Rezension zu Die Krise der Männlichkeit in der unerwachsenen Gesellschaft

Jahrbuch Literatur und Psychoanalyse 2008

Rezension von Irmtraud Hnilica

Horst-Eberhard Richter, das ist der »große alte Mann« der Psychoanalyse. Insbesondere um die Familientherapie hat sich der inzwischen über 80-jährige verdient gemacht, setzt sich aber auch als Aktivist der Friedensbewegung ein und agiert in jüngerer Zeit als Globalisierungsgegner. In seinem neuen Buch konstatiert er nun eine Krise der Männlichkeit in der unerwachsenen Gesellschaft. An aktuelle Geschlechterforschung schließt er dabei nicht an, auch wenn der Titel in diese Richtung weist. Die Problematik, um die es Richter geht, ist weitaus allgemeiner und fast schon global. Sie umfasst nicht nur die Frage nach Männlichkeit und Weiblichkeit aus der psychoanalytischen Argumentation, dass männliche Demonstration von Stärke eine Strategie sei, um eine »panische Angst vor Schwäche« zu verbergen (S. 11), wird vielmehr als eine umfassende Gesellschaftskritik entwickelt. Richters Ausführungen gliedern sich in drei Teile: Die Illusion des Stärkekults, Szenen aus der Entwicklung des »Gotteskomplexes«, Analyse neuzeitlicher Strömungen. Während die ersten beiden Teile ihr Anschauungsmaterial aus der älteren und neueren Geschichte beziehen, befasst sich der dritte, besonders überzeugende Teil mit der heutigen Gesellschaft. Phallische Architektur und Bergsteigerehrgeiz – hier wird die Darstellung der Zusammenhänge in der Tat zwingend.

Streckenweise allerdings geraten die Ausführungen zu einer Art – allerdings sehr lesenswerter – kulturgeschichtlicher Anekdotensammlung. Auch die Literatur kommt dabei ins Spiel. Dass Christa Wolfs Roman Kassandra dabei als mehr oder weniger direkte Warnung an die Adresse George W. Bushs betrachtet wird, ist allerdings nicht nur aus literaturwissenschaftlicher Perspektive fragwürdig. Auch sonst geht es gelegentlich ein wenig undifferenziert zu: Atombombe und Gentechnik, mithin die moderne Naturwissenschaft, die Tabakindustrie, Apartheid, Hexenverfolgung, aber auch Wernher von Braun oder Martin Luther und George Bush, die so miteinander verglichen werden wie Thomas Müntzer und Osama bin Laden – hinter allem und jedem sieht Richter denselben Mangel an Humanität und Verantwortungsbewusstsein. Womöglich hat er aber auch einfach Recht und die »Krise der Männlichkeit« zieht sich »durch die ganze westliche Geistesgeschichte« (S. 174).

Die Rede vom »Rüstungswahn« nimmt Horst-Eberhard Richter nicht nur ernst, sondern auch wörtlich. Der Mensch der Gegenwart überhaupt, so schlussfolgert er daher, ist krank, ist ein Psychopath – wenn auch nicht unheilbar. »Das Böse erscheint der Krankheit verwandt, von welcher der Mensch ja gesunden kann« (S. 158). Dieser Diagnose stellt er einen Begriff gegenüber, der in Zeiten sinkender Geburtenzahlen anachronistisch anmutet: »Elterlichkeit«. Jenseits von Männlichkeit und Weiblichkeit ist damit das Ideal gemeint, auf persönlicher wie gesellschaftlicher Ebene in der Lage zu sein, die eigenen kurzfristigen Interessen denen der Allgemeinheit unterzuordnen.

»Es bleibt nur die Chance, dass Männlichkeit und Weiblichkeit sich zu der Stufe der ›Elterlichkeit‹ weiterentwickeln, die den Blick von der narzisstischen Selbstverwirklichung fir die gemeinsame Verantwortung erweitert. In der Politik bedeutet die Stufe der ›Elterlichkeit‹, über die Kurzfristigkeit von Wunscherfüllungen und Symptomtherapien hinauszudenken und Selbstachtung aus dem Mut zur Vorsorge zu schöpfen – alles aber nur möglich, wenn die Frauen bei allem Vermännlichungsehrgeiz ihre Bindungskräfte genügend hüten und die Männer begreifen, dass dauerhaftes gemeinsames Überleben unbedingt das Erlernen von mehr Gemeinschaftlichkeit voraussetzt« (S. 56).

Hier wird der christliche Impetus deutlich, der Richter antreibt – und der dem Mitglied der Groß- und Urgroßelterngeneration nicht nur die Aura der »Elterlichkeit«, sondern auch die durchaus sympathische jugendliche Frische eines Weltjugendtagbesuchers verleiht. Von kindlicher Aufregung angesichts der atomaren Selbstbedrohung ist dann auch die Rede – eine Kindlichkeit, die als »angemessen und sogar notwendig« (S. 124) charakterisiert wird. Dass sich hier ein latenter Widerspruch zu der zentralen titelgebenden These, die Gesellschaft sei »unerwachsen«, ergibt, expliziert Richter nicht.

Immer wieder neigt die Darstellung zum Undifferenzierten; so erscheint Amerika als Reich des Bösen, während Protagonisten der Friedensbewegung gänzlich unkritisch gesehen und beinahe zu Heiligen stilisiert werden. Grundsätzlich ist Richters Menschenbild ein positives. Jenseits jeglichen Zynismus befindet er, dass eine »innere Alarmanlage des Entsetzens [...] von Natur aus fest in unser Nervensystem eingebaut« (S. 104) sei. Mehr noch, mit Max Scheler sei der Mensch ein »ens amans«: »Zuerst also ist er ein liebendes und dann erst ein denkendes und wollendes Wesen« (S. 161). Eine solche Philanthropie wirkt umso erstaunlicher, als Richter ja zur Generation derer gehört, die erlebten, was jeglichen Glauben an das Gute im Menschen zu zerstören geeignet ist. »[W]ir deutschen Soldaten« (S. 118) – eine Formulierung, die trifft und die daran erinnert, dass der Autor in der Tat ab 1942 Angehöriger der Wehrmacht war, bis er 1944 desertierte.

Anders als jene Adepten der Geschlechterforschung, die – poststrukturalistisch geprägt – alles daran setzen, jeglichen Essentialismus zu vermeiden, geht Richter unbefangen mit Begriffen wie »Weiblichkeit« und »Männlichkeit« um, auch von »männliche[r] Urangst« (S. 165) ist die Rede. Der Mann, heißt es an anderer Stelle, täte gut daran, »in sich psychologisch ein Stück mehr Weiblichkeit zuzulassen d.h., sich auf die Bindungskräfte zu verlassen, die für ein Zusammenleben in der uns vorgegebenen Gegenseitigkeit unentbehrlich sind« (S. 11). Die Frauen dagegen haben in sich bereits viel zu viel Männlichkeit zugelassen:

»Das weibliche Geschlecht, das in den neuen Kriegen Panzer führt und Raketen abschießt, steht nur noch bedingt für Abrüstungs- und Versöhnungsengagement zur Verfügung. Zum Teil hält es das Mitmarschieren mit der Waffe und die Identifizierung mit männlichem Kriegsgeist für großartige emanzipatorische Errungenschaften« (S. 51).

Hinter einer solchen Feminismuskritik (die Frauen, so kritisiert er, haben »ihre« Werte partiell aufgegeben: »Sensibilität, [...] Mitempfinden, [...] sorgende Verantwortung« [S. 53]) steht die Vorstellung, dass das weibliche Geschlecht eigentlich das bessere, zumindest seinem Wesen nach friedlichere sei oder sein sollte. Frauen, so heißt es an anderer Stelle, seien den Männern »wie eh und je in sozialer Empfindsamkeit und Fürsorglichkeit voraus« (S. 86). Mit gender-Forschung a la Butler vertragen sich solche Ausführungen nicht. An einer Stelle allerdings wird die Argumentation richtig spannend. Über die »weisen« alten Männer, zu denen Richter mit Recht sich selbst zählt, heißt es:

»Sie befinden sich längst auf der ›elterlichen Stufe‹, auf der sie in sich Schwachheit, Leiden, Demut nicht mehr fürchten, sondern in ihr Selbstbild aufgenommen haben [...]. Ihre ›Elterlichkeit‹ bringt bei ihnen auch kompensatorisch mütterliche Züge zum Vorschein, die von dem sich vermännlichen [sic] Teil der Frauen vernachlässigt werden« (S. 106).

Alte Herren sind also die besseren Frauen. Allein diese Erkenntnis lohnt die überhaupt fesselnde und unterhaltsame Lektüre – auch wenn »Die Krise der Männlichkeit« neben der sympathischen Forderung nach »Elterlichkeit« wenig substantiell Neues leistet.

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