Rezension zu Suizidale Männer in der psychoanalytisch orientierten Psychotherapie
PSYCHE 8.2007
Rezension von Martin Teising
Lindner untersucht, warum Männer suizidal werden und wie sich ihre
Suizidgefährdung erkennen läßt. Er stellt ausführlich dar, wie
diese Fragestellung im Rahmen psychoanalytischen Verständnisses
erforscht werden kann.
Zwei Bedingungen, die in Hamburg, wo der Autor als Psychiater und
Psychotherapeut tätig ist, zusammentreffen, haben diese
Forschungsarbeit ermöglicht: Dort gibt es zum einen ein
einzigartiges Therapiezentrum für Suizidgefährdete an der
Universitätsklinik. Zum anderen wurde in der Auseinandersetzung mit
dem 1995 verstorbenen Adolf-Ernst Meyer eine Forschungsmethodik
entwickelt, die der Psychoanalyse gerecht wird und zugleich im
Fächerkanon anderer Wissenschaften bestehen kann. Durch diese von
Deneke, Stuhr, Lamparter und anderen etablierte Hamburger Schule
psychoanalytischer Forschung ist die Methodik der vorliegenden
Untersuchung geprägt.
Aus seiner reichen klinischen Erfahrung heraus begreift Lindner
Suizidalität als ein Symptom, als Lösungsversuch eines
konflikthaften intrapsychischen Prozesses. »Suizidalität läßt sich
verstehen als Ausdruck der Zuspitzung einer seelischen Entwicklung,
in der der Mensch verzweifelt über sich selbst und sein eigenes
Leben ist und keine Hoffnung erleben oder Perspektiven entwickeln
kann« (S. 8). Die meist bewußten Auslöser suizidalen Erlebens
labilisieren eine bis dahin funktionstüchtige Abwehr und
reaktualisieren unbewußt intrapsychische Konflikte, denen in
regressiver Weise begegnet wird.
In einem eindrucksvollen Prolog vermittelt Lindner, wie sich akute
Suizidalität in der klinischen Situation anfühlt und dem Behandler
mitteilt. Es folgt ein kenntnisreicher Überblick über
psychoanalytische und psychoanalytisch orientierte Ansätze zum
Verständnis der Suizidalität. Lindner fügt alle bestehenden
Erklärungsansätze wie ein Puzzle zusammen. Dabei widmet er den
geschlechtsspezifischen und damit den entwicklungspsychologischen
Überlegungen besondere Aufmerksamkeit. Dem in psychoanalytischer
Theorie weniger kundigen Leser wird wie nebenbei ein Überblick über
unterschiedliche psychoanalytische Ansätze vermittelt.
Für das Verständnis der Suizidalität im Einzelfall gewinnt die
Beschreibung von Übertragung und Gegenübertragung überragende
Bedeutung. »Die kontinuierliche Analyse des Übertragungs-,
Gegenübertragungsprozesses bietet den zentralen Zugang zum
Verständnis der suizidalen Psychodynamik« (S. 54).
Die 20 ausführlich beschriebenen männlichen Patienten haben an
mindestens 5 Sitzungen ambulanter psychoanalytisch orientierter
Psychotherapie teilgenommen. Sie bilden eine Zufallsstichprobe aus
dem Therapiezentrum für Suizidgefährdete und sind im Durchschnitt
36 Jahre alt. Untersucht werden also Männer der mittleren
Lebensphase. Einer von ihnen überschreitet mit 62 Lebensjahren die
60er-Grenze, und er ist der einzige, der nicht allein lebt. Es
wurde eine »Methodik gesucht, die einerseits systematisch vorgeht,
nachvollziehbare und nachprüfbare Ergebnisse bietet und über den
Einzelfall hinausweisend den Geltungshorizont der Ergebnisse
beschreibt, zugleich Einzelaspekte und -daten nicht isoliert und
Erkenntnisse nicht verzerrend abstrahiert und damit der
Komplexität, Überdeterminiertheit und Latenz des
Untersuchungsgegenstands gerecht wird« (S. 83).
Das klinische »Material« besteht aus den Fallberichten, die die
Psychotherapeuten des Zentrums aus ihren jeweils ersten 5
Stundenprotokollen verfaßten, und die Angaben über den Verlauf, zu
Übertragung und Gegenübertragung, zur Symptomatik und zur
Biographie enthielten. Sich auf Max Weber beziehend, wählt Lindner
die Methode der verstehenden Typenbildung. Er achtet sorgfältig
darauf, daß »der Kern der Erkenntnis mit psychoanalytischen
Methoden gewonnen wird, die zugleich in einem systematischen
qualitativen Forschungsprozeß eingebettet und durch quantitative
Analysen mit entsprechenden Instrumenten ›trianguliert‹ [...]
werden«. Das Dreieck psychoanalytischer Einsicht, dessen Eckpunkte
die Übertragungs- und Gegenübertragungsphänomene, die Symptomatik
(hier die Suizidalität) und die Biographie bilden, wird validiert,
indem szenisches Verstehen, Fallberichte und supervisorische
Forschungsfallseminare mit quantitativen Erhebungen abgeglichen
werden. Das ausführlich dokumentierte Quellenmaterial bietet dem
Leser nachprüfbare Belege. Die Mitarbeiter widmen sich mit großem
Aufwand, enormer Offenheit und Selbstkritik einer ernsthaften,
intensiven Bearbeitung jedes einzelnen Falles, wie es in der
Forschungslandschaft leider sonst kaum zu finden ist.
Als Kernkonflikte, die suizidale Reaktionen bei Männern auslösen,
konnten Aggressionskonflikte und Konflikte zwischen Fusion und
Autonomiewünschen bestimmt werden. Diese Konflikte werden von den
Betroffenen so erlebt, als würden sie von einer Mutter entweder
verschlungen oder vollkommen verlassen. Ein rettender Vater als
triangulierender Dritter steht in dieser Situation nicht zur
Verfügung. Auslöser für suizidale Krisen sind jeweils
Aktualisierungen dieser frühkindlichen konflikthaften
Objektbeziehungen, am häufigsten Trennungen von Lebenspartnern und
-partnerinnen, gefolgt von Ablehnungserfahrungen.
Es ließen sich 4 Idealtypen suizidaler Männer bilden. »Bei Idealtyp
›unverbunden‹ ist die Suizidalität charakterisiert durch ein
Erleben von Ausgeschlossensein und Objektferne. Bei Idealtyp
›gekränkt‹ werden in der Suizidalität aggressive und
sadomasochistische Gefühle innerhalb von Abhängigkeitskonflikten
reaktualisiert. Bei Idealtyp ›stürmisch‹ erscheint Trennung
unmöglich, weil ein psychischer Entwicklungsschritt aufgrund einer
ambivalenten Bindung an ein primäres Objekt (meist die Mutter)
nicht erfolgen darf. Bei Idealtyp ›objektabhängig‹ erscheint ein
Überleben ohne das Objekt unmöglich« (S. 180).
Die akute Suizidgefahr, so zeigte sich, ist bei den Idealtypen
unterschiedlich hoch. »Die Suizidgefahr (Akuität der Suizidalität)
steigt mit der Schwierigkeit, sich einem anderen Menschen verbunden
zu fühlen« (S. 177ff.). Damit wird ein unmittelbarer
diagnostisch-therapeutischer Nutzen dieser Untersuchung erkennbar,
nämlich der für die Einschätzung von Suizidalität. Die Suizidgefahr
kann sich beim »Unverbundenen« in der therapeutischen Beziehung
nicht darstellen. Der Therapeut ist nicht ausreichend alarmiert,
»die Gegenübertragungsgefühle sind emotional unergiebig, schwach,
wenig korrespondierend mit der äußeren und inneren Situation der
Patienten. Dieser Typus ist somit am meisten gefährdet. Der
›Gekränkte‹ löst aversive Gegenübertragungsgefühle aus, wodurch
sich die Suizidalität entaktualisiert, ebenso wie durch die
ambivalenten Übertragungen des ›Stürmischen‹. Die ›Unverbundenen‹,
›Gekränkten‹, ›Stürmischen‹ bilden ein Kontinuum zwischen einer
Beziehungsabgewandten und Beziehungszugewandten Suizidalität wie
Kommunikation.«
»Die gefährlichste Konstellation ist dann gegeben, wenn keine
emotionale Verbindung zwischen Patient und Therapeut gelingt« (S.
190). Diese Erkenntnis entspricht der alten Erfahrung Ringels, nach
der die Wendung der Aggression gegen sich selbst und die
verschiedenen Ausgestaltungen der Einengung das präsuizidale
Syndrom ausmachen. Sie entspricht aber auch modernen
psychoanalytischen Konzepten, denen zufolge es den hier als
»unverbunden« bezeichneten Patienten am wenigsten gelingt, den
Therapeuten als Container zu nutzen und giftig wirkende
Beta-Elemente in ihm zu deponieren, geschweige denn der Therapeut
sie schon alphabetisieren könnte.
Die Einschätzung der Suizidalität ist für die
psychiatrisch-psychotherapeutische Alltagspraxis enorm wichtig. Die
Ergebnisse dieser Studie bieten hier eine große Hilfe, und ihre
Bedeutung für den klinischen Alltag ist kaum zu überschätzen, auch
wenn sie sicher noch weiter untersucht werden müssen. Idealtypen,
warnt Lindner aber auch, dienten nicht der eindeutigen Zuordnung
eines Falles, sondern sie könnten nur dazu dienen, einen (eigenen)
Fall »auf Ähnlichkeiten und Differenzen hin zu vergleichen« (S.
184). Er spricht damit die Gretchenfrage an, vor der jeder
forschende Psychoanalytiker steht: Lassen sich allgemeingültige
Aussagen zur Psychodynamik treffen, wenn es letztlich stets um die
Betrachtung und das Verständnis des Einzelfalls geht?
Diese selbstkritische Reflexion schmälert keineswegs die Ergebnisse
der vorliegenden Untersuchung, die unser psychoanalytisches
Verständnis der Suizidalität vertieft. Dieses Verständnis wird
empirisch abgesichert und validiert. Damit erweist Lindner der
Psychoanalyse einen großen Dienst.