nähe von Posen, wo meine Urgroßeltern ein
Gut hatten. Dorfbewohner erzählten mir folgende Geschichte: Während
des Krieges waren auf dem Gut Kriegsgefangene als Zwangsarbeiter
eingesetzt. Einmal schlug ein Aufseher einen Zwangsarbeiter. Meine
Urgroßmutter habe diesen Aufseher zu sich zitiert und gesagt:
»Unter meinem Dach und auf meinem Grund und Boden ist noch nie ein
Mensch geschlagen worden. Und das kommt auch jetzt nicht vor.« Auch
die Haarer kannte andere, gewaltfreie und beziehungsvolle Ansätze
zur Säuglingspflege und zur Erziehung. Sie polemisiert dagegen und
tut sie als jüdischen Quatsch ab, der für das deutsche Kind nicht
angemessen sei.
Publik-Forum: Wer war diese Johanna Haarer?
Sigrid Chamberlain: Sie war Lungenfachärztin, lebte in München und
hatte bei Abfassung des Buches zur Säuglingspflege Zwillinge;
insgesamt bekam sie fünf Kinder. Sie hatte weder eine pädagogische
Ausbildung, noch war sie Spezialistin für Kinderheilkunde. Johanna
Haarers fünf Kinder sind später interessanterweise alle auf
irgendeine Weise psychisch krank geworden.
Publik-Forum: Haben Sie nach denen geforscht?
Sigrid Chamberlain: Nicht ausdrücklich. Aber nach Erscheinen meines
Buches kamen verschiedene Kontakte zustande, und ich erhielt auch
diese Information.
Publik-Forum: Warum hat sie diese Bücher geschrieben?
Sigrid Chamberlain: Initiator der Bücher war der Verleger Julius F.
Lehmann, ein früher und überzeugter Nationalsozialist, in dessen
Verlag neben anderer Naziliteratur sowohl 1934 der Ratgeber »Die
deutsche Mutter und ihr erstes Kind« wie auch 1936 der
Fortsetzungsband »Unsere kleinen Kinder« und 1939 das Lesebuch
»Mutter, erzähl von Adolf Hitler« erschienen.
Publik-Forum: Warum waren diese Bücher so erfolgreich?
Sigrid Chamberlain: Sie kamen einem gewissen Bedürfnis entgegen und
erschienen in einem der größten und mächtigsten Verlage seinerzeit.
Der Säuglingsratgeber wurde im ganzen Reich in den Mütterschulungen
der NS-Frauenschaft verwandt. Bis April 1943 wurden diese Kurse von
rund drei Millionen Frauen besucht.
Publik-Forum: Und die Mehrheit der Mütter im »Dritten Reich« hat
daraufhin ihre Babys schreien lassen, nach Zeitplan gefüttert und
ansonsten ins stille Zimmer abgeschoben? Hat sich dieser
Erziehungsstil wirklich durchgesetzt?
Sigrid Chamberlain: Prozentual lässt sich das natürlich nicht
sagen. Aber eine große Rolle hat er auf jeden Fall gespielt, das
schließe ich aus den Reaktionen auf mein Buch. Mir haben viele
Menschen geschrieben und sich dafür bedankt, dass sie bestätigt
bekommen haben, woran sie sich diffus erinnerten, was sie
belastete, wofür sie bislang aber keine Worte und keine Erklärung
hatten. Auch Therapeuten haben mir bestätigt, dass sie das, was ich
beschreibe, von ihren Klienten her kennen.
Publik-Forum: Sie schreiben: Haarers Bücher enthalten eine
Pädagogik, die ausdrücklich auf das nationalsozialistische System
hin erziehen will. Wie erzieht man ein Neugeborenes auf das
Hitlerregime hin?
Sigrid Chamberlain: Indem man es zum Beispiel der Angst, zu
verhungern oder verlassen zu sein, aussetzt. Wenn Menschen dies
häufig erleben, ohne dass sie Trost und Geborgenheit erfahren, dann
ist die Gefahr groß, dass sie später – unter bestimmten Umständen –
diese Angst ausleben, indem sie sie an andere weitergeben, indem
sie andere brutal behandeln, einschüchtem, bloßstellen. Und solche
Menschen brauchte das Regime, um seine Vernichtungspläne
durchzusetzen.
Publik-Forum: Was sagt Johanna Haarer über das etwas ältere Kind,
das krabbelt oder schon läuft?
Sigrid Chamberlain: Das soll die Mutter in den Laufstall setzen, am
besten auf dem Balkon oder im Garten.
Publik-Forum: Also nicht dort, wo sich die Mutter die meiste Zeit
aufhält.
Sigrid Chamberlain: Frische Luft und Sonne hält Haarer für
wesentlich wichtiger als die Nähe zur Mutter. Außerdem kann sie
ungestörter ihrer Arbeit nachgehen, wenn sie sich durch die
räumliche Trennung gar nicht erst bemüßigt fühlt, auf irgendwelche
Äußerungen des Kindes einzugehen oder sich sonstwie mit ihm zu
beschäftigen. Bei allen Ratschlägen läuft es darauf hinaus, dass
die Mutter möglichst wenig durch das Kind gestört wird. Das Kind
wird als Störung dargestellt.
Publik-Forum: Einerseits appelliert Haarer an die Mutter, möglichst
viele Kinder für Vaterland und Führer zu gebären. Die aber sollen
dann möglichst wenig Arbeit machen.
Sigrid Chamberlain: Ja, sie sagt, es sei gut, viele Kinder zu
haben, weil dies die Erziehungsarbeit leichter mache – die Kinder
regelten vieles unter sich. Auch sei die Gefahr, ein Kind zu
verwöhnen, bei mehreren Kindern einfach geringer. Und das ist ihr
sehr wichtig. Aber das stille Zimmer und das einsame Ställchen
haben ja nicht nur zu einer emotionalen Austrocknung der Kinder
geführt, sondern sie behinderten auch die Entwicklung der
intellektuellen Fähigkeiten – und das war durchaus gewollt und ein
Teil des Systems.
Publik-Forum: Inwiefern?
Sigrid Chamberlain: Die Menschen sollten in gewisser Weise dumm
gehalten werden und dadurch eben kritiklos bleiben und
verführbar.
Publik-Forum: Und dies konnte erreicht werden, wenn die Kinder in
einer anregungsarmen Umgebung »geparkt« wurden?
Sigrid Chamberlain: Ja, weil ihr Entdeckerdrang beschnitten wurde.
Ich habe erlebt, wie eine ältere Frau, die in ihren jungen Jahren
überzeugte Nationalsozialistin war, ihrem zweijährigen Enkel auf
die Hand haute, weil der in der Küche nach einer Kartoffel
griff.
Publik-Forum: Obwohl nichts passieren konnte in diesem Moment?
Sigrid Chamberlain: Nein, gar nichts. Einfach, weil er das nicht
sollte. Ein Kind soll nicht von sich aus neugierig sein, etwas
nehmen, erkunden.
Publik-Forum: Sie sagten vorhin, im Haus Ihrer Urgroßeltern wurden
Kinder nicht verhöhnt. War das andernorts üblich?
Sigrid Chamberlain: Haarer schreibt, dass die Erwachsenen sich
ruhig über die Fehler und Schwächen der Kinder lustig machen und
sie verspotten dürfen.
Publik-Forum: Die Kinder wurden also bloßgestellt Ein 45 Jahre
alter Mann erzählte mir, dass in seiner Kindergartenzeit – in einem
katholischen Kindergarten – diejenigen Kinder, die in die Hose
gemacht hatten, von den Erzieherinnen beschämt und mehr oder
weniger an den Pranger gestellt wurden.
Sigrid Chamberlain: Natürlich. Erzieherinnen, Säuglingsschwestern,
Fürsorgerinnen, die in den 1930er- und 1940er-Jahren ausgebildet
wurden, bei Kriegsende vielleicht 25 waren, haben diesen ganzen
Bereich bis in die 1980er-Jahre geprägt. Übrigens konnten alle
Menschen, die mit kleinen Kindern arbeiteten, nach dem Krieg
weiterarbeiten, da gab es so gut wie keine Entnazifizierung. Meine
Mutter zum Beispiel durfte als überzeugte Nationalsozialistin nach
1945 nicht Geschichte studieren, aber sie durfte Fürsorgerin
werden. Also einen Beruf ergreifen, in dem sie viel mehr
Entscheidungsgewalt und Macht über Menschen bekam.
Publik-Forum: Das heißt, auch nach 1945 war mit dieser Art
Säuglingspflege und Erziehung noch lange nicht Schluss.
Sigrid Chamberlain: Keineswegs. Sogar der Säuglingsratgeber von
Johanna Haarer erschien ab 1949 unter dem leicht veränderten Titel
»Die Mutter und ihr erstes Kind« und in etwas gereinigter Form
weiter – die letzte Auflage im Jahr 1987.
Publik-Forum: Ihre zentrale These lautet, dass Haarers Bücher voll
von Anweisungen sind, die die Mutter-Kind-Bindung erschweren oder
sogar verhindern. Wie entsteht normalerweise eine gesunde
Mutter-Kind-Bindung?
Sigrid Chamberlain: Indem die Mutter das Kind im Arm hält,
streichelt, es stillt, es anschaut. Indem sie mit ihm spricht. Die
ersten dreißig Minuten nach der Geburt sind von entscheidender
Bedeutung: In dieser Zeit können sich Mutter und Kind optimal
aufeinander einstellen – wenn man sie denn lässt. Durch diesen
ersten Kontakt wird das gesamte Nervensystem des Kindes stimuliert,
wichtige Körperfunktionen wie der Saugreflex werden angeregt.
Dieser frühe, intensive Kontakt und die daraus resultierende
Mutter-Kind-Bindung hat auch Folgen für die Frau: Er birgt die
Chance zu einer besseren Beziehung, weil sie auf dieser Grundlage
die Signale ihres Kindes besser versteht.
Publik-Forum: Was muss man tun, um eine Mutter-Kind-Bindung zu
verhindern?
Sigrid Chamberlain: Man muss von Geburt an möglichst jeden Kontakt
unterbinden oder – wenn er unumgänglich ist – ihn
reglementieren.
Publik-Forum: Welche Folgen hat das für das Kind, wenn es derart
bindungsgestört aufwächst?
Sigrid Chamberlain: Erwachsene, die eine solche Kindheit erlebten,
haben oftmals Schwierigkeiten, überhaupt eine enge Beziehung mit
einem anderen Menschen einzugehen. Es fällt ihnen schwer,
liebevoll, einfühlsam und warmherzig mit ihren Kindern umzugehen.
Viele, mit denen ich gesprochen habe, haben berichtet, dass sie oft
umgezogen sind und dass sie Schwierigkeiten haben, ihre Wohnung
schön und gemütlich einzurichten, dass sie sich also kein Zuhause
schaffen können. Auch haben sie das große, nie gestillte Bedürfnis
nach Anerkennung und begeben sich deshalb leicht in ein System
hinein, das sie scheinbar anerkennt.
Publik-Forum: Ist das der Hauptnutzen, den die Nazis aus
bindungslosen Menschen gezogen haben?
Sigrid Chaniberlain: Ja, sie sind so verführbar, weil sie nirgendwo
gebunden sind und weil sie eine so große Sehnsucht nach
Zugehörigkeit haben.
Publik-Forum: Wie wirkt diese Erziehung zur Gefühlskälte in den
nachfolgenden Generationen weiter?
Sigrid Chamberlain: Jene, die so erzogen wurden, neigen zur
Depression. Sie spüren oft eine große Hilflosigkeit, nicht nur in
Bezug auf Kinder, sondern auch auf sich selbst. Sie haben das
Gefühl, dass das Leben schwer fällt, ohne dass sie dafür eine
Erklärung hätten. Ich bin mir sicher, dass die Bewegung der
antiautoritären Erziehung eine Reaktion auf jenen Erziehungsstil
war. Wenngleich eine zu kurz gedachte, denn sie übersah, dass die
nationalsozialistische Erziehung nicht nur eine autoritäre, sondern
im Kern eine Erziehung zur Bindungslosigkeit war. Ich erinnere mich
gut, wie es war, als meine Kinder klein waren: Ich spürte, was sie
nicht brauchten, was ihnen schadete, aber ich konnte nicht spontan
entscheiden, was sie brauchten.
Publik-Forum: Welche Reaktionen erleben Sie, wenn Sie Vorträge zu
diesem Thema halten?
Sigrid Chamberlain: Überwiegend erstaunte Zustimmung. Sehr häufig
sagen Zuhörer: »Jetzt bekommt manches, was ich nie verstanden habe,
einen Sinn. Jetzt verstehe ich den Zusammenhang.« Und nach dem
Vortrag erzählen immer einige ihre Geschichte, diese Gespräche
dauern oft bis tief in die Nacht. Denn jene, die in den 1930er und
1940er-Jahren geboren wurden und die eine nationalsozialistische
Pflege und Erziehung erfahren oder besser gesagt, erlitten haben,
leben ja zumeist noch. Sie sind heute zwischen 65 und 75 Jahre
alt.
Publik-Forum: Sie fällen ein hartes Urteil, wenn Sie sagen: Viele
Menschen, die zwischen 1931 und 1951 geboren wurden, haben eine
Primärstörung erlitten, weil sie keine stabile Primärbindung an die
Mutter aufbauen konnten. Mit der gehen sie ins Leben. Gibt es eine
Heilung, ein Herauswachsen? Oder ist das etwas, mit dem man leben
muss?
Sigrid Chamberlain: Nach meinen Erfahrungen ist es etwas, womit man
leben muss. Wobei zum Glück manche Menschen eben auch andere
Erfahrungen gemacht haben, nicht nur die mit den Eltern: Da gab es
eine liebevolle Großmutter, Eltern von Freunden, die wichtig
wurden, oder Lehrer, die anders waren. Ganz alleine da
herauszuwachsen ist schwer bis unmöglich. Unter günstigen Umständen
gelingt es vielleicht, diese Erfahrungen einzukapseln. Aber
eigentlich denke ich, ist es ein grundsätzlicher Schaden, den man
davongetragen hat.
Publik-Forum: Wenn Sie heute noch einmal ein kleines Kind pflegen
und erziehen müssten: Was wäre Ihnen aufgrund Ihrer Arbeit und
Erfahrung dabei am wichtigsten? Was raten Sie jungen Eltern?
Sigrid Chamberlain: Ich würde den Eltern raten, den Kindern viel
Zeit und Körperkontakt zu gönnen, die Kinder auf gar keinen Fall
nach Plan zu füttern, sondern deren Signale zu beachten und diese
zu lernen. Besonders wichtig ist, ein Kind viel anzugucken, viel
mit ihm zulächeln, es zu streicheln und in der Babysprache mit ihm
zu sprechen, denn die Babysprache entspricht seinen
Hörbedürfnissen. Man sollte sich nicht genieren, so mit einem Baby
zu sprechen. Und Junge Eltern sollten dies alles mit gutem Gewissen
und Selbstverständlichkeit tun und sich daran freuen. Was ich rate,
ist also: So viel Nähe und Kontakt wie möglich. Aber es muss nicht
immer die Mutter sein. Die Mutter muss nicht immer da sein. Es
müssen Menschen da sein. Der menschliche Kontakt ist wichtig.