Rezension zu Sullivan neu entdecken
PSYCHE
Rezension von Ulrike May
Marco Conci, ein in München ansässiger italienischer Psychiater und
Psychoanalytiker, hat ein Buch über Harry Stack Sullivan
geschrieben, das 2000 in italienischer Sprache erschien und nun ins
Deutsche übertragen wurde.
Sullivan (1892-1949), amerikanischer Psychiater und
Psychoanalytiker, frühes Mitglied der American Psychoanalytic
Association, Gründer der Zeitschrift Psychiatry, der William
Alanson White Foundation und Mitbegründer einer großen
interdisziplinären Ausbildungsstätte, der Washington School of
Psychiatry, wird der Neopsychoanalyse zugeordnet, einer von der IPA
Psychoanalyse bislang wenig respektierten Fraktion. Seitdem die
Interpersonalisten infolge der Veränderung der
Mitgliedschaftsbedingungen Teil der IPA geworden sind, hat auch
Sullivan an Ansehen gewonnen. Denn die Gruppe um Mitchell zählt ihn
zu ihren Gründervätern, so daß nun, wie uns Conci zeigt, versucht
wird, Sullivan in den Mainstream zu reintegrieren. Nichts hat sich
verändert in Sullivans Leben, Werk und Leistung und doch wird er
anders gesehen.
Die beiden ersten Kapitel von Concis Buch geben einen Überblick
über die Frühgeschichte der Psychoanalyse in den USA. William
James, James Jackson Putnam, Adolf Meyer, Stanley Hall, Ely
Jeliffe, William Alanson White und die amerikanischen Aktivitäten
von Ernest Jones werden vorgestellt. Wir erfahren viel Neues,
beispielsweise über Freuds Vorlesungen an der Clark University.
Danach schildert Conci Leben (Kap. 3) und Werk Sullivans (Kap. 4)
und zeichnet dabei die Umrisse einer Geschichte der
Neopsychoanalyse, die für uns von ganz besonderem Interesse ist. In
einem extra Kapitel werden wir mit Sullivans Theorie und Therapie
der Schizophrenie vertraut gemacht, einem Gebiet, auf dem er
Pionierarbeit leistete (Kap. 5). Kapitel 6 macht uns mit der
Chicagoer Schule der Soziologie und deren fundamentaler Bedeutung
für Sullivans intellektuelle Entwicklung bekannt. In Kap. 7 wird
Sullivans Theorie und Technik erörtert, und zuletzt (Kap. 8) wird
die Relevanz von Sullivans Werk für die Gegenwart herausgearbeitet
und eine Linie von ihm zur zeitgenössischen relationalen
Psychoanalyse Mitchells bezogen.
Das Buch lebt davon, daß Conci in mehreren Kulturen zu Hause ist.
aufgewachsen in Italien, hat er in Deutschland studiert, einen Teil
seiner psychoanalytischen Ausbildung bei deutschen Kollegen
erhalten und während eines Stipendiats und einiger
Studienaufenthalte in den USA ein besonderes Verständnis auch für
dieses Land gewonnen. Die Wanderung zwischen den Kulturen hat dem
Autor eine besondere Sensibilität für die prägende Kraft des
Umfelds zuwachsen lassen. Diese Fähigkeit kommt dem Buch zugute. Es
gelingt Conci, Sullivans Theorie in ihren kulturellen Hintergrund,
in Gruppenzugehörigkeiten und nicht zuletzt in Freundschaften und
Seelenverwandtschaften einzubetten, deren Bedeutung für die
Geschichte von Theorien leicht übersehen wird. In der
Geschichtsschreibung der Psychoanalyse hat man die libidinöse Seite
etwas vernachlässigt und sich mehr mit Differenzen, Kontroversen
und Abgrenzungskämpfen befaßt.
Besondere Aufmerksamkeit verdienen Concis Ausführungen über die
Chicago School of Sociology. Conci berichtet von Sullivans
langjähriger Zusammenarbeit mit dem Kulturanthropologen Edward
Sapir und über seine Nähe zu George Herbert Mead und anderen
Soziologen, Anthropologen und Psychologen dieser Gruppierung, die
die teilnehmende Beobachtung als Forschungsmethode etablierten, in
großen Feldstudien krankmachende und heilende Umweltbedingungen
untersuchten und diverse interdisziplinäre, die Psychiatrie mit der
Soziologie verbindende Projekte durchführten.
Am spannendsten fand ich Concis Darstellung der »Zodiac Group«, von
deren Existenz ich bisher nichts wußte. Diesem privaten Zirkel
gehörten außer Sullivan auch Clara Thompson und später Erich Fromm
und Karen Horney an. Inder Zodiac Group trafen sich Emigranten aus
Berlin und Frankfurt mit Kollegen aus den USA und fanden einander
auf dem Boden gemeinsamer Überzeugungen. Ein Stück
deutsch-amerikanischer Neopsychoanalyse wird hier nicht nur
prinzipiell und abstrakt, sondern ganz konkret als Freundeskreis
sichtbar, der einander unterstützte und ein Forum zum Austausch
bot.
In diesem Zusammenhang sind Concis Ausführungen über das Berliner
Psychoanalytische Institut von besonderem Interesse. Am Institut
wurde in den zwanziger Jahren und vor der Vertreibung der
Psychoanalyse eine Vielfalt von Ansätzen vertreten. manche
favorisierten die »alte« Triebtheorie, andere machten sich das
Strukturmodell zu eigen und griffen Freuds Ansätze zu einer
Ichpsychologie auf, wieder andere standen der Soziologie nahe, und
noch andere wollten die Psychoanalyse in den Dienst der Veränderung
der Gesellschaft stellen. Aus Concis Sicht war das Berliner
Institut jedoch vor allem der zentrale Ursprungsort der
Neopsychoanalyse und des Revisionismus. Conci stellt die These auf,
daß spätere Revisionisten wie Homey, Alexander und Rado (und Klein)
in Berlin die Differenzen nicht austragen konnten, die sie mit dem
damaligen Mainstream hatten. In den USA (und in England) hätten sie
dann die Möglichkeit erhalten, ihre Positionen zu entfalten. Conci
hält diese Positionen im übrigen nicht für »Abweichungen«, sondern
für emanzipatorische Entwicklungen.
Obwohl ich Concis Zuneigung für die interpersonelle Theorie nicht
teile und seiner Darstellung der Theorie der »orthodoxen«
Psychoanalyse nicht immer zustimmen kann, habe ich lange Strecken
seines Buchs mit großem Interesse gelesen. Sullivans Theorie als
solche fand ich eher spröde, sehr anregend hingegen Concis
Rekonstruktion wie diese Theorie in die amerikanische Situation
eingespannt ist, vor allem in die Relation zur deutschsprachigen
Emigration. Es werden aber auch Leser auf ihre Kosten kommen, die
etwas über den Inhalt von Sullivans Entwicklungstheorie und
Krankheitslehre erfahren wollen.
Zuletzt sei Über das Übersetzungs-Kauderwelseh geklagt. Wir haben
uns daran gewöhnt, aber es ist trotzdem zum Weinen. Auch in diesem
Fall muß man ein fehlendes Register und ein und ein untätiges
Lektorat monieren. Unter anderen hat man auf eine typographische
Unterscheidung zwischen dem Text und den Anmerkungen verzichtet.
Beide sind fast gleich groß gedruckt. Zitate in den Anmerkungen
werden sogar in der gleichen Type und mit dem gleichen
Zeilenabstand wiedergegeben wie im Haupttext. Das macht ein Buch zu
einem Chaos und zerstört die Differenz zwischen Wichtigem und
weniger Wichtigem.
Über all diese editorischen Mängel wird der Leser aber hinwegsehen
und immer wieder von Concis Text absorbiert werden. Conci hat sich
in eine fremde Kulturwelt, die der amerikanischen Psychiatrie,
hineingedacht und unsere Neugier und sogar die Hoffnung geweckt,
ein interkultureller Dialog sei doch möglich. In dieser Hinsicht
ist sein Buch beispielhaft und auch sonst wärmstens zur Lektüre
empfohlen.