Rezension zu Gruppenprozesse
GG 43-2007
Rezension von Ellen Kammerer
Mit dem Buch Gruppenprozesse von Claudio Neri (italienisch unter
dem Titel Gruppo 2004 erschienen) legt der Psychosozial Verlag 2006
der Leserschaft ein wertvolles Handbuch vor, in dem der Autor in
lebendiger, Wissen schaffender Weise sein theoretisches Modell der
Gruppenanalyse vermittelt, was neue Blickwinkel eröffnet auf das
Sein eines jeden Menschen in der Gruppe der menschlichen
Gemeinschaft, ohne die Unterschiede zur Masse zu verwischen. Dabei
tritt Neri in eine lebhafte Unterhaltung mit der Leserin oder dem
Leser und lässt teilnehmen an seinen breit gefächerten und
reichhaltigen Kenntnissen und Erfahrungen im Bereich der
Weltliteratur, der Philosophie, der Soziologie, der Anthropologie
sowie der psychoanalytischen Theoriebildung in Bezug auf die
Einzel- und Gruppenanalyse und deren Hürden bei der praktischen
Übersetzung im analytischen Alltag.
Der Kern des Buches wird gebildet durch 8 Teile, die Parthenope
Bion Talamo im Vorwort mit »den Stockwerken eines Gebäudes«
vergleicht. Auf die 8 Stockwerke sind 24 Räume oder Kapitel
verteilt. Diese Räume stehen sowohl in der Horizontalen, als auch
in der Vertikalen miteinander in Verbindung. Zwar geht Neri
aufbauend in seinen Untersuchungen vor. Er verzichtet jedoch nicht
darauf, bereits behandelte Themen wieder aufzunehmen, um sie aus
einer neuen Perspektive zu erörtern. So entsteht ein Netzwerk von
komplexen Verbindungen, die für sich Tiefe und Genauigkeit
postulieren.
In jedem Kapitel finden sich zudem verschiedene »Kästen«, in denen
bestimmte Konzepte eine knappe historisch kritische Darstellung
erfahren. Sie lenken nicht vom Haupttext ab, regen aber zum
Verweilen an, denn der Weg durch dieses Haus stellt eine kognitive
und affektive Herausforderung dar. Schmökern lässt es sich im
Anhang, der mit dem »Kern vernetzt« u.a. ein ausgezeichnetes
Glossar enthält, das die in diesem Buch gebrauchten Termini
definiert, den jeweiligen Begriff in vier Sprachen (englisch,
französisch, spanisch, italienisch) übersetzt und dem
Interessierten vertiefende Literaturhinweise gibt.
Erlaubt sich die Leserin oder der Leser das Oszillieren zwischen
frei flottierender und angespannter Aufmerksamkeit, gestattet sie
oder er sich das Nicht-Verstehen – der Text ist phasenweise
insbesondere in seinen philosophisch-mathematisch-theoretischen
Ableitungen eine echte Herausforderung – bricht er wo nötig mit den
herkömmlichen Begriffen der Zweipersonenanalyse und der
Gruppenanalyse, lässt er sich auf Neris Hypothesen ein, dann wird
er affektiv und kognitiv herausgefordert, mit-denkend eine
punktuell »wirkungsmächtige Erzählung« für seine alltägliche und
klinische Praxis finden, die möglicherweise dem eigenen
Entwicklungsprozess entsprechen und denselben fördern kann.
Auf diese eben erlebte Unschärfe gilt es sich wiederholt
einzulassen. Diese treffen Sie schon in dem Moment, wo Sie das Buch
in der Hand halten und das Titelbild von Paul Paalen: Ohne Titel
betrachten.
Betreten wir nun das Gebäude und begegnen den theoretischen
Konzepten, die von Neri aufgegriffen, verwandelt und
weiterentwickelt wurden, um das »präverbal oder extraverbale« in
analytischen Gruppen, das bisher noch keine ausreichende
analytische Konzeptualisierung (real, vorbewusst, unbewusst) fand,
in Neris Annäherungen tangential zu erfahren und zu begreifen:
Im Keller des Gebäudes befindet sich der Raum zu den »historischen
Hinweisen«. Wir treffen u.a. auf Foulkes und Bion und auf die
Beobachtungen des Autors.
Das erste Stockwerk, der erste Teil: »Die analytische Arbeit«
bildet gemeinsam mit den Historischen Hinweisen einen allgemeinen
Rahmen.
Der zweite Teil mit dem Titel: »Die Prozesshaftigkeit der Gruppe«
zeigt, wie eine Gruppe entsteht, wie sich zum ersten Mal
»Erfahrungen der teilnehmenden Einzelnen als Gruppenmitglieder zu
einem Empfindungsraum und zu gemeinsamen Fantasien
zusammenschließen.« Erörtert wird das »Stadium des Brüderbundes«,
das sich »mit dem Wissen entwickelt, eine Gruppe zu bilden und zu
kollektiver Erkenntnisarbeit wie zu gemeinsamem Durcharbeiten in
der Lage zu sein.«
Der dritte Teil: »Das affektive Leben der Gruppe« beschäftigt sich
mit zwei eng miteinander verknüpften Themen, der »Synkretische(n)
Sozialität« und dem »Genius loci«.
Der vierte Teil »Das Feld« nimmt auf den zweiten Teil »Die
Prozesshaftigkeit der Gruppe« Bezug und verknüpft ihn mit den
Konzepten des »Feldes« und der »Semiosphäre«.
Der fünfte Teil ist dem »Gruppendenken« gewidmet, enthält wichtige
Ausführungen zum Thema Gehirn und Geist. Neue Konzepte zum
Gruppengeist, der Mimesis, des Oszillierens zwischen Denken und
Affekt werden vorgestellt.
Der sechste Teil: »Oszillation und Transformation« mit den
»Kapiteln Komplementarität und Leidenschaften der Gedanken« und
»Strukturierung – Entstrukturierung« vertieft die Thematik des
fünften Teils.
Der siebte Teil: »Die Gruppe und das Individuum« behandelt die
Beziehung zwischen beiden, thematisiert das Besondere der
Gruppenanalyse von »halb offenen« Gruppen, beschäftigt sich, unter
Bezugnahme und Erweiterung des in Teil II Dargestellten, mit den
Phänomenen der Depersonalisation.
Der achte Teil mit dem Titel »Commuting« behandelt das Problem der
Beziehungen zwischen dem Individuum und dem »Feld«. Neri entwickelt
dabei die Konzepte der »wirkungsmächtigen Erzählung« und der
»trans-personalen bzw. der trans-temporalen Diffusion«.
Neben der genauen theoretischen Begriffsbestimmung, Diskussion
derselben und der möglichen Neufassung der Begriffe, gibt Neri via
Beispielen aus Literatur, der Alltagserfahrung und seiner
klinischen Erfahrung als Supervisor und Einzel- und
Gruppenanalytiker anschauliche Einblicke in seine Beobachtungen und
sein Denken, das seine Wurzeln auch im sensorischen Prozess hat.
Dem klinisch Tätigen gibt er in und nach seinen theoretischen
Darstellungen wiederholt wichtige technische Hinweise, die die
Orientierung am Gruppenprozess in der alltäglichen Arbeit
erleichtern können.
Ich hätte dem Buch von Claudio Neri ein etwas sorgfältigeres
Lektorat und eine etwas weniger im »Muss« verharrende Übersetzung
gewünscht. Die Möglichkeitsräume menschlicher Interaktion, die Neri
beschreibend eröffnet, stehen im starken Kontrast zum zeitweise
diktatorisch anklingenden: »Der Analytiker muss...« (wiederholt
sich u.a. bei den technischen Hinweisen). Hier vermittelt die
Sprache etwas, das den Inhalt nicht erfasst. Es mag des Weiteren
noch angehen, dass in der Einleitung das Begehren mit Begehen (S.
13) übersetzt ist, dass vereinzelt im Buch mitten im Satz Punkt und
Komma stehen, oder dass ein dem Anhang beigefügtes Interview
plötzlich abbricht (S. 222-223); dass aber die Zeichensetzung dann
unvollständig und nicht einheitlich erfolgt, wenn es um Bions
Konzept des Denkens als ein Alternieren von Momenten der
Desintegration und Integration geht (im sechsten Teil des Buches
Kapitel: »Strukturierung – Entstrukturierung« S. 159), erschwert
den Leseweg unnötig.
Diese kritischen Anmerkungen sollten weder den Kundigen, noch den
weniger Kundigen davon abhalten, dieses wertvolle Buch, das sich an
eine breite Leserschaft richtet, das seine »wirkungsmächtige
Erzählung« immer wieder neu zu schaffen sucht, wiederholt in die
Hand zu nehmen, um sich ihm lesend und erfahrend zu überlassen.