Rezension zu Wie Wesen von einem fremden Stern

PSYCHE 8.2007

Rezension von Dieter Becker

Als das Buch 1948, ein Jahr nach dem Tod des Autors, erschien, war ihm kein großer Erfolg beschieden. Es geriet in Vergessenheit. Daran änderte auch nichts, daß Anna Freud es mit einem Vorwort versehen und empfohlen hatte. Woran mag es gelegen haben? Irgendwie paßte damals nicht in die psychoanalytische Landschaft, daß Hanns Sachs einleitend vor übertriebenem therapeutischem Optimismus warnte und auf die Grenzen des Verstehens des Anderen hinwies. Seine Kollegen, darunter viele Immigranten, waren zu sehr mit der Etablierung der Psychoanalyse in Theorie und Praxis in ihrer neuen Heimat beschäftigt. Es war ihr Anliegen, die Ich-Psychologie, Freuds letztes Vermächtnis, zu perfektionieren. Freud war noch keine zehn Jahre tot, und gewiß fürchtete man, daß der geringste Zweifel seinem Werk schaden könnte, auch wenn er nicht gegen seine Person gerichtet war. Heute, aus der größeren zeitlichen Distanz, können wir die Gedankengänge von Hanns Sachs als Ausdruck von Weisheit, die ohne ein gewisses Maß an Skepsis nicht denkbar ist, tolerieren. Es ist Jürgen Hardt, dem Übersetzer, zu danken, daß er das Werk aus der Vergessenheit hervorgeholt und sich die Mühe gemacht hat, es ins Deutsche zu übertragen. Über diese Arbeit später noch einige Bemerkungen.

Im Untertitel heißt das Buch: »Der philosophische Hintergrund der Psychoanalyse«. Damit ist die Programmatik abgesteckt. Es ist kein Lehrbuch, aus dem man systematisch Psychoanalyse lernen kann, aber es ist eine wichtige Ergänzung und Anregung für diejenigen, die sich in der psychoanalytischen Lehre bereits auskennen. Es regt an, über unser Denken und Handeln zu reflektieren, über das, was wir als allzu selbstverständlich verinnerlicht haben. Und obwohl der lebendige und konkrete Stil kaum einen Fachausdruck verwendet, ist der Inhalt durch und durch psychoanalytisch zu nennen.

Worum geht es? Um den Menschen als kulturelles Wesen. Als Psychoanalytiker sind wir an eine Psychologie gewöhnt, die sich aus der Psychopathologie entwickelt hat. Und wir sind versucht, menschliches Verhalten durch die Brille unseres Wissens zu betrachten. Hanns Sachs setzt diese Brille ab und beobachtet, beschreibt. Es gibt für ihn keinen Unterschied zwischen dem Neurotiker und dem »normalen« Menschen, dem Durchschnittsbürger. Man kann über das fremdartige Wesen »dieser fremdarteigen Wesen«, wie er sie nennt, nur staunen. Wie Sachs deren Dilemma sieht, will ich anhand einer kleinen Geschichte zitieren, die mir paradigmatisch für das Buch scheint: »In einer mir bekannten Familie gab es zwei Brüder, von denen der jüngere sehr eigenartig war, er hatte eine seltsame Furcht vor offenen Türen. Der ältere Bruder, wie ältere Brüder so sind, wurde ungehalten mit ihm und wollte ihn von seiner Furcht befreien; deswegen drohte er ihm: ›Eines Tages werde ich dich in einen Raum einschließen, in dem alle Türen offen sind.‹« (S. 35).

Der Mensch ist gefangen, am schlimmsten der Neurotiker, aber er bleibt es auch dann, wenn die Türen offen stehen, und er versucht auch dann noch in der Gefangenschaft zu verharren, wenn ihm der Analytiker die offene Tür zeigt. Die Freiheit zu erlangen, die man sich schließlich nehmen muß und nicht geschenkt bekommt, ist schwer, oft unmöglich. Was aber hält die Menschen gefangen? Es sind dies die frühkindlichen Erfahrungen (über deren Bedeutung wir in den letzten Jahren genauere Vorstellungen entwickelt haben als zu Sachs Zeiten) sowie die Leidenschaften, Liebe, Haß, Eifersucht, Neid und andere, und es geht um die Frage nach dem Leben und dem Tod. Um existentielle Fragen des Menscheins also.

Menschen mit kreativer Kraft gelingt die eigene Befreiung aus der Gefangenschaft. Zur Illustration zieht Hanns Sachs zwei historische Gestalten heran. Da ist Caesar, der gleichermaßen ein ungewöhnlicher und furchtloser Tatenmensch wie Schriftsteller war. Und der Apostel Paulus; er erringt die Freiheit, indem er das Begehren überwindet, das irdische Leben als nichtig betrachtet und die Angst durch die Hoffnung auf das eigentliche Leben im Jenseits besiegt. Eine dritte Möglichkeit, aus der Gefangenschaft herauszukommen, ist die Befreiung durch Wissen.

Das letzte Kapitel lautet »Der Weg zum Baum des Lebens«, ein Motiv, das der Bibel entnommen ist. Es ist ein Lob des Alters. Die »fremdartigen Wesen« scheuen sich zu sehr, sich der Selbstbeobachtung ihres gegenwärtigen Seelenzustandes zu stellen, flüchten in Hobbys, Leidenschaften, Tagträume und schwelgen in Erinnerungen. Das bringt ihnen keine Zufriedenheit und Ausgeglichenheit. Der nachlassende Triebdruck im Alter hilft, sich von Ambitionen frei zu machen, sofern man die Vergangenheit akzeptiert und keine Angst vor der Zukunft hat. »Wenn sie [die Menschen] älter werden, werden sie nicht gelangweilt und mürrisch sein und ihr Geist begrüßt den neuen und letzten Zeitabschnitt ihrer Existenz« (S. 203). Dann gilt: »Mit dem Bewußtsein des bevorstehenden Weggangs kommt das Gefühl auf, daß die Zeitspanne, die vor einem liegt, sich ausdehnt anstatt sich zu verkürzen« (S. 204). Das klingt wie ein Schwanengesang, als hätte Hanns Sachs geahnt, daß sein Leben bald zu Ende gehen würde.

Jedes der 16 Kapitel ist in sich abgeschlossen. Man muß sie nicht der Reihe nach lesen, sondern kann sich von der Überschrift locken lassen. Aber sie stehen in einer inneren Kontinuität, so daß es sich lohnt, sie alle zu lesen. Sie gehen auf das Schlußkapitel zu, das die Lösung des menschlichen Dilemmas in einer epikureischen Haltung zum Leben sieht, das gegenwärtig und lebenswert ist. Hanns Sachs hat das Leben geliebt und zu genießen verstanden. Das erfahren wir aus dem biographischen Abriß im Anhang, den Sanford Gifford verfaßt hat. Kunst und Literatur galten ihm so viel wie die leiblichen Genüsse. Er war ein »Liebhaber von Musik und Kunst sowie von guten Weinen und Schönen Frauen [...] eine gekonnte Mischung von einem Gelehrten und einem ›bon vivant‹« (S. 218).

Die schlauesten Dinge kommen mit stilistischer Leichtigkeit herüber, so daß man gar nicht sofort merkt, wie tiefsinnig sie sind. Sicher haben wir dem Herausgeber, A.A. Roback, und dem Übersetzer viel zu verdanken. Das von Sachs im Englischen abgefaßte Manuskript bedurfte einer erheblichen stilistischen Überarbeitung, da die Satzkonstruktionen und Sprachwendungen noch stark von der deutschen Muttersprache beeinflußt waren. Der Übersetzer hatte keine leichte Aufgabe zu lösen, aber es ist ihm gelungen, einen flüssig zu lesenden Text zustande zu bringen. Nicht weniger Mühe hat er sich mit zahlreichen Anmerkungen gemacht, ohne die das Verständnis vieler Textstellen erschwert wäre. Bei den Anmerkungen handelt es sich oft um Quellenangaben, deren Auffinden manchmal einer detektivischen Arbeit gleich gekommen sein mag.

Freud war kein Freund der Philosophie, obwohl er selbst ein Philosoph war. Gedankengebäude seines Formates können nicht ohne intensive Denkarbeit geschaffen werden. Und psychoanalytische Autoren sind oft zu zögerlich, philosophische Gedanken zu entwickeln. Hanns Sachs hat es getan, und es erweist sich, wie befreiend es ist, sich von seinen Ausführungen anregen zu lassen. Man beginnt, über die eigenen »Fälle« in veränderter Weise nachzudenken, weil sich die Beobachtungswarte verändert.

Die Kapitel des Buches haben den Umfang, der sich in einer »Freistunde« leicht bewältigen läßt. Die Lektüre wird anregen, über die abgelaufene Sitzung nachzudenken oder sich auf die kommende einzustimmen. Ein origineller Einfall war es, den wissenschaftlichen Text mit eigens dafür geschaffenen Zeichnungen von Bettina van Haaren auszustatten. Sie erlauben, auf dem Weg des Lesens stillezustehen und eine kleine Lesepause zum Nachdenken einzulegen.

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