Rezension zu Die Loreley oder der verfluchte Mythos

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Rezension von Ute Althaus

Geschichte braucht Gesichter, damit wir Nachgeborenen wenigstens ansatzweise nachempfinden können, was die Menschen in der damaligen Zeit erlebten und in diesem Fall erleiden mussten. Ernest Weill, Jg. 1915, elsässischer Jude, ist ein solches Gesicht. Er überlebte den Nazi-Terror in drei verschiedenen Kriegsgefangenenlagern für Offiziere in Deutschland. Während sich die Nazis während der Kriegszeit in diesen Lagern mehr oder weniger an die Genfer Konventionen für Kriegsgefangene gehalten hatten, war die Bedrohung, dass auch Weill als jüdischer Offizier vor Kriegsende in die Vernichtungsmaschinerie geriet, sehr groß. Ernest Weill schreibt dazu: »Das Leben hängt an so wenigen Dingen.« Überleben aufgrund weniger Zufälligkeiten. Das scheint mir bei dem Autor nicht nur für das Kriegsende zu gelten, sondern für den ganzen Lebensabschnitt, in dem der Nazi-Terror seinen Lebenslauf bestimmte.

Der Reihe nach: Ernest Weill ist als Deutscher elsässischer Eltern in Bonn geboren – das Elsass war nach 1870 deutsch -, seinen französischen Pass bekam er nach dem Ersten Weltkrieg. Der Autor verbrachte eine glückliche Kindheit am Ufer des Rheins in Bonn, in der er, wie er betont, keine Berührungsängste zu den anderen Religionen erlebte: Man feierte in der in Freundschaft verbundenen Hausgemeinschaft mit vielen Kindern Chanukka und Weihnachten gemeinsam. Das änderte sich, als die Nazis in Deutschland immer mehr Fuß fassten und der Antisemitismus »öffentliche Gestalt annahm«. 1931 wurde Weill zur Weiterführung seiner Schulzeit nach Frankreich geschickt, da er als Franzose in Deutschland keinerlei Zukunft hätte. An die Machtergreifung der Nazis hätte man damals nicht gedacht. Die Familie konnte 1933 mit französischen Pässen auch noch »problemlos« von Bonn nach Straßburg umziehen. Der Vater verlor nach der Machtergreifung der Nazis sein berufliches Wirkungsfeld in Bonn, konnte seinen Besitz aber nach Frankreich mitnehmen. Dort absolvierte der Autor den Rest seiner Schulzeit, ein Jurastudium und nach dem Lizenziat seinen Militärdienst in der Ausbildung zum Reserveoffizier. Weills Zeit als Zivilist in Bordeaux war danach kurz: Die Mobilmachung wegen der drohenden Kriegsgefahr brachte ihn zurück zu seiner Garnison ins Elsass. Während des Krieges meldete er sich freiwillig zu einem Kolonialinfanterie-Regiment, kämpfte an der Front und kam nach dem Rückzug der Franzosen und dem Waffenstillstand in deutsche Kriegsgefangenschaft. Auch diese hat ihm paradoxerweise vermutlich sein Leben gerettet, denn Teile seiner Familie in Südfrankreich wurden in die Konzentrationslager der Nazis verschleppt, sein Vater dort ermordet.

Ein Schicksal, das berührt. Die Affinität des Autors zu militärischen Rängen kann befremden, andererseits trägt gerade sein militärischer Rang, sein Offiziersstatus, zu seinem Überleben bei. Der Autor erzählt seine Lebensgeschichte detailreich und mit feinem Humor, der den Leser bei aller Tragik immer wieder schmunzeln lässt. Besonders eindrücklich ist die Schilderung seiner Gefangenschaft in Deutschland. Weill lebte fünf Jahre in drei verschiedenen Gefangenenlagern. Zuerst war er in Münster interniert, von dort wurden die jüdischen französischen Offiziere nach Schloss Colditz überführt, einem Gefangenenlager für die in anderen Lagern als anti-deutsch aufgefallen Offiziere. Die dritte Station war Lübeck. Die jüdischen Offiziere kamen in eine eigene Baracke. Besonders in den beiden letzten Lagern bildeten sich Solidargemeinschaften und tiefe Freundschaften, da man sicher war, dass kein Mitgefangener mit den Nazis kollaborierte. »Wir behielten totale Gedankenfreiheit und konnten uns frei unter uns ausdrücken.« Außer den Appellen am Morgen und am Abend hatten die Gefangenen die Tage zur freien Verfügung, da Offiziere aufgrund der Genfer Konvention zur Arbeit nicht verpflichtet waren. Man organisierte Vorträge, las, lernte Sprachen, indem man sich mit Gefangenen anderer Nationalität zusammentat und versuchte so, die »Leere der Tage zu füllen«. Es seien ihm punktuelle Erinnerungen geblieben, schwierige Augenblicke, aber in der Mehrzahl glücklicherweise auch beinahe fröhliche. Z.B. das Radio: Den Gefangenen gelang es, Einzelteile für ein Radio ins Lager zu schmuggeln, sodass sie Radio BBC hören konnten und damit besser über den Kriegsverlauf informiert waren als ihre Bewacher. Oder die diversen Ausbruchsversuche: Es wurde ein Tunnel gegraben, der vom Gefangenenlager bis ins nächste Wäldchen außerhalb des Lagers führen sollte. Die Berechnung war falsch, der Gang endete auf dem freien Feld kurz hinter den Lagerzäunen und die Nazis empfingen die ersten Flüchtenden beim Ausstieg. Bei all diesen Geschichten, die durch ihre Aneinanderreihung zum Teil anekdotisch wirken, bleibt die Bedrohung, in der die Gefangenen lebten, spürbar. Weill fühlte sich heimatlos – Frankreichs Vichy-Regierung kollaborierte mit den Nazis – und fürchtete bis zum Kriegsende, als Jude mit einem deutschen Geburtsort im Pass doch noch der grausamen Willkür der Nazis ausgeliefert zu werden.

Ein lesenswertes Buch und ein flüssig zu lesendes, auch dank der Übersetzung von Tilmann Moser. Der Text des zweisprachig aufgewachsenen Autors ist auf Französisch geschrieben und wurde zuerst auf Deutsch veröffentlicht. Eine Lebensgeschichte, die eine weitere Facette des Nazi-Terrors beleuchtet.

An manchen Stellen hätte man gerne noch mehr erfahren, z.B. ob es nach dem Krieg eine Annäherung an die deutschen Freunde gab, mit denen er gemeinsam aufgewachsenen war, gegebenenfalls wie und ob dabei die Erfahrungen im Nationalsozialismus zur Sprache kamen. Der Autor öffnet das Zeitfenster ein wenig über 1945 hinaus und beschreibt seinen ersten Besuch nach dem Krieg in Deutschland als Dolmetscher der Alliierten. Er vermeidet dabei den Kontakt mit früheren Freunden und Bekannten.

Diese »Lebenserinnerungen eines elsässischen Juden 1915-1945« finden sich zwischen zwei braunen Buchdeckeln mit einer Abbildung der Loreley mit erhobenem Arm; das Spiegelbild auf der Rückseite hebt die Rechte wie die dem Nationalsozialismus und Hitler verfallenen Deutschen. Ein Äquivalent zu dieser tödlichen Hörigkeit im Nationalsozialismus sieht Weill in dem Gedicht von Heinrich Heine über die Loreley, die durch ihr Singen die Fischer in den Tod lockte; dieses Gedicht gibt dem Autor Rahmen und Titel seines Textes: »Die Loreley oder der verfluchte Mythos«.

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