Rezension zu Mozart
DER SPIEGEL
Rezension von Frank Thadeusz
Wolferl auf der Couch
Hat sich Mozart hundert Jahre vor Sigmund Freud mit seiner Musik
selbst therapiert? Ein Psychologe aus Münster will den Schlüssel
zum Werk des Genies gefunden haben.
Über Salzburg war bereits Dunkelheit hereingebrochen, als der
Hochbegabte bei bester Gesundheit dem Geburtskanal entwich. »Abends
um 8 Uhr ging die meinige mit einem Buben nieder«, meldete Vater
Leopold Mozart im Januar 1756 erfreut. Doch dann lief einiges aus
dem Ruder: Der Knabe musste mit einem Gebräu aus ausgekochter
Gerste und Hafermehl am Leben gehalten werden; denn die Mutterbrust
gab nicht genug Milch her. Verweigerte Anna Maria Mozart ihrem
Jüngsten in der Folge womöglich gänzlich den beruhigenden Busen?
Ließ die stadtbekannte Schöne den Säugling gar allzu oft unbeachtet
im Kindbett krakeelen? Nach Deutung der Freudschen Psychoanalyse
reagieren Kleinstkinder auf derlei Demütigungen mit schonungslosen
Rachegelüsten. Kaum anders verhielt sich womöglich das winzige
Wolferl, das seiner Mutter für die entsagte Zuneigung nach dem
Leben getrachtet haben mag – und sich zeit seines kompositorischen
Schaffens abmühte, »die durch seine sadistischen Impulse verletzte
oder zerstörte Mutter in all ihrer Vollkommenheit wieder
herzustellen«. Mit dieser Interpretation verblüfft Bernd Oberhoff
die Fachwelt: Der Psychoanalytiker aus Münster hat dem
Mozarteischen Mutterkomplex jetzt eine umfängliche Studie gewidmet.
Der Freud-Adept und Freizeit-Chorleiter fiel zuvor bereits als
Förderer eher randständiger Themen auf (»Das Fötale in der Musik«).
Nun will er gleichwohl eine große Lücke in der Mozart-Forschung
geschlossen haben. Denn bislang gilt als ausgemacht, dass das Werk
des Genies aus Salzburg kaum biografische Einblicke gewährt. So
verwirrt Mozart-Exegeten bis heute etwa der Umstand, dass der
exaltierte Musikus kurz nach dem Ableben des Vaters im Mai 1787 mit
einem schrägen Sextett (»Ein musikalischer Spaß«) reüssierte. Waren
die Auguren bislang einfach nicht tief genug hinabgestiegen in den
düsteren Seelenkeller des Hochsensiblen? Psychologe Oberhoff
analysierte zu diesem Zweck insbesondere Mozarts Opernwerk und
zerrte keck einen der größten Helden in der Musikgeschichte auf die
Couch. »Was liegt näher, als sich der Oper mit ihren eigenwilligen
Libretti aus psychoanalytischer Perspektive zu nähern«, unterstützt
Klaus-Ernst Behne, inzwischen emeritierter Mitbegründer der
Deutschen Gesellschaft für Musikpsychologie, das ungewöhnliche
Unterfangen. Allenthalben entdeckt Oberhoff »symbolträchtige
Szenen«. Hat Mozart sich also weit vor Freud unbewusst einer
Selbstanalyse unterzogen? Offenbar habe der Meister der
Tonschöpfung »einen direkten Draht« zu jener frühkindlichen
Seelenpein gehabt, die bei weniger sensiblen Naturen weit unter der
Oberfläche kokelt. Sein Werk, so die neuese Auslegung, trifft beim
Hörer genau diesen Nerv. »Das ist ein wichtiger Grund, warum uns
Mozart überhaupt so berührt«, behauptet der Seelenarzt. Zu Beginn
seiner Karriere schuf der kleine Mozart – herausgeputzt im
schnieken Brokatmäntelchen – noch eine Klangwelt voller Unschuld
und Heiterkeit. Wollte er den ihm applaudierenden Fürsten, Königen
und Hofdamen weismachen, dass nichts Böses in ihm steckte? Dann
jedoch brechen aus dem erst Elfjährigen plötzlich »die Ängste des
Sünders vor dem Strafgericht« hervor: Zu den Worten »Du wirst von
deinem Leben, genaue Rechnung geben, dem Richter, deinem Gott!«
lässt der Dreikäsehoch in »Die Schuldigkeit des Ersten Gebots«
(1767) ein »beklemmendes Piano« wummern. Oberhoff wundert sich über
die »ungewöhnlich angsterfüllten Tongebilde«. Plagte den vom Jubel
besoffenen Knirps das auf Bestrafung sinnende Über-Ich? Mozarts
seelische Achterbahnfahrt erlebt einen vorläufigen Höhepunkt, als
die Mutter im Juli 1778 stirbt. Fühlte er sich schuldig an ihrem
frühen Tod? In dieser Lebensphase feuerte der Seelenkranke aus
allen Rohren. Mit seiner Cousine Maria Anna Thekla, genannt
»Bäsle«, korrespondierte er in kaum verhohlener Derbheit: »Iezt
wünsch ich eine gute Nacht, scheissen Sie ins beet dass es kracht;
schlafens gesund, reckens den arsch zum mund«, dichtete der
haltlose Komponist. Ein leichtes Antippen habe offenbar genügt, um
»das ganze Arsenal an oralen und analen Sadismen aus der frühen
Kindheit an die Oberfläche zu katapultieren«, diagnostiziert
Oberhoff. Schon wenig später wütet der gehetzte Starsymphoniker mit
»Idomeneo« (1781) konzertant gegen seinen Vater: Der König von
Kreta soll dem Meeresgott Neptun seinen Sohn Idamante opfern. Just
zu jener Zeit muss sich Mozart von seinem Vater schwere
Vorhaltungen wegen seines Lebenswandels machen lassen. Der
Gescholtene wehrt sich: Kraftvoll lässt er die Musik scheppern, als
Idamante gegen ein monströses Untier aus der Meerestiefe zu Felde
ziehen will. Oberhoff sieht »ödipale Mordphantasien« am Werk. Aber
Mozart konnte noch härter: In »Die Entführung aus dem Serail«
(1782) griff er erstmals wortmächtig ins Libretto ein. »Erst
geköpft, dann gehangen, dann gespießt auf heiße Stangen, dann
verbrannt, dann gebunden und getaucht; zuletzt geschunden«,
trällert lustvoll Osmin, eine der Hauptfiguren. Für Oberhoff ein
klarer Fall: Mozart, »nun ein Mann voller Saft und Kraft«,
offenbart hier seine »Lust am Ausleben ödipal-aggressiver
Energien«. Das zügellose Treiben auf der Opernbühne holte den
Taumelnden immer wieder ein. Nach dem Tod des Vaters im Mai 1787
komponierte Mozart sein finsterstes Werk. Sein »Don Giovanni«
(1787) ist kein leichtfüßiger Verführer, sondern ein Kotzbrocken,
der die Frauen mit Gewalt und falschen Versprechungen zum Sex
zwingt. Einen Vater, der seine Tochter schützen will, killt der
Schwerenöter ohne Skrupel. Die Strafe folgt bald: Der Gemeuchelte
kehrt als steinerne Statue zurück und bringt den fiesen Molestierer
zur Strecke. In den begleitenden »markerschütternden Akkorden«
scheine »eine ganz frühe, archaische Ebene paranoider Ängste« auf,
gruselt sich Oberhoff. Der gebeutelte Auftragskomponist geriet in
eine tiefe Schaffenskrise, verschuldete sich und wähnte sich gar
von Häschern umgeben, die ihn vergiften wollten. Schließlich raffte
sich Mozart noch zu einem »Requiem« (1791) auf – ein letzter
Kraftakt, der sein frühes Ende nicht verhinderte, wohl aber eine
bemerkenswerte Selbsttherapie kurz vor dem Tod zum erfolgreichen
Abschluss brachte: Erstmals habe sich das Wunderkind mit der
musikalischen Totenmesse von »paranoiden Verfolgungs- und
Vernichtungsängsten« befreit und »Zugang zu Schuldgefühl und
Trauer« gefunden, attestiert Oberhoff dem Klienten postuni. Wie
beruhigend. Der Eintrag in die Patientenakte fällt denn auch milde
aus: »Mozart war eigentlich ziemlich normal«, resümiert der
Freudianer. Inzwischen arbeitet Oberhoff an einer Seelenstudie über
Richard Wagner: »Der war ein richtiges Monster.«
DER SPIEGEL 30, 2008