Rezension zu Löwin im Dschungel (PDF-E-Book)
Zeitschrift für Transaktionsanalyse
Rezension von Ingrid und Fritz Wandel
Dies ist ein Buch über eine schwere körperliche Behinderung, über
Blindheit in verschiedenen Stadien und Ausprägungen. Die
Verfasserin ist Transaktionsanalytikerin und Psychotherapeutin in
freier Praxis, durch Retinitis Pigmentosa selbst seit einigen
Jahren erblindet. Sie kennt aus eigener Erfahrung, wovon sie
schreibt – gelassen, humorvoll, aber auch kritisch und scharf, wenn
es um die vielfältigen Formen der Diskriminierung von Behinderten
geht. Es ist das Buch einer Betroffenen, jedoch wohltuend anders
als die gängige Betroffenheitsliteratur, wissenschaftlich fundiert,
mit einer Fülle von Informationen und relevantem theoretischem
Wissen, beeindruckend auch durch die Bildung und kultivierte
Belesenheit der Autorin.
Wer will, kann sich hier über Blindheit als spezielle Form der
Behinderung in unserer Gesellschaft kundig machen, über soziale
Reaktionen der Umwelt und über typische Bewältigungsversuche. Es
ist aber auch ein Buch für die Selbsthilfe von Menschen, die von
dieser Behinderung betroffen sind und die daraus entnehmen können,
dass sie nicht allein sind und dass es Kräfte gibt, die helfen, in
guter Weise mit der Behinderung zu leben. Es ist darüber hinaus ein
Buch für alle Arten von Helfern, psychologischen Beratern und
Psychotherapeuten, die mit Menschen arbeiten, die in dieser Weise
vom Schicksal herausgefordert sind. Es ist doch so, dass viele
Klienten, die in unsere Praxis kommen, ganz unabhängig von ihrem
subjektiven Leiden Hilfe für Probleme suchen, die hauptsächlich mit
dem Leben in unserer Wohlstandsgesellschaft zu tun haben. Auf das
Hereinbrechen der Wirklichkeit in Form von Tod, schwerer Krankheit,
wirtschaftlichem Ruin oder eben Behinderung sind die Helfer
üblicherweise nicht eingestellt. Da ist mit »Methoden«, wie sie in
Ausbildungsgängen vermittelt werden, meist nicht viel getan, und
das Buch kann hier Bewusstheit und Hilfe bieten.
All das sind mögliche Zugänge zu diesem Buch, was für den Reichtum
der hier gebotenen Gedanken und Informationen spricht. Sich darauf
zu beschränken, würde jedoch bedeuten, sich der Beunruhigung zu
entziehen, die mit diesem Thema gegeben ist, und an der Chance
vorbeizugehen, die das Buch dem Leser eröffnet. Es ist ein Buch
über menschliches Leiden und über die Erblindung als eine der
vielen Möglichkeiten der conditio humana, der Situation des
Menschen in dieser Welt, mit der wir am liebsten nichts zu tun
haben möchten. Hier wegzuschauen und alle möglichen Ausflüchte zu
suchen, von der Verleugnung bis hin zu esoterischen Theorien und
subtilen Schuldzuweisungen ist »menschlich«. Es hindert uns aber
auch, über diese reduzierten Formen der Menschlichkeit
hinauszukommen. In diesem Sinne hat die Verfasserin nicht allein
ein Buch über die »Selbstwerdung« blinder und sehbehinderter
Menschen geschrieben, sondern auch einen Anstoß für die persönliche
Entwicklung ihrer Leser gegeben, soweit sie bereit sind, sich mit
dieser bedrohlichen Möglichkeit menschlicher Existenz, der
Behinderung und speziell der Blindheit auseinanderzusetzen.
Das Buch hat zwei Schwerpunkte: »Sehschädigung als Stigma« und »Die
Auseinandersetzung mit einer Behinderung als Prozess der
Selbstwerdung – dargestellt am Beispiel Sehschädigung«.
Besonders der erste Schwerpunkt kann für den Leser beunruhigend
werden. Stigmatisierung, die Ausgrenzung eines anderen Menschen
durch Zuschreiben eines schwerwiegenden Makels, ist ein fataler
Mechanismus, dessen soziale Auswirkungen manchmal noch schwerer zu
ertragen sind als z.B. die Behinderung selbst. Unter Verwendung von
Goffmans Stigmabegriff stellt die Verfasserin die verschiedenen
Formen offener und maskierter Ausgrenzung von Sehbehinderten dar,
bei denen man sich als Leser leicht und mit Schrecken wiederfindet.
Dazu gehören all die Fantasien und Verhaltensweisen, die Distanz
schaffen und dem anderen eine grundlegende Andersartigkeit
zuschreiben. Das Beunruhigende für den normalen »guten« Menschen
ist, dass zu diesen Mechanismen der Ausgrenzung auch »edle«
Regungen und Akte des Mitleids und der Hilfe gehören können, mit
denen wir Behinderte in ihrer Rolle fixieren und uns die eigene
moralische Vortrefflichkeit bestätigen. Offensichtlich handelt es
sich um einen elementaren Mechanismus, denn auch Stigmatisierte
stigmatisieren andere (S. 81), wenn sich dafür Gelegenheit
bietet.
Die Verfasserin beschäftigt sich ausführlich mit den Gründen dafür.
Einerseits scheint es sich um eine »anthropologische
Grundkonstante« (S. 94) zu handeln. Andererseits scheint unsere
Gesellschaft mit ihrem narzisstischen Drang zur Vollkommenheit und
ihrer Ablehnung kreatürlicher Beschränkung (»Der Gotteskomplex als
kollektives narzisstisches Dilemma« IS. 97ff.) besonders anfällig
dafür zu sein. In jedem Fall handelt es sich um eine universale
Reaktionstendenz der sogenannten »Normalen« und derer, die
dazugehören wollen, gegenüber allem Abweichenden, denen
Menschlichkeit immer wieder als individuelle
Persönlichkeitsleistung abgerungen werden muss. Selbst Begriffe wie
»Menschenwürde« können fraglich werden, wenn sie unreflektiert mit
Leistungsfähigkeit und gesellschaftlicher Nützlichkeit gekoppelt
werden (S. 110ff.). Es ist das große Verdienst allein des ersten
Schwerpunktes dieses Buches, dass es immer wieder auf die Abwertung
und Diskriminierung von Behinderten aufmerksam macht, die sich so
leicht und unbemerkt ins Denken einschleichen. Der zweite
Schwerpunkt des Buches beschäftigt sich mit vielfältigen Aspekten
des Versuchs, mit der Behinderung durch Erblindung zu leben und
gegebenenfalls sogar Frieden zu schließen. Wir können hier nicht im
Einzelnen auf die Fülle des Materials eingehen, das die Verfasserin
bespricht. Besonders wichtig finden wir in diesem Zusammenhang
ihren Hinweis auf die Bedeutung innerer »Ressourcen«, zu denen der
Zugang zum Unbewussten und zu Träumen gehört, sowie ihre kritische
Haltung gegenüber einem häufig empfohlenen »positiven Denken« (S.
230), das hauptsächlich der Verleugnung und dem Schutz der anderen
dient. Überhaupt macht die Differenziertheit, mit der die
Verfasserin zentrale Begriffe in ihrem thematischen Zusammenhang
analysiert, die Lektüre des Buches zu einem intellektuellen
Vergnügen. Was z.B. verbirgt sich hinter der gängigen Forderung
nach »Integration« von Behinderten? Vielfach handelt es sich um
eine positive Bezeichnung für Konformität und Anpassung (S. 123),
die zudem mit den Mitteln der Behinderten nur bedingt erreichbar
ist. Erfreulich ist auch die Unbefangenheit, mit der die
Verfasserin die zusätzliche Diskriminierung behinderter Frauen
durch die tradi¬tionelle Geschlechtsrollenklischees feststellt,
ohne den kritischen Blick für Tendenzen der Frauenbewegung zu
verlieren, sich von behinderten Frauen abzugrenzen (S. 158). Die
Lesbenbewegung scheint hier allerdings eine Ausnahme zu machen.
Das Buch sollte Pflichtlektüre sein in allen Einrichtungen und für
alle, die mit Behinderten und speziell mit Sehbehinderten arbeiten.
Wichtig sind hier besonders ihre »Gedanken zu Beratung und
Psychotherapie« und ihre »Anregungen für Ärzte« (S. 331ff.) Als
Transaktionsanalytikerin hat die Verfasserin mit ihrem Werk zudem
eine Monografie zu einem unserer zentralen Werte, der Autonomie,
auch und gerade unter erschwerten Bedingungen, geschrieben. Wir
stimmen ihr zu, wenn sie abschließend feststellt: »Die Gesellschaft
braucht uns Behinderte ebenso, wie wir die Gesellschaft brauchen«
(S. 359). Eine Selbstverständlichkeit ist das aber nicht. Vieles
deutet darauf hin – und die Verfasserin weiß es -, dass die Tendenz
eher in die »entgegengesetzte Richtung« (S. 358) geht, zur
Förderung eines genetisch perfektionierten und optimal
funktionierenden Menschen und zur immer stärkeren Ausgrenzung von
allen, die diesem inhumanen Ideal nicht entsprechen. So gesehen hat
ihr Buch auch eine wichtige ethische und politische Bedeutung.