Rezension zu Schnittmuster des Geschlechts

Jahrbuch LuP 27/2008: Heinrich von Kleist

Rezension von Jennifer Moos

Dass es sich bei Transsexualität nicht um ein »flexibles Identitäts-Phänomen der Postmoderne« handelt, das erst mit dem queeren Hinterfragen vermeintlich natürlicher Zweigeschlechtlichkeit in medizinischen wie gesellschaftlichen Diskursen Sichtbarkeit erlangte, wird in der von Rainer Herrn vorgelegten Studie schnell erkennbar. Aufbauend auf akribisch recherchiertem, teils zuvor unveröffentlichtem Archivmaterial dokumentiert er Magnus Hirschfelds Entwurf des »Transsexualismus« (1923), zu dem dieser über den »Umweg« des »Transvestitismus« gelangte. Letzterer Begriff wurde von Hirschfeld erstmals im Jahr 1910 in Abgrenzung zur damals gängigen Kategorie des Cross-Dressing verwendet. Die sieben Kapitel des Buches thematisieren die Möglichkeiten erster chirurgischer Maßnahmen zur körperlichen Geschlechtsangleichung bei Transvestiten bzw. Transsexuellen, juristische Hürden sowie die Beratungs- und Behandlungstätigkeit im von Magnus Hirschfeld gegründeten Institut für Sexualwissenschaft (1919-1933). Herrn stellt dabei deutlich Hirschfelds fortwährenden »Versuch der Entpathologisierung der sexuellen Zwischenstufen« (S. 75) heraus.

Den Beginn der medizinischen Debatte um das Cross-Dressing verortet Herrn in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Cross-Dressing wurde als »essentielle[r] Bestandteil der als [...] Geschlechterdegeneration gedeuteten conträren Sexualempfindung« (S. 30) verstanden, deren sichtbarstes Symptom das Tragen von Kleidern des »anderen« Geschlechts war. Herrn weist wiederholt darauf hin, dass es den Cross-Dressern von Anfang an ein wichtiges Anliegen war, sich von den medizinisch bereits kategorisierten und pathologisierten Hermaphroditen und besonders von den (effeminierten) männlichen Homosexuellen zu distanzieren: »Während Hirschfeld Cross-Dressing um 1900 zunächst selbst als Emblem der Homosexualität begriff, unterschied er 1905 Cross-Dresser nach der sexuellen Orientierung, ohne einen adäquaten Namen dafür parat zu haben« (S. 51). Diesen liefert er 1910 mit dem Begriff des »Transvestitismus«, der, so Rainer Herrn, sowohl die Kleidung als auch die »gesamte soziale Geschlechterrolle« (S. 54) einschloss. Interessanterweise klassifiziert Hirschfeld den Transvestitismus zunächst als »ausschließlich [...] heterosexuelles Phänomen« (S. 59), was als einer der Gründe für die Vernachlässigung von »Frauen in Männerkleidung« in seiner Publikation »Die Transvestiten. Eine Untersuchung über den erotischen Verkleidungstrieb« (1910) sowie im zwei Jahre später folgenden Bildband gelesen werden kann, denn: Alle ihm bekannten Transvestitinnen fühlten sich sexuell zu Frauen hingezogen und widerlegten somit Hirschfelds primär heterosexuelle Konzeption des Transvestitismus. Hirschfelds Transvestit meint also zunächst vorrangig einen heterosexuell empfindenden Mann mit »Verkleidungstrieb«. Was nach heutiger Terminologie Transsexualität (mit dem Wunsch zur körperlichen Geschlechtsumwandlung) beschreibt, bezeichnet Hirschfeld nach der Ausdifferenzierung seines Konzepts ab Mitte der 1920er Jahre als »extremen« Transvestitismus.

Obwohl Hirschfelds neue Kategorisierung nur zögerlich Eingang in sexualwissenschaftliche wie psychoanalytische Diskurse fand, bildete sich bereits vor dem Ersten Weltkrieg eine unerwartete Zusammenarbeit zwischen Transvestiten, behandelnden Ärzten und behördlichen Vertretern heraus. Hirschfeld war zusammen mit Karl Abraham der erste Arzt, der 1908 bis 1909 einer Transvestitin ein Gutachten ausstellte, das diese aufgrund ihres biografischen Werdegangs, ihres Geschlechtscharakters und der ausgewiesenen »Unwiderstehlichkeit und Ungefährlichkeit der Neigung« (S. 83) als »echte« Transvestitin klassifizierte und somit die polizeiliche Ausstellung eines »Transvestitenschein[s]« (S. 84) empfahl. Es folgten zahlreiche Gutachten für Männer wie Frauen, die in den Folgejahren anderen Ärzten als Vorlage dienten. Neben den aufgeführten medizinisch-psychologischen Befunden beinhalteten sie auch Informationen zu akut bestehender Suizidgefahr und zum ausgesprochenen Kastrationswunsch der Patienten, um deren Neigung entsprechenden Nachdruck zu verleihen. Obwohl es formal-juristisch kein Gesetz gab, das das Tragen der Kleidung des »anderen« Geschlechts unter Strafe stellte, waren Transvestiten auf die behördliche Sanktionierung ihrer Vorliebe angewiesen: Wenn sie in der Öffentlichkeit als »Frauenkleider tragende Männer« oder »Männerkleider tragende Frauen« bloßgestellt wurden, mussten sie mit Festnahmen und »Anklagen wegen ›groben Unfugs‹ und ›Erregung öffentlichen Ärgernisses‹« (S. 66) rechnen. Der Transvestitenschein legitimierte die transvestitische Praxis und war zugleich Anerkennung der Hirschfeldschen Definition des Transvestitismus auf behördlicher Ebene.

Wie Herrn anschaulich herausarbeitet, war neben der Aufklärung der Bevölkerung die Identitätsbestärkung von Transvestiten und Homosexuellen ein zentrales Ziel des Instituts fur Sexualwissenschaft. Das Institut hätte als Begegnungsstätte dienen und einen geeigneten Ort fur die Ausformung einer »Transvestiten-Organisation« bilden können. Die »verschiedenen Interessenlagen der Fraktionen weiblicher und männlicher, homo- und heterosexueller Transvestiten« (S. 150) erschwerten dieses Vorhaben allerdings erheblich, ganz im Gegensatz zu den Lesben und Schwulen, die sich Mitte der 1920er Jahre in Berlin bereits eine vielfältige Subkultur geschaffen hatten.

Das Institut veränderte ab etwa 1926 sein Profil »von einer wissenschaftlichpraktischen Einrichtung zu einer reinen Behandlungseinrichtung« (S.114). Bereits seit 1920 war es fur Transvestiten durch eine Verfügung des damaligen preußischen Justizministers möglich geworden, mittels eines Gutachtens neben der Erlaubnis für den Kleiderwechsel auch eine Vornamensänderung zu erwirken. Die Vornamensänderung hatte Hirschfeld im Jahr 1912 zum ersten und bis zur genannten Verfügung einzigen Mal erfolgreich durchgesetzt: Louise Sch. durfte sich fortan Louis nennen, sein Personenstand wurde geändert und er heiratete seine Freundin. Wie Herrn anmerkt, handelt es sich hierbei um den ersten »juristischen Vollzug einer Geschlechtsumwandlung ohne vorherige operative Eingriffe« (S. 91). Für solche chirurgischen Eingriffe entwickelt sich Hirschfelds Institut ab Beginn der 1920er Jahre zur führenden Einrichtung. Profitierend von den Ergebnissen experimenteller Geschlechtsumwandlungen bei Tieren (seit 1912) und von im Ersten Weltkrieg erworbenem Wissen in der Sexualchirurgie, kosmetischen Medizin und angewandten Endokrinologie, wird 1921 nach erfolgter Kastration und Ovarienimplantation durch Richard Mühsam zum ersten Mal nachweislich chirurgisch eine Vagina bei einem »Mann« ausgeformt. Für diejenigen Transvestiten, die bis dahin durch häufig lebensgefährliche Selbstverletzungen versucht hatten, ihre teils verhassten Geschlechtsmerkmale zu entfernen, war der medizinische Fortschritt von großer, oft lebensrettender Bedeutung. Neben den erwähnten Operationen sind Paraffininjektionen zur Brustvergrößerung, Brustamputationen, die Einpflanzung von Hormondrüsen, Entfernung der Gebärmutter und Ovarien sowie mechanische, chemische und röntgenologische Maßnahmen zur Bartentfernung angewandt worden. Die Penisamputation als Teil der Kastration wurde allerdings erst ab 1929 durchgeführt; erste Versuche der plastisch-chirurgischen Ausformung eines Penis bei Frau-zu-Mann Transsexuellen existieren seit den 1970er Jahren und sind bis heute wenig zufrieden stellend. Eine klare Behandlungslinie lässt sich Herrn zufolge am Institut nicht ausmachen. Die Chirurgen führten vielmehr »sukzessive alle Eingriffe aus, wie sie der Betreffende nach und nach erbat« (S. 167). Dabei ging es zunächst vielfach primär um die Beseitigung der körperlichen Merkmale des »Herkunftsgeschlechts« und weniger um die Ausformung der »Zielgenitalien«. Die Folgen der Operationen sind weitestgehend ungeklärt. Im Archivmaterial gibt es keinerlei Informationen über Nachbehandlungen und kaum Angaben zum psychisch-körperlichen Befinden der Behandelten und dessen Entwicklung nach den Eingriffen.

So fortschrittlich diese neuen Operationsmöglichkeiten gewesen sein mögen, so sehr weist Herrn auf einen damit verbundenen problematischen Paradigmenwechsel hin: »Infolge [dessen] wurden Anfang der 20er Jahre sexualchirurgische und medikamentöse Therapieverfahren entwickelt, die die vermeintlich weniger effizienten psychotherapeutischen Methoden zu verdrängen drohten« (S. 174). Auch der operierende Arzt des Instituts Richard Mühsam war der Ansicht »Neurosen [d.h. hier Transvestitismus] sexualchirurgisch erfolgreich behandeln zu können« (ebd.), was ein deutlicher Hinweis darauf ist, dass der Transvestitismus trotz Hirschfelds Versuchen der Entpathologisierung als »krankhafte Störung« in einer weiterhin rein zweigeschlechtlich gelebten Gesellschaft verortet wurde. Dafür spricht auch das »konservative [ ] Frauenbild« (S. 208), das die Mehrzahl der männlichen Transvestiten vertrat. Wie Lili Elbe, die durch die posthume Publikation ihrer Biografie »Ein Mensch wechselt sein Geschlecht« (1931, deutsch 1932) »zur Vorreiterin und Identifikationsfigur« (S. 209) avancierte, verinnerlichten viele von ihnen einen Kinderwunsch, der die »Natürlichkeit ihres Zielgeschlechts« unterstrich. Dass heute fur Transsexuelle und Transidente trotz weiterhin bestehender Normierungen durch das Transsexuellengesetz (TSG) auch ein Lebensweg abseits des heteronormativ ausgerichteten Zwei-Geschlechter-Modells denkbar ist, veranschaulicht Udo Rauchfleisch in »Transsexualität – Transidentität. Begutachtung, Begleitung, Therapie« (2006). Anders als Herrn, der die durch die Queer Theory hervorgebrachte Diskussion um Heteronormativität lediglich als »einen theoretischen Versuch [...] sexuelle und geschlechtliche Minderheiten zusammenzudenken« (S. 42) einstuft, zeigt Rauchfleich, dass Theorie und (operative) Praxis durchaus kompatibel sein können.

»Schnittmuster des Geschlechts« ist als »Teil einer Monografie über Magnus Hirschfelds Institut fur Sexualwissenschaft« (S. 23) entstanden. Das merkt man der vorgelegten Studie in mehrfacher Hinsicht an: Herrn beschränkt sich in seinen Ausführungen auf die Praxis an Hirschfelds Institut, auf den Umgang mit Transvestiten in deutschen Großstädten außerhalb Berlins wird kaum eingegangen, auf die Situation im Ausland gar nicht. Hirschfelds Strategie der ausgiebigen Bebilderung übernimmt Herrn erfolgreich. Allerdings ist die Text-Bild-Anordnung an einzelnen Stellen wenig glücklich ausgefallen, so dass sich Bildunterschriften nicht ausreichend vom Lauftext absetzen. Kritik an Hirschfelds Konzeption des Transvestitismus äußert Herrn nur zögerlich. So betont er fortwährend Hirschfelds »emanzipatorischen Ansatz [...], Homosexuelle und Transvestiten in dem zu bestärken, was sie sind« (S. 121), auf Hirschfelds »eugenisch motivierte Vorbehalte« (S. 125) gegen Eheschließungen von Transvestiten geht er aber nur kurz ein. Hier wären detailliertere Ausführungen wünschenswert gewesen, ebenso zu der normativen Unterscheidung zwischen vermeintlich »richtigen« und »falschen« Transvestiten, die mit Hirschfelds Klassifikation von »extremen Transvestiten« an Aktualität gewann. Ab den 1960er Jahren wurden sie auf der Grundlage der Rezeption US-amerikanischer Untersuchungen von Harry Benjamin auch in Deutschland als Transsexuelle bezeichnet. Benjamin, so Herrn, kannte Hirschfeld und seine Arbeiten, verwies in seiner Darstellung aber »mit keiner Silbe« (S. 220) auf dessen bereits 1923 geprägten Begriff des »Transsexualismus« (S. 21). Somit erfüllt Rainer Herrns Buch vorrangig die Aufgabe der Rehabilitierung Magnus Hirschfelds und seines Instituts für Sexualwissenschaft als Vorläufer der heutigen Forschungen zu Transsexualität und Transidentität. Zudem liefert es viele wertvolle, teils überraschende Hintergrundinformationen wie beispielsweise zur Musterung von Transvestiten vor und während des Ersten Weltkriegs oder zum widersprüchlichen Umgang mit Transvestiten nach der Schließung des Instituts (1933) während des Nationalsozialismus.

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