Rezension zu Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leiden sie noch heute
Literaturkritik.de 08/2008
Rezension von Alexandra Campana
Es war einmal und ist noch heute
Dass Volksmärchen ausschließlich Texte für Kinder seien, ist ein
Gerücht. Ein Gerücht, das die (Literatur-)Wissenschaft längst als
solches entlarvt hat. Entsprechend vielfältig sind denn auch die
Zugänge zum Textmaterial, derer sich die Märchenforschung bedient:
Fragen der Motivherkunft und Überlieferungsgeschichte spielen dabei
ebenso eine Rolle wie etwa strukturanalytische respektive
gattungstypologische Untersuchungsmodelle. Mit ihrer kürzlich
erschienenen Untersuchung »Und wenn sie nicht gestorben sind, dann
leiden sie noch heute« positioniert sich die
Literaturwissenschaftlerin Maria Leonarda Castello zwar deutlich im
Bereich eines primär pädagogisch interessierten Märchenlesens, tut
dies allerdings unter verändertem Blickwinkel. Denn die Märchen
interessieren sie nicht im Sinne einer
moralisierend-lehrmeisterlichen Fingerzeig-Pädagogik für Kinder,
sondern in erster Linie als »pädagogische und ethische Geschichten
für Erwachsene«.
An der Grenze zu einer frühen Ethik
Anhand der Märchen »Das Mädchen ohne Hände«, »Der Eisenhans«,
»Sneewittchen« (wie der Titel in dieser Fassung letzter Hand noch
lautete), »Allerleirauh« und »Frau Holle« der Brüder Grimm – alle
vollständig im Buch abgedruckt, basierend auf der Großen Ausgabe
von 1857 – möchte Castello einerseits aufzeigen, in welcher Weise
sich (stief)elterliche Grausamkeit gegenüber den Kindern
manifestiert und durch welche Strategien es den Kindern
andererseits gelingt, sich aus diesen negativen Familienbanden zu
lösen und sich zu selbstständigen Persönlichkeiten zu entwickeln.
Die auffallende Grausamkeit der untersuchten Märchentexte gründe
demzufolge insbesondere darin, dass besagte Märchen eben genau
diese Grausamkeit gegenüber den Kindern anprangerten. Damit
verbunden sei eine Mahnung zu verantwortlichem Handeln gegenüber
den Schutzbefohlenen: »Unsere Saat wird in unseren Kindern
aufgehen. Deswegen haben wir alle größte Verantwortung bei unserem
Umgang mit ihnen.« Archaische Verhaltensweisen wie beispielsweise
diejenige der Stiefmutter Schneewittchens, die mit aller Macht
ihren Einflussbereich verteidigen wolle, gerieten ins Zwielicht.
Mit der Aufforderung, Wehrlose »nicht zu verjagen oder
niederzumetzeln wie einen Feind« siedelten sich die Märchen
folglich »an der Grenze zu einer frühen Ethik an«.
Als zentralen Aspekt der Frage nach der kindlichen Lösung aus
(stief)elterlicher Grausamkeit – die sich nicht nur in physischer
Misshandlung, sondern auch in Seelenkälte und desinteressierter
Beziehungslosigkeit äußern kann – identifiziert Castello denjenigen
funktionierender sozialer Strukturen als Grundlage jeglicher
Entwicklung: »Kinder benötigen reife und liebevolle Menschen, die
sie begleiten und die sie selbst reifen lassen.« Wenn sich
herausstelle, dass die eigenen (Stief-)Eltern zu solch einer
Begleitung nicht in der Lage sind, sei eine neue Umgebung für die
Kinder notwendig. Der Aufbruch in ein verändertes soziales Umfeld
gestalte sich in den meisten Fällen zwar als ein schrecklicher,
aber genau dies sei für Kinder mit lieblosen Eltern der einzig
mögliche, da der heillose Anfang in geheimnisvoller Beziehung zu
einem glücklichen Ende stehe.
Aufbruch in neue Sozialstrukturen
Der erste Aufbruch des Königssohns im »Eisenhans« ist einer aus
Angst vor väterlichen Schlägen, in deren Folge der Wilde die Rolle
eines Beschützers übernimmt. Doch der Junge besteht die Probe des
Brunnen-Bewachens nicht und es kommt zu einem erneuten Aufbruch: Er
wird von seinem »Wahlvater« weggeschickt, wobei sich Eisenhans hier
als strenger, aber dennoch guter Elternersatz zeige, zumal er dem
Jüngling die Gewissheit mit auf den Weg gebe, sich in der Not an
ihn wenden zu können: »So beweist er großes Vertrauen in das Kind,
womit er gleichzeitig dessen Eigenständigkeit und
Eigenverantwortlichkeit fordert und fördert.« Dies sei die Basis,
auf der sich der anfangs unreife Knabe im weiteren Verlauf des
Märchens zu einem reifen Menschen entwickeln könne.
Über die dem Jüngling von Eisenhans vermittelte Grundsicherheit
beim Aufbruch verfügt Schneewitchen, die nur dank des Mitleids des
Jägers von der Stiefmutter fort und mit dem Leben davon kommt, in
keiner Weise. Trotzdem gelangt auch sie in ein verändertes soziales
Gefüge, das sich vor allem durch eine Kongruenz von Kern und Schale
auszeichne: In der reinlichen und ordentlichen Welt der Zwerge sei
alles, was es scheine. Und auch wenn die Zwerge Schneewittchen nach
dem ersten Besuch der verzauberten Stiefmutter dazu raten,
niemanden mehr ins Haus zu lassen, bevormunden sie das Mädchen
nicht; letztlich überlassen sie ihm selbst die Verantwortung.
Schneewittchen scheitert drei Mal an ihrer Verantwortung, nach wie
vor aber lieben sie die Zwerge – und Castello zufolge sei es genau
diese Liebe, die Schneewittchen nicht sterben, sondern demgegenüber
ihr zauberhaftes Erwachen aus dem Tod möglich werden lasse. So
wohne sie schließlich dem Sterben der Stiefmutter als »reife und
nun selbst mächtige junge Frau und Königin« bei.
Auch Allerleirauh werde keine andere Wahl gelassen, als fluchtartig
aufzubrechen: Ein Vater, der sie heiraten will, bei dem kann sie
nicht bleiben. Daher macht sich das hübsche Mädchen fortan für
Männer unattraktiv und hüllt sich in einen Mantel, der durch die
Schmerzen der Tiere – die alle ein Stück Haut für dessen
Anfertigung hergeben mussten – unter anderem die geflohene Tat im
elterlichen Bett repräsentiere. Die Königstochter verstecke sich
also in einem Schmerzensmantel: »Die Wundränder der Tiere, die zu
den Nähten des Mantels werden, verweisen auf die Seelenwunden der
Tochter.« Erst die Umgebung des neuen Schlosshofes, in welcher der
König den Koch nicht dafür bestraft, die Suppe entgegen anderer
Angaben doch nicht selbst gekocht zu haben, lasse in Allerleirauh
die »erneute Sehnsucht nach dem Licht« zu. Diese treibe sie auf den
Ball und letzten Endes in ihr gemeinsames Glück mit einem König,
der aufmerksam und an der Wahrheit interessiert sei, ohne dabei
Zwang anwenden zu wollen.
Was der Wald des Eisenhans für den Königssohn, die Welt der Zwerge
für Schneewittchen und der neue Königshof für Allerleirauh, sei für
die fleißige Stieftochter – die im verzweifelten Versuch, die
Anerkennung der Stiefmutter zu erzwingen in einen Zustand der
Dauerüberlastung, in den »heisse(n) Eifer der Ungeliebten«,
verfalle – das Reich der Frau Holle. Diese zeige sich als
Gegenmutter, die weder Vernachlässigung noch Verwöhnung
praktiziere. Der Aufbruch, der sich in Form eines Sprungs in den
Brunnen und damit in den erwarteten Tod als ein besonders grausamer
darstelle, sei notwendig gewesen, damit die Fleißige unter dem
Wohlwollen der Frau Holle lernen konnte, sich selbst wahrzunehmen.
Ihre Rückkehr zur Stiefmutter unternehme sie dann auch innerlich
gereift und nicht mehr im Rahmen einer psychischen Abhängigkeit und
das Gold der Frau Holle werde dadurch zum »Wahrzeichen des
gelungenen, reifen Selbst«.
Traumabewältigung
Einzig für das Mädchen ohne Hände müsse der Weg zwangsläufig in die
Einsamkeit der Waldhütte führen, da es zugleich mit dem Abschlagen
der Hände durch den Vater seine Seele habe abspalten müssen als
einzige Möglichkeit, das Trauma der Misshandlung ertragen – wenn
auch nicht integrieren – zu können. Zwar stehe der fremde König der
Gleichgültigkeit des eigenen Vaters diametral gegenüber, dennoch
aber müsse das Trauma hier ein unverarbeitetes bleiben.
Diese fehlende Verarbeitung des Initialtraumas zeige sich nach
Castello insbesondere an der Reaktion auf den angeblichen Brief des
Gatten, der in Wahrheit eine erneute Einmischung des Teufels ist:
Anstatt aufzuschreien in Anbetracht des vermeintlichen
Königswunsches, seine Gattin mitsamt dem Kind töten zu lassen,
nimmt diese ihr Kind und geht. Erst in der Einsamkeit der
Waldhütte, wo sie sich ihrer Seele in Form der schneeweißen
Jungfrau wieder annähern könne, erkenne sie auch Jahre später ihren
Mann: »Dieser ist nicht wie mein Vater. Dieser hat für mich alles
aufgegeben.« Das Nachwachsen der natürlichen Hände besiegle die
Auflösung des Traumas.
So ist es noch heute
Die Untersuchung folgt konsequent der Systematik, sich den
jeweiligen Märchen über eine grundsätzliche Frage, mehrere zentrale
Motive und ein Hauptthema anzunähern. Ebenfalls miteinbezogen
werden sprachhistorische Überlegungen bei der Auslegung
verschiedenster Passagen. Die zwischen den behandelten Texten
herausgearbeiteten Parallelen lassen die vorliegende Märchenlektüre
zu einem in sich geschlossenen Ganzen werden, das darüber hinaus in
flüssigem Stil geschrieben ist – wobei die Schwelle zum Plauderton
gelegentlich übertreten wird. Die Auseinandersetzung mit bereits
bestehender Forschung bleibt insgesamt knapp, was man der Autorin
jedoch insofern nicht zum Vorwurf machen kann, als dass sie
explizit eine persönliche Märchendeutung vorlegen wollte. Dies ist
ihr zweifelsfrei gelungen, auch wenn sich die Frage stellt, ob ein
stärkerer theoretischer Unterbau einzelnen Thesen nicht zu mehr
Plausibilität hätte verhelfen können.
Dennoch öffnet Castello mit ihrer Lektürearbeit eine interessante
Perspektive auf ausgewählte Grimmsche Märchen, in denen sich die
Wunder zeigen als das Vorhandensein von »Möglichkeiten, die
familiären Ketten von Schuld, Grausamkeit und Ungerechtigkeit zu
unterbrechen«. In Anbetracht der Tatsache, dass Kindesmisshandlung
ein nicht auf den Bereich von Märchentexten beschränkter Umstand
ist, verdeutlicht Castello damit auch eine Aktualität der
Grimmschen Märchen, die durchaus erschrecken darf: »Es war einmal
so, und so ist es noch heute.«
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