Rezension zu Geboren im Krieg

Jahrbuch Literatur und Psychoanalyse 2008

Rezension von Wolf Wucherpfenning

Die Bearbeitung einer von Nationalsozialismus und Weltkrieg geprägten Kindheit ist, seitdem die Kriegskinder ins Alter gekommen sind und den Halt einer Berufsrolle verlieren, in eine neue Phase getreten: nicht mehr, wie in den ersten Jahren nach dem Weltkrieg, die existentialistische Verwandlung der Welt ins Absurde, in der bedrängende Schuld als zwar überall gegenwärtiges, aber abstraktes Phänomen besprochen werden konnte, nicht mehr die Abrechnung mit der Elterngeneration von einem vermeintlich ganz anderen Standpunkt aus, frei von der Mitschuld an der Banalität des Bösen, sondern konkretes Erinnern an eigenes, frühes Leid, das einen lebenslang geprägt hat, ein Erinnern, dem die Schuldfrage nicht mehr die Frage danach verdeckt, was die Kriege im Innern der Menschen anrichten. An die Stelle existentialistischer Deutung und moralischer Auseinandersetzung ist die wissenschaftliche Untersuchung getreten. Wie wichtig sie ist, erklären Michael Erdmann und Christa Müller in ihrem Beitrag »Kann und soll man die Kriegskindheit nach 60 Jahren noch erforschen?«

»Ohne Erinnerungsarbeit gibt es kein Gefühl der Kontinuität des eigenen Lebens; ohne diese gibt es keine positive Identität. Insofern ist die späte Entdeckung des Themas Kriegskindheit und die Bereitschaft der Gesellschaft und der Forschung, den Kriegskindem zuzuhören, nicht nur eine späte Wiedergutmachung der jahrzehntelangen Sprachlosigkeit, sondern auch eine notwendige Hilfe zur Vervollkommnung ihrer eigenen Identität als Kriegskinder« (S. 68). Das ist aber eine junge Einsicht. »Erst mit der Kenntnis der Frühstörungen sowie mit dem Begriff der Posttraumatischen Belastungsstörung (M. J. Horowitz) fanden diese Kriegsfolgen allmählich Eingang in die Begutachtung und Behandlung. Es tauchten auch jetzt erst im allgemeinen Bewusstsein Fragen auf, wie denn die deutschen Kriegskinder ihr Leben bis zur Altersgrenze hatten bewältigen können« (S. 130). So Herta Betzendahl (»Psychophysische Auswirkungen des Krieges auf deutsche Kinder des Zweiten Weltkrieges«).

Das eindrucksvollste belletristische Beispiel identitätsschaffender Erinnerung ist zweifellos Dieter Fortes Romantrilogie »Das Haus auf meinen Schultern«. Dort wird das traumatische Erleben in die historische Kontinuität des Familienromans eingebettet und kann so aus der Distanz heraus bearbeitet werden. Die literarisch-künstlerischen Bearbeitungen der Ausgebombten, Kriegsflüchtlinge und Waisen bzw. Halbwaisen, die der hier zu besprechende Band enthält, sind dagegen auf einzelne Ereignisse (und ihre Nachwirkung) fixiert, beruhen allerdings, mit einer Ausnahme, auf psychotherapeutischer Reflexion bzw. Behandlung. Zusammen mit anderen Erfahrungsberichten dokumentieren sie vier wesentliche Problembereiche der Kriegskinder: frühe Traumata, auch solche, die im präverbalen oder gar vorgeburtlichen Stadium erlebt wurden, konkrete oder symbolische Vaterlosigkeit, die Schwierigkeit, in der Normalgesellschaft der weniger Betroffenen anzukommen, sowie die transgenerationale Weitergabe psychischer Kriegsschäden.

Eine Reihe von empirischen und qualitativen Untersuchungen geht diesen Problemen nach. Wie gehen die Menschen mit den eigenen Traumata und den leid- oder schuldvollen Erinnerungen der Eltern um? Sie werden abgespalten, es gibt verschiedene Techniken der Selbsttröstung, es wird nicht nachgefragt. Manche suchen jahrelanger Sprachlosigkeit zu entkommen, indem sie mit ebenfalls beschädigten Partnern fragile Bewältigungsgemeinschaften bilden, die nicht selten in »späten Scheidungen« enden.

Insbesondere die Vaterlosigkeit, die heute freilich nicht nur eine Folge des Krieges ist, trägt zur Identitätsunsicherheit vor allem der männlichen Kinder bei. »Das [...] Erfahrungsdefizit realer Männlichkeit und Väterlichkeit trägt sicherlich auch noch zu dem großen kommerziellen Erfolg medial vermittelter, häufig destruktiver Männerbilder bei. Es sei [...] nur an die enorm erfolgreichen Kinofilme Terminator, Matrix oder Star Wars erinnert. In diesen episch angelegten Erfolgsstreifen geht es darum, dass jeweils ein kleiner vaterloser Junge von weisen und technisch brillanten Ersatzvätern zu einem großen starken Mann herangebildet wird. In ihren Gegnern – allgegenwärtige, parasitäre oder umfassend bedrohliche Maschinenwelten – sind unschwer die allmächtigen, mit projektiver Aggression aufgeladenen Verfolger der paranoiden Position wiederzuerkennen. Diesen archaischen Mächten bietet der Junge schließlich die Stirn und siegt mit Hilfe des väterlichen Mentors. Die auf den ersehnten Vater gerichteten Entwicklungs- und Bindungswünsche zahlreicher vaterloser Kinder sind hier ebenso unschwer zu identifizieren« (S. 73). So Matthias Franz in seinem Beitrag »Die biografische Langzeitwirkung kriegsbedingter Vaterlosigkeit«. Er weist auch darauf hin, dass Vaterlosigkeit der Jungen zusammen mit dem Erlebnis depressiver Mütter das Risiko psychosomatischer Krankheiten erhöht und die Fähigkeit verringert, Stress, Angst, überhaupt emotionale Probleme zu bewältigen. Nach Ina Fooken (»›Späte Scheidungen‹ als späte Kriegsfolgen?«) können die »muttergeschädigten« vaterlosen Jungen, die also mit der Mutter Konflikte austrugen, besser mit ihren späteren Beziehungsproblemen umgehen als die muttergebundenen. »Bei den Töchtern ist die Situation wiederum etwas anders, da die meisten »vaterlosen« Töchter fast alle in gewisser Weise »muttergeschädigt« waren. Dieses »Erbe« scheint bei ihnen nachhaltig in ihre problematischen, mit vielen Demütigungserfahrungen verbundenen Partnerbeziehungen hinein zu wirken, obwohl sie sich am Ende dann zumeist doch mit einer Art Befreiungsschlag aus den belastenden Beziehungsproblemen befreien konnten« (S. 100).

Eine Untersuchung traumatisierter Kinder aus dem jugoslawischen Bürgerkrieg (Helga Spranger: »Das Amfortas-Syndrom«) erweitert das: Das Kind, dem die Mutter nicht helfen kann, wird orientierungslos und zugleich vom mütterlichen Hilfsbedürfnis überfordert; es erfährt die Abwesenheit des Vaters als Liebesentzug, was späteres Bindungsbegehren gegenüber ihm und anderen Männern erschwert. Die Phase der Verleugnung des Traumas bei Mutter und Kind kann insbesondere beim Kind zu langdauernder Erstarrung und Sprachlosigkeit führen.

Die transgenerationale Wirkung des Erlittenen, von unbewusster Vermittlung über die Wirkung der Erziehung bis zu bewusster Auseinandersetzung, ist das andere große Thema neben der Vaterlosigkeit. Peter Heinl (»Die Ungnade der späten Geburt. Der Hundertjährige Krieg in den Katakomben des Unbewussten«) berichtet davon, wie er mit Hilfe von »Objektskulpturen« unbewusste Kriegstraumata bewusst macht, die über mehrere Generationen nonverbal vermittelt werden. Charlotte Schönfeldt (»Kriegskinder und transgenerationale Verflechtungen«) untersucht, mit Eriksons Modell der Identitätsphasen als idealem Maßstab und mit der »schwarzen Pädagogik« als Gegenbild, wie beschädigte Mütter durch innere Leere, durch ihre an die Kinder gerichteten Hilfsansprüche, durch Weiterführung der »schwarzen Pädagogik«, aber auch durch falsche Alternativen dazu die Identitätsbildung der Töchter erschweren, die ihrerseits in einer komplexen und gefährdeten Gesellschaft vor besonders schwierigen Erziehungsaufgaben stehen. Ute Althaus (»Krieg im Kinderzimmer«) setzt sich mit ihrem Vater auseinander, der noch in den letzten Stunden des Nazireiches einen zum Widerstand aufrufenden Studenten gehenkt hatte. Auch sie geht auf die Sozialisierung durch die »schwarze Pädagogik« ein; der Vater fand sich in seiner Eigenständigkeit erst durch Hitlers Jugendkult bestätigt und konnte die ambivalente Haltung gegenüber seinem Vater aufspalten in eine positive Übertragung auf Hitler und in Wut auf die Juden. Uwe Langendorf (»Hart wie Kruppstahl. Über die Instrumentalisierung der Kindheit für den Krieg im Nationalsozialismus«) hebt die »weiche« Form der verlangten Anpassung hervor; es gab nicht den einen entscheidenden, sondern die vielen, kleinen Zwänge, denen man sich im Einzelfall widersetzen konnte, die aber in ihrer Gesamtheit eine ständige Einübung in freiwillige Unterwerfung waren.

Hans-Jürgen Wirth stellt zunächst die Kritik der Mitscherlichs an unterlassener Trauerarbeit der Kriegsgeneration richtig: »Die Mitscherlichs fordern zwar die Trauerarbeit um die verlorenen und entwerteten nationalsozialistischen Ideale ein, vernachlässigen aber die unmittelbaren Schmerzen und Leiden der deutschen Bevölkerung angesichts der zerstörten Häuser, der Toten und Verstümmelten in den eigenen Familien. [...] Trauer um die Opfer des Nationalsozialismus und Trauer um das eigene Opfer-Sein gehören sehr eng zusammen. Die Trauer um selbst erlittene Kränkungen und Verluste ist sogar eine Voraussetzung dafür, auch Trauer zu empfinden für das Leid, das anderen zugefügt wurde« (S. 291f.). (Dem wäre nur hinzuzufügen, dass die nicht seltene Larmoyanz der Kriegsgeneration keine Trauer ist, sondern Äußerung einer aufrechnenden Selbstrechtfertigung.) Anschließend untersucht Wirth die 68er Generation, deren extreme und insofern typische Variante die RAF war: »Auf einer unbewussten Ebene holten die Terroristen der RAF das nach, was ihre Eltern zu tun versäumt hatten: Widerstand zu leisten« (S. 295). Er schließt mit einem Psychogramm Joschka Fischers, der sich aus der Ambivalenz zwischen Nachahmung und Ablehnung der Elterngeneration herausgearbeitet hat.

In einem abschließenden Beitrag stellt der Herausgeber seine These von Kriegen als destruktiven Individuationsprozessen dar, welche die Chance in sich tragen, gewalterzeugende Traditionen zu erkennen und zu reformieren, das Ergreifen dieser Chance zugleich aber auch erschweren. Die hier versammelten Aufsätze gehören unterschiedlichen Textsorten an, sie sind von unterschiedlichem Informationswert, die wissenschaftlichen Beiträge folgen unterschiedlichen Methoden, das buntscheckige Inhaltsverzeichnis erschwert den Überblick eher, als dass es ihn erleichtert. Dennoch ist das Buch wichtig, nicht nur wegen vieler Einzelerkenntnisse, sondern weil es deutlich macht, dass reflektierendes, analysierendes Erinnern einen transgenerationalen »Raum des Fühlens« öffnet (S. 24), in dem sich Identität bildet, und dass es dadurch missglückte Identitätsbildung teilweise reparieren und so vermeidbares Leiden vermindern kann.

Kriege sind freilich nicht die einzige Ursache der hier diskutierten Phänomene; symbolische Vaterlosigkeit hat Alexander Mitscherlich schon in den frühen sechziger Jahren als Folge der Modernisierung beschrieben, und die heutigen hohen Scheidungsraten sind wohl kaum spezifisch deutsche Kriegsfolgen (S. 133). Was hier von der Wirkung der Kriege auf die Identitätsbildung gesagt wird, gilt, wenn auch nicht immer so grell und traumatisch, allgemein von schnellen gesellschaftlichen Veränderungen und damit auch von der stillen, aber permanenten Revolution des immer schneller ablaufenden Modernisierungsprozesses. Dieser erschüttert den transgenerationalen Raum des Fühlens zutiefst, verlangt beständig neue, immer reflexivere Identitätsarbeit und erschwert sie zugleich. Kunst und schöne Literatur antworten darauf und liefern neue Identitätsmodelle. Daran zeigt sich nicht nur, dass die Erinnerungen der Kriegskinder allgemeine Repräsentanz beanspruchen können, sondern auch, dass die Psychologie immer noch von der Dichtung lernen kann.

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